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Der emeritierte Papst Benedikt XVI. muss sich womöglich vor einem weltlichen Gericht wegen des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche verantworten.
(Recherchen und Pressemitteilung; CORRECTIV, ZEIT und BR)
Am vergangenen Wochenende reichte der Anwalt eines Missbrauchsopfers aus Bayern Klage vor dem Landgericht Traunstein gegen den Priester Peter H. sowie gegen mehrere Kirchenverantwortliche ein, unter ihnen Kardinal Friedrich Wetter, der ehemalige Papst Benedikt XVI., sowie die Erzdiözese München und Freising – vertreten durch Generalvikar Christoph Klingan. (*) Das berichten CORRECTIV, die Wochenzeitung DIE ZEIT sowie der Bayerische Rundfunk.
In den 1990er Jahren soll der damalige Priester Peter H. in der Erzdiözese München und Freising mehrere Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht haben, unter ihnen auch den Kläger. Die Kirchenoberen um den damaligen Kardinal Joseph Ratzinger hatten den pädophilen Priester H. 1980 im Erzbistum aufgenommen und dessen Umgang mit Jugendlichen nicht unterbunden, obwohl H. zuvor bereits in Essen bei mehreren sexuellen Übergriffen ertappt worden war. Ein Psychiater hatte damals eine „narzisstische Grundstörung mit Päderastie und Exhibitionismus“ diagnostiziert. 1986 wurde H. von einem Gericht wegen Missbrauchs an mehreren Jugendlichen zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, aber weiter eingesetzt.
Da die Missbrauchstaten strafrechtlich weitgehend verjährt sind, wendet der Rechtsanwalt des Opfers, der Berliner Strafverteidiger Andreas Schulz, einen juristischen Kniff an: er hat eine so genannte Feststellungsklage eingereicht, mit der zwar keine strafrechtliche Verfolgung, womöglich aber eine Feststellung der Schuld der Kirche erreicht werden kann. Sein Mandant hoffe darauf, dass ein weltliches Gericht feststelle, dass der damalige Priester H. ihn missbraucht habe und deswegen „zum Ersatz des Schadens ihm gegenüber verpflichtet ist“, heißt es in der 69-seitigen Klageschrift, die CORRECTIV, der ZEIT sowie dem Bayerischen Rundfunk vorliegt.
„Er will erreichen, dass ein weltliches Gericht ebenfalls feststellt, dass der Papst Emeritus Benedikt XVI. hierzu verpflichtet ist, weil dieser als Erzbischof verantwortlich zugestimmt hat, den Priester H. wieder in der Gemeindearbeit einzusetzen, obwohl dem Erzbistum München und Freising die sexuellen Übergriffe des H. bekannt waren“. Ratzinger habe als Kardinal „Kenntnis von allen Umständen und hat es zumindest billigend in Kauf genommen, dass dieser Priester ein Wiederholungstäter ist.“
Im Fall von Peter H. sind die Indizien erdrückend. Ein internes Verfahren der Kirche hatte bereits 2016 die Schuld des Priesters festgestellt. Danach seien mehrere Jugendliche, darunter der heutige Kläger, von Peter H. in den 1990er Jahren missbraucht worden, heißt es in einem außergerichtlichen Dekret. Dort ist auch von einer Pflichtverletzung der damals verantwortlichen Kirchenoberen die Rede. Auch das Münchner Missbrauchsgutachten vom Januar 2022 erkannte eine Mitverantwortung der Kirchenoberen des Erzbistums. Der Kläger nutzt das Dekret und das Missbrauchsgutachten, um auch gegen den Ex-Papst sowie dessen Nachfolger als Erzbischof in München Kardinal Friedrich Wetter vorzugehen.
Ob der emeritierte Papst für die Übergriffe belangt werden kann, ist umstritten. Experten räumen der Klage Chancen ein, wenn die Kirche darauf verzichtet, sich auf die Verjährung zu berufen, wie sie es bereits in den innerkirchlichen Verfahren getan hatte. Gegenüber Correctiv, der ZEIT und dem BR kündigte Wetter an, keinen Antrag auf Verjährung stellen zu wollen. Ein Sprecher des erzbischöflichen Ordinariats München bat um Verständnis, „dass sich die Erzdiözese München und Freising nicht zu einem laufenden gerichtlichen Verfahren äußert“. Der emeritierte Papst ließ eine Anfrage bis zum Redaktionsschluss ebenso unbeantwortet, wie der ehemalige Priester Peter H.
Im Falle eines Erfolgs der Klage würde die Kirche zwar nicht zur Zahlung eines Schadensersatzes verurteilt, geriete aber weiter unter Druck, ihre Haltung zu Entschädigungen zu überdenken.
(*) der vorhergehende Teilsatz ab „unter“ wurde (23.6.2022, 16:45) korrigiert.
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Am vergangenen Samstag, dem 26. März, habe ich in Meschede eine Veranstaltung der VHS Hochsauerland zu den NSU-Morden und dem rechten Terror in Deutschland besucht. Referent im Bürgerzentrum Alte Synagoge war der bekannte Rechtsanwalt Dr. Mehmet Daimagüler, der im NSU-Prozess einige der Nebenkläger vertreten hatte.
Fast eine Stunde lang ließ er uns als ein exzellenter und geschliffener Redner aus reicher Erfahrung mit großer inhaltlicher Kompetenz in die mörderischen Abgründe unserer jüngsten Geschichte blicken.
25 Seiten habe ich mitgeschrieben und am Ende habe ich mich getraut zu denken: Deutschland wir haben ein großes Problem in Teilen des Staatsapparates und der Behörden. Ein Anfang wäre es, den Verfassungsschutz aufzulösen und die rechten Netzwerke in Polizei und Justiz zu zerschlagen.
Aber der Reihe nach. Mehmet Daimagüler war Mitglied der FDP. Es wollte auf dem Ticket der Partei Karriere machen. Auch wenn fast alle deutschen Medien von sogenannten „Döner-Morden“ sprachen und damit die Täterschaft in ein türkisches Drogen- und Bandenmilieu verschieben wollten, „wussten wir, meine Freunde, meine Bekannten, das müssen Nazis, Rassisten sein.“
Der Rechtsanwalt prüft noch heute sein damaliges Handeln. „Was habe ich eigentlich damals unternommen? Nach den Morden in Kassel und Dortmund waren dort vier- bis fünftausend Menschen auf der Straße. Ich war nicht auf Demos, ich war im Bundesvorstand der FDP.“
Seine politischen Freunde, wie bspw. Westerwelle, habe er nicht auf die falsche Richtung der Ermittlung angesprochen, denn „wenn du etwas sagst, wird dich das Stimmen auf dem Parteitag kosten.
Als ihn die Tochter eines Mordopfers bat, sie als Vertreter der Nebenklage vor Gericht zu vertreten, fragte er sich, ob ihn sein damaliger politischer Opportunismus nicht disqualifiziere?
Das, so die Tochter, sei dann sogar ein besonderer Grund.
Im Laufe der Zeit habe er dann zehn Menschen aus drei Opferfamilien repräsentiert.
Sein Plädoyer im NSU-Prozess ist als Buch erschienen [1]. Das habe ich mir gleich nach der Veranstaltung besorgt.
Was mir vom Nachmittag in der Alten Synagoge besonders in Erinnerung geblieben ist:
1. Das V-Mann-System
2. Die Einzeltäter-These
3. Das Schreddern bzw. Vorenthalten der Akten
4. Warum Kleinstunternehmer mit meist türkischem Migrationshintergrund?
5. Die lange Spur vor und nach den NSU-Morden
6. Die Rolle von Antisemitismus, Rassismus
7. Die Perfidität des „Döner-Mord“ Framings
8. Die hochgradige Vernetzung des NSU
9. Das Fazit
1. Das V-Mann-System
Ich habe früher gedacht, dass V-Leute so eine Art untere Ränge des Verfassungsschutzes (VS) seien. In Meschede habe ich gelernt, dass V-Leute vom VS aus der Szene angeworben werden. Es werden nicht die kleinen, dummen Nazis als V-Leute geführt, sondern bevorzugt die schlauen Nazi-Kader, also diejenigen, die eine große Rolle (Organisatoren, Vorstände, Hauptdrahtzieher usw.) spielen. Diese V-(oft)Männer werden von sogenannten V-Mann-Führern[sic!] „betreut“, also Beamten des VS, die einen Eid auf die Verfassung abgelegt haben. Begehen die V-Leute Straftaten, werden sie von ihren „Führern“ in der Regel gedeckt. Treffen zwischen V-Leuten und ihren VS-Führern sind meist konspirativ, bspw. auf Parkplätzen. Der V-Mann berichtet, der V-Mann-Führer gibt ihm Geld. Wenn es nichts aus der Szene zu berichten gibt, kann der V-Mann dafür sorgen, dass es Neuigkeiten gibt. Also bspw. zwei Tage vor dem konspirativen Treffen für die Nazi-Kumpel eine Sauf-Party veranstalten, danach „Ausländer klatschen“, besoffen Nazi-Sprüche grölend durch den Stadtteil ziehen und Scheiben einschlagen, und schon gibt es etwas zu berichten. Der V-Mann-Führer schreibt fleißig mit und am Ende gibt es Geld.
2. Die Einzeltäter-These
Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos waren äußerst vorsichtig und fuhren stets nur mit Mietwagen zu den Tatorten, aber auch bspw. in den Urlaub. Die gefahrenen Kilometer sind recherchiert und decken sich mit den bekannten Fahrten. Es bleiben keine Kilometer übrig. Das bedeutet, dass das Trio die Anschlagsorte und potentiellen Opfer nicht selbst recherchiert hat. Sie mussten also Tipps und Recherchen der lokalen Nazi-Szene genutzt haben. Der NSU war (?) Teil eines Netzwerks.
3. Akten schreddern
Oft wurden sehr zeitnah nach den Taten in großem Ausmaß von den Behörden Akten geschreddert. Noch vorhandene Akten wurden als geheim deklariert und nahezu unzugänglich archiviert. Es liegt auf der Hand, dass damit Aufklärungsarbeit verhindert wird.
4. Warum kleine Gewerbetreibende mit türkischem Migrationshintergrund?
Es gibt Hinweise darauf, dass Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos in Berlin die beiden Synagogenen checkte, denn eigentlich wollten sie Jüdinnen und Juden ermorden. Sie haben aber die dortigen Sicherheitsmaßnahmen gesehen und da ( siehe 2) sie sehr vorsichtig agierten, fielen jüdische Einrichtungen als Ziel aus.
5. Der NSU ist die Nachfolgeorganisation des brandgefährlichen „Thüringer Heimatschutzes“. Nazi-Verbrechen, rassistische Anschläge und Morde (Hoyerwerda, Solingen, …) fanden schon lange vor der NSU-Mordserie und auch danach (München, Hanau, Kassel, …) statt.
6. Die Rolle von Antisemitismus, Rassismus
Flüchtlinge, Deutsche mit Migrationshintergrund, Politiker wie Walter Lübcke, die sich für Flüchtlinge einsetzen – der unmittelbare Antisemitismus und Rassismus ist offensichtlich. Bei den Ermittlungsehörden war und ist Rassismus kein zentales Thema. Der Staat wollte nicht über das Thema reden.
7. Die Perfidität des „Döner-Mord“ Framings
Mit 6. hängt das „Framing“ der Morde als „Döner-Morde“ zusammen. Medien, aber eben auch die Ermittlungsbehörden und Polizei gingen unmittelbar davon aus, dass die Opfer aus einem kontruierten sogenannten eigenen Milieu ermordet wurden: Kriminalität im türkischen Drogenbandenbereich. Die Opfer wurden zu Tätern gemacht. Das rechte Auge von Polizei war und blieb blind. Ermittlungen in die richtige Richtung unterblieben. Wichtige Zeugenaussagen wurden nicht verfolgt.
8. Die hochgradige Vernetzung des NSU
Wie unter 2. beschrieben, muss man davon ausgehen, dass der NSU kein Trio, sondern ein wahrscheinlich immer noch existierendes Netztwerk ist.
9. Das Fazit
Der NSU-Prozess war eine „verpasste Chance in den Abgrund zu schauen“.
Mehmet Daimagüler: „Wenn wir die offenen Fragen nicht beantworten, dann ist nach dem NSU vor dem NSU. Alles was in der Verfassung steht, bleibt leeres Papier, wenn wir nicht bereit sind, die Verfassung zu leben.“
Am 9. März 2022 hat die deutsche Bundesregierung Mehmet Daimagüler zum ersten Beauftragten gegen Antiziganismus und für das Leben der Sinti und Sintize sowie Roma und Romnja in Deutschland ernannt.
————-
[1] Mehmet Daimagüler, Empörung reicht nicht! Unser Statt hat versagt. Jetzt sind wir dran, Mein Plädoyer im NSU-Prozess, Köln 2017, 350 Seiten, ISBN 978-3-7857-2610-5
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