Was noch vor wenigen Monaten undenkbar schien, wurde am Sonntagabend mit Bekanntgabe der Prognose durch die Forschungsgruppe Wahlen des ZDF zur endgültigen Gewissheit: Olaf Scholz und seine SPD haben die lange Zeit favorisierte CDU auf Platz 2 verwiesen; die Sozis können nun nach 16 Jahren erstmals wieder den Führungsanspruch auf die Kanzlerschaft erheben.
(Ein Kommentar von Karl Josef Knoppik)
Daß die Partei am Ende doch noch die Nase vorn haben würde, wenn auch lediglich mit 1,7 Prozent Vorsprung, konnte im Frühsommer noch niemand erahnen; die Partei lag damals in Umfragen bei 15 – 17 Prozent. Dies änderte sich, als Armin Laschet, der von vornherein weitaus schlechter bewertet wurde als sein CSU-Kontrahent Söder, in den Wahlkampf einstieg und – man muß es so sagen – von einem Fettnäpfchen ins andere tappte. Der Kandidat, das Unionsprogramm und seine Reden überzeugten viele Bürgerinnen und Bürger nicht. Sein Auftreten während der Hochwasserkatastrophe Mitte Juli war nicht dazu angetan, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen.
Die CDU/CSU, übrigens auch im Hochsauerlandkreis, ist gründlich abgestraft worden. Sie verlor bundesweit gegenüber 2017 fast 9 Prozent, bekam aber m. E. immer noch weit mehr Zustimmung als sie nach 16 Jahren Merkel-Regierung verdient hätte. Die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes haben keine klare Entscheidung getroffen; sie schrecken vor fundamentalen Veränderungen zurück, jedenfalls eine große Mehrheit.
Eine siegreiche SPD ändert aber auch nichts an der Tatsache, daß Wahlergebnisse im 20-Prozent-Bereich kein Ruhmesblatt sind – im Vergleich zu den Erfolgen früherer Jahrzehnte. Von den ehemaligen großen Volksparteien ist nichts mehr übriggeblieben.
Es gab also keine großen Gewinner. Falsche Kandidaten, ein müdes, lustloses Wahlkampfgeschehen. Die Grünen haben den Sieg leichtfertig verspielt. Man kann darüber streiten, ob die Ökopartei mit R. Habeck als Kanzlerkandidat ein besseres Resultat erzielt hätte. Fakt ist aber, daß die Grünen in Bezug auf ihre Kernthemen zu harmlos wirkten; scharfe Attacken auf die CDU/CSU und deren bisher regierende Kanzlerin Merkel blieben aus. Klare Kante? Fehlanzeige. Jedermann liebstes Kind sein zu wollen – das funktioniert nicht. Plötzlich, wenige Tage vor der Wahl, konnte sich Habeck wieder beides vorstellen, nämlich ein Bündnis sowohl mit der Union als auch der SPD, während zur selben Zeit Annalena Baerbock äußerte, daß die CDU/CSU nach 16 Jahren in die Opposition gehöre.
Die Kanzlerkandidatin sprach stets von einem Aufbruch für Deutschland, was immer das heißen mag. Ihre Formulierungen waren zu unkonkret, zu vage, zu zaghaft. Besser wäre es gewesen, sie hätte in aller Deutlichkeit eine radikal-ökologische Wende für dieses Land ausgerufen. Stattdessen hörte man aber nicht nur in den TV-Triells die bekannten Forderungen, sprich Beendigung der Kohlenutzung, Einstieg in die E-Mobilität oder den Ausbau erneuerbarer Energieträger. Die wichtigen Zukunftsthemen Landwirtschaft, Verkehr, Energie, Natur-, Klima- und Verbraucherschutz spielten, gemessen an ihrer überragenden Bedeutung, nur eine Nebenrolle.
Dabei wurden den Grünen ihre Urthemen auf dem Silbertablett serviert: Die Flut in NRW, Rheinland-Pfalz und auch in Bayern, die absolut unzureichende Vorbereitung der Städte auf den Klimawandel und seine Folgen; die ungebremste Betonierung und Versiegelung der Landschaft, Umweltzerstörung durch Straßenbau und andere massive nutzungsbedingte Eingriffe – damit einhergehend fortschreitender Flächenverbrauch; Übererschließung der Alpen, sozialverträglicher Klimaschutz, naturschutz- und klimagerechter Waldumbau, Eindämmung der Konzernmacht, ein Bonus für diejenigen, die sich umwelt- und klimakonform verhalten. Von alledem war nichts zu hören, weder im Wahlkampf noch im Fernsehen.
Olaf Scholz profitierte von der Schwäche und den Fehlern des Kanzlerkandidaten Laschet. Der Hanseat steht aber nicht für einen radikalen Politikwechsel, wie er mir und vielen anderen Bürgern vorschwebt, und der sich nur in einem Linksbündnis realisieren läßt. Scholz plädiert für eine so genannte „Ampel“-Koalition aus SPD, Grünen und FDP, hatte sich aber als letzte Option auch die Möglichkeit eines Bündnisses mit der Linkspartei offengehalten, falls man mit der FDP keine Einigung erzielt. Nachdem diese Option durch das schlechte Abschneiden der Linkspartei nun entfallen ist, fällt damit auch die Drohkulisse von rot-grün-rot weg. Das könnte die FDP dazu veranlassen, hohe Hürden für das Zustandekommen einer „Ampel“ zu errichten.
Nicht nur Olaf Scholz, sondern auch Frau Baerbock erwähnten die Linkspartei mit keinem Wort. Ja mehr noch: Die grüne Kanzleraspirantin ließ sich für die schmutzige Anti-Links-Kampagne der CDU und FDP, aber auch von einer mutlosen SPD, einspannen, unterstützt von Teilen der Medien, die sich diese Position zu eigen machten, ohne im geringsten zu prüfen, welche sachlichen Gründe überhaupt gegen eine rot-grün-rote Koalition sprechen. Die ständig wiederbelebte Warnung vor einem Zusammenschluß aus SPD, Grünen und Linkspartei hat sicher zum schlechten Wahlergebnis der Partei beigetragen. Und es lag wohl auch am Führungspersonal. Nichts gegen Janine Wissler und Susanne Hennig-Welsow. Frau Wissler hatte im Wahlkampf keine schlechte Figur gemacht. Doch hätte man Sahra Wagenknecht, die einstige starke und angesehene Persönlichkeit der Linken, nicht aus der Führung der Partei herausdrängen dürfen. Damit tat man sich keinen Gefallen.
Es herrscht in diesem Lande ein starkes Mißtrauen gegen „Links“. Das hat sich die Union zunutze gemacht. Sie wußte genau, daß es noch immer genügend Menschen gibt, die dafür aufnahmebereit sind. Wenn man – wie die Union – vom eigenen Kandidaten und vom eigenen Programm nicht überzeugt ist, wird eben Angst vor dem politischen Gegner geschürt. Und was liegt da näher als bei jeder passenden Gelegenheit das Feindbild „dunkelrot“ hervorzukramen und Angst vor einer Partei zu verbreiten, die angeblich extreme Positionen vertritt und von der nur Unheil kommt. Wirtschaftsverbände, CDU/CSU und FDP brüsteten sich nach der Wahl öffentlich damit, Rot-Grün-Rot verhindert zu haben und verunglimpften damit zugleich auch diejenigen Wählerinnen und Wähler, die aus ehrenhaften Motiven, aus guten Gründen entschieden haben, für „links“ zu votieren.
Die NATO, von der Linkspartei abgelehnt, kann man durchaus in Frage stellen, zumindest in dieser Form. Dazu Dr. Gregor Gysi im August: „Die Kanzlerkandidatin und Kanzlerkandidaten haben die Dimension des Scheiterns der NATO in Afghanistan wohl noch nicht begriffen. Wer nach diesem Fiasko glaubt, die Welt wäre sicherer, wenn Deutschland noch mehr Steuermilliarden in die Rüstung steckte und europäische Truppen auch ohne die USA Kriege führen müßten, denkt vollständig an den Realitäten vorbei (Quelle: n-tv).“
Die Partei von Robert Habeck und Annalena Baerbock mit ihren hohen Ansprüchen an einen grundlegenden Wandel in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft befinden sich nach diesem Wahlausgang in einer äußerst schwierigen Situation. Machen sie der FDP nämlich zu viele Zugeständnisse, die an ihrer Glaubwürdigkeit leiseste Zweifel aufkommen lassen, können sie eine Regierungsbeteiligung sofort vergessen. Faule Kompromisse würde weder die Basis durchgehen lassen, noch würde der Wähler so etwas gutheißen. Folge: Die „Ampel“ wäre vom Tisch.
Zweite Möglichkeit: Einem völlig demontierten, auf ganzer Linie gescheiterten Kanzlerkandidaten Laschet zur Macht zu verhelfen, wäre noch schlimmer. „Jamaika“ hieße im Klartext: Schwarz-Gelb, die sich programmatisch ohnehin ziemlich nahe stehen, setzt die Politik des „Weiter so“ fort, und die Grünen fungieren als Mehrheitsbeschaffer für CDU/CSU und FDP. Für mich ein Horror-Szenario. Schon sehr früh hatte sich die Grüne Jugend vehement dagegen ausgesprochen. Käme es trotzdem zu Schwarz-Gelb-Grün, was voraussetzte, daß sich die Ökopartei um 360 Grad verbiegen müßte, wäre das Schicksal der Grünen besiegelt. Deren Umfragewerte stürzten in den einstelligen Bereich ab. Jegliches Vertrauen in die Regierungsfähigkeit wäre erschüttert; ihre Glaubwürdigkeit völlig dahin.
Sollten die Grünen ihre höchst anspruchsvollen ökologischen Ziele zugunsten der Macht über Bord werfen, würde es sehr wahrscheinlich darauf hinauslaufen, daß sich die Klimabewegung unter dem Dach von Fridays for Future radikalisierte. In der Konsequenz könnte das zur Gründung einer neuen Ökopartei führen.
Karl Josef Knoppik, 29. September 2021