Was heißt „Wahnsinn“, in Zeiten, in denen politische (Rechts-)Extreme immer lauter werden?

Am Sonntag unterhielten sich Mithu Sanyal und Michel Friedman (Moderation Stephan Muschick) im ausverkauften Hirschlandsaal des Folkwang-Museums (Essen) zwei Stunden lang über das Thema „Wahnsinn & Widerstand“. Die Veranstaltung fand im Rahmen des 21. Literaturdistrikt-Festivals statt. Das Festival wird seit ebenfalls 21 Jahren von Semra Uzun und ihrer Schwester Fatma Uzun organisiert und kuratiert.
An diesem Nachmittag in Essen sollte danach gefragt werden, was „Wahnsinn“ heiße, in Zeiten, in denen politische Extreme immer lauter werden, Grenzen des Sagbaren verschoben werden und demokratische Grundwerte ins Wanken geraten. Wie solle die Gesellschaft auf den globalen Rechtsruck, die neuen Brüche zwischen Demokratie und autoritären Versuchungen, reagieren?
„Wahnsinn“ bedeute auch, nach den Gegenkräften zu suchen und zu zeigen, dass Widerstand gegen den Wahnsinn möglich bleibe.
Der 9. November als Tag der Veranstaltung sei auch der Jahrestag der Novemberpogrome 1938, so Stephan Muschick in seiner Einstiegsmoderation. Die Demokratie stehe auch heute wieder unter Beschuss von Rechts. Mit Michel Friedman (1956 in Paris geboren, langjähriges ehemaliges Mitglied der CDU) und Mithu Sanyal (Buchautorin, in Düsseldorf-Oberbilk aufgewachsen) würden sich zwei kluge und engagierte Gäste mit dem Begriff „Demokratie“ auseinandersetzen.
Michel Friedman betonte gleich zu Beginn, dass für ihn die Gleichheit der Menschen unbedingt zur Demokratie gehöre. Dies bedeute Emanzipation von der Macht (auch der Religionen), die Streitkultur, die Würde des Menschen und das Recht Rechte zu haben (Hannah Arendt).
Die Rechten in Deutschland hätten den Gang durch die Institutionen geschafft, aber dies nicht auf dem Boden des Grundgesetzes. Lieblingsfeinde dieser Verfassungsfeinde seien u. a. Frauen und Homosexuelle. Der Antisemitismus sei keine Erfindung der Neuzeit. Die katholische Kirche habe mit der Behauptung, dass die Juden Christus umgebracht hätten, wesentlich zum Antismitismus beigetragen. Der Antisemitismus sei das Gerücht über Juden (Adorno).
Mithu Sanyal beurteilte die politische Situation ähnlich. „Wenn mir vor Jahren jemand gesagt hätte, du wirst das Grundgesetz verzweifelt verteidigen, hätte ich das kaum geglaubt.“ Demokratie habe Haken. Es sei nicht richtig bspw. das Streikrecht nur zu erlauben, wenn es niemanden störe. Ihre große Angst sei Donald Trump, seien die USA.
Sie mische sich in die Debatten über Krieg und Militarisierung ein: „Mein Großvater kam aus dem Krieg und er hat die nächsten 30 Jahre damit verbracht zu sterben.“ Gegen Rechts heiße auch: „wir müssen Demokratie besser machen.“
Für Michel Friedman sind die Angst und der Sexualtrieb die Grundimpulse des Menschen. Sie säßen „tief in unserer DNA“.
Wir seien das einzige Lebewesen, das Bewusstsein hat. Aber wir konstruieren uns zugleich in einem trägen Prozess unsere eigene Welt. Wir unterlägen der Illusion, dass man sein Leben kontrollieren könne. Doch neben der angenommenen Kausalität träfen wir viele Entscheidungen aus dem Chaos. Eine Zukunft werde es immer geben, ob mit oder ohne Menschen.
Wir müssen uns selbst ermächtigen, gegen die AfD aufzustehen, überall. Autokratien nehmen dem Einzelnen die Verantwortung weg.
Bei Wahlen, so Mithu Sanyal, dürften wir zwar über die großen Fragen abstimmen, aber die Demokratie im Nahbereich sei mangelhaft. Seit 1994 würden bei der Bahn Verluste sozialisiert, Gewinne privatisiert. Keine Wartung. Der Kapitalismus greife in die Demokratie ein. Menschen, die niemand gewählt hat, Lobbyisten, Politikberater, bestimmten gesellschaftliche Entscheidungsprozesse.
Das Ehrenamt, so wiederum Friedman, trage unser Land. Pflege, Freiwillige Feuerwehr, Flüchtlingsarbeit, ehrenamtliche Politiker*innen. 20 Jahre Neoliberalismus hätten leider auch privat gewirkt. Menschen wollten ihr Leben mit Geld zu genießen. Vor ihrer Tür ein großes Schild: Do not disturb!
Die Lösung sei es, sich den Zumutungen des Lebens zu stellen, anvertrauen, Vertrauen sei nicht naiv.
Soziale Medien seien keine vertrauenswürdigen Medien, sondern kapitalistische Plattformen.
Wir müssten uns gegenseitig aushalten können: „agree, that wie disagree“. Das müsse man lernen, auch in der Schule. Dort werde in Deutschland Opportunismus statt Fähigkeit zum Widerspruch anerzogen.
Vor 50 Jahren habe er, Friedman, als Schülersprecher gefordert, dass migrantische Schüler*innen Sprachunterricht erhielten. Das sei auch heute noch nicht eingelöst.
Mithu Sanyal verwies auf ein Streitgespräch zur Wehrpflicht zwischen ihr und Hedwig Richter in der ZEIT. Ihre Erfahrung: wir argumentieren oft moralisch, dann sei kein Austausch möglich. Auch Männer müssen nicht zur Bundeswehr müssen. Momentan würden wir in Deutschland eine Diskussion der Alternativlosigkeit führen. Wir sollten mindestens so viele Friedensforscher an den Schulen haben wie Bundeswehr-Soldaten. Die USA htten jedes Jahr seit 1945 einen Krieg begonnen.
Die Jugend sei extrem politisch, aber an politischen Entscheidungen kaum beteiligt. „Möchte ich, dass mein Kind für Deutschland stirbt. Nein!“ Die durchschnittliche Lebensdauer an der Front betrage vier Stunden.
Stephan Muschick: hat Deutschland im Gegensatz zu Polen geschlafen?
Friedmann: wir sind in einem Krieg. In Polen gibt es keine Wehrpflicht, aber eine konkretere Haltung zur Verteidigung. Die Sowjetunion (SU) sei immer imperialistisch gewesen. Putin sage heute, dass der Zusammenbruch der SU ist nicht das letzte Wort der Geschichte sei.
Die Welt werde wieder in Einflusszonen eingeteilt. (USA, Russland, China, …). Die USA seien Sündenbock und gleichzeitig Patron. Deutschland wirke paralysiert. Wer könne garantieren, dass wir in vier oder acht Jahren noch in einer Demokratie leben? In zehn Jahren noch Frieden?
Putin habe die Ukraine angegriffen. Es sei „Quatsch“, dass wir nicht gegen Russland sein dürften.
Wir müssten uns verteidigen. Der Angreifer müsse Angst vor Verlusten haben. Krieg und Macht kennen keine Moral.
Die Friedensbewegung sei in die deutsche Politik eingearbeitet.
Unerträglich seien die Negation Afrikas sowie Waffenlieferungen an Diktaturen.
Seit mindestens anderthalb Generationen sei nicht verantwortlich diskutiert worden.
Friedman: „Ist es mir wert, für die Demokratie Opfer zu bringen? Berechnen! Und am Ende gibt es Kosten. Ich will nicht in einer Gesellschaft leben, in der ich nicht die Klappe aufreißen kann.“
Mithu Sanyal: „Das Demo-Recht ist in Gefahr. Krieg ist das Gegenteil von Demokratie.“
Friedmann: „Wir leben in der größten Krise der Demokratie und trotzdem werden die Mittel für Bildung, Kultur, etc. nicht erhöht.“
Mithu Sanyal: „Europa ist ein wichtiger Wert. Aber die Grenzen werden geschlossen, nicht geöffnet.“
Europa ohne Krieg stehe, so Michel Friedman, auf dem Habenkonto. Europa brauche Demokratie, weniger Nationalismus, keine demokratischen Nationalstaaten von Europa. Einzige Souveränität sei leider immer noch lediglich der Euro. Europa sei immer so gefährdet, wie die Mitgliedsländer. Die sogenannte illiberale Demokratie Ungarns sei ein unsinniger Begriff. Es gebe entweder Demokratie oder keine Demokratie.
Den demografischen Wandel hätten wir 20 Jahre lang verschlafen, jetzt stünden wir vor der Vergreisung. Die Ausländerbehörde sei eine Abwehrbehörde. Aber sind 7000 syrische Ärztinnen auf Deutschland angewiesen? Friedman plädiert für eine Einwanderungsgesellschaft.
Stephan Muschick: Herr Friedmann, wie meschugge sind sie?
Diese Welt auszuhalten ist schwer. Meschugge ist die Abweichung als Lebensprinzip. Die Freude am Widerspruch.
Mithu Sanyal: „Wenn ich Nachrichten gucke, ist die normale Reaktion wahnsinnig zu werden. Das Entsetzen. Das kann nicht, das darf nicht sein.“
Friedman: „Ich setze mich zum ersten Mal in meinem Leben mit der Frage auseinander, ob ich dieses Land verlassen muss. Die AfD ist durchtränkt von Antisemitismus. Ich werde nicht in den Spiegel schauen, wenn Frau Weigel in der Regierung sitzt.“
Was habe sich in den letzten 25 Jahren an rechtem Terrorismus eingeschlichen? Einzeltäter, Hoyerswerda, NSU, …
Ihn mache es krank, sich Frau Weidel als Regierungschefin vorzustellen.
Mithu Sanyal: der Löwe steht nicht plötzlich da, er kommt. Bis dahin haben wir noch Zeit.

Michel Friedman ist Jurist, Philosoph, Publizist und Moderator. Als Honorarprofessor in Frankfurt und langjähriger Direktor des Center for Applied European Studies prägt er den öffentlichen Diskurs zu Demokratie, Exil und jüdischer Identität. Für sein gesellschaftliches Engagement wurde er vielfach ausgezeichnet, u.?a. mit dem Bundesverdienstkreuz und dem Rang Offizier der französischen Ehrenlegion. 2025 veröffentlichte er «Mensch! Eine Liebeserklärung eines verzweifelten Demokraten» (Berlin Verlag).
Mithu Sanyal ist Kulturwissenschaftlerin, Autorin, Journalistin und Kritikerin. 2009 veröffentlichte sie das Sachbuch „Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts“ (Wagenbach) und 2016, gefolgt von „Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens“ (Edition Nautilus) im Jahr 2016.
2021 erschien bei Hanser ihr erster Roman „Identitti“, der auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand und mit dem Literaturpreis Ruhr sowie dem Ernst-Bloch-Preis 2021 ausgezeichnet wurde. Seit 2022 ist sie Mitglied der Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises.
Ihr jüngster Roman „Antichristie“, ebenfalls bei Hanser erschienen, wurde 2024 veröffentlicht und erneut für den Deutschen Buchpreis nominiert.
















