Rezension: Morgengrauen – oder wie Schule bunter wird.

Morgengrauen – eine Rezension von Detlef Träbert (Bild: Buchcover)
Wenn ein Buch „Morgengrauen“ *) betitelt wird, ist das doppeldeutig. Es kann auf das „Grauen am Morgen“ hinweisen oder darauf, dass gleich anschließend ein sehr schöner, erfreulicher Tag beginnen wird.

Was meinen Sie, liebe Leserinnen und Leser, was der Autor wohl beabsichtigt, wenn sein Untertitel „Ein Buch über Schule … und wie sie sein könnte“ lautet? „Ich habe anders gearbeitet in der Schule“, schreibt Rolf Robischon auf S. 36. Das klingt hoffnungsvoll und nach konkreten Möglichkeiten.

Wie viele Menschen, die die Schule bereits hinter sich haben, erinnern überwiegend Positives? Wer Schulkind bei Rolf Robischon war, gehört jedenfalls zu diesem kleinen, vom Schicksal begünstigten Kreis. Über 40 Jahre lang hat sich der – mittlerweile längst pensionierte – Grundschulrektor als Lernbegleiter verstanden und nicht als (Be-)Lehrer.

Er hat Material entwickelt, dass Kindern selbsterklärend das Lernen ermöglicht und heute noch erhältlich ist. Lernen im Gleichschritt? „Kinder lernen nicht in kleinen Schrittchen, nicht der Reihe nach, nicht gleichzeitig und schon gar nicht das Gleiche“, lautet ein zentraler Satz seines aktuellen Buches. Jeder weiß das – und dennoch arbeitet Schule fast überall immer noch gleichschrittig.

Im Grundschulbereich gibt es immerhin Ansätze für jahrgangsübergreifendes Lernen. Zaghaft probieren wenige Mittelstufen-, Sekundar- oder Gemeinschaftsschulen (die Begriffe sind in den verschiedenen Bundesländern unterschiedlich) neue Lernformen aus. Die Masse der Schüler/-innen jedoch muss nach wie vor die Schule bewältigen, anstatt einfach begeistert lernen zu dürfen.

„Im Lehramtsstudium werden Lehrerinnen und Lehrer nicht dazu ausgebildet, Kindern und Jugendlichen ihr Lernen einfach frei zu geben und es nur zu begleiten“ (S. 83), konstatiert der Autor. Rolf Robischon hat das auch nirgendwo studiert – er hat es einfach gemacht. Er hat seine Konsequenzen daraus gezogen, dass Kinder nur wenig lernen, wenn sie nicht miteinander reden und sich nicht bewegen dürfen. Er hat irgendwann angefangen, Schüler nicht mehr zu fragen, sondern sich von ihnen fragen zu lassen. Bald wollten sie viel mehr wissen als Kinder im konventionellen Unterricht.

Er hat Material für die wesentlichen Lernbereiche selber konzipiert und auf eine Fibel verzichtet. Filmaufnahmen eines Erziehungswissenschaftlers der PH Freiburg belegen, dass Robischons Arbeitsweise erfolgreich war. Doch das Misstrauen dagegen blieb bei der Schulaufsicht bestehen, während der „Lernhelfer“ zu Tagungen und Kongressen eingeladen wurde, um sein Konzept weiterzugeben. Erst zwei Jahre vor seinem Ruhestand hörte die Dauerüberwachung aus der Schulaufsicht auf – kommentarlos.

„Morgengrauen“ ist mit seinen 87 Seiten ein dünnes Bändchen. Eine Gebrauchsanweisung für Lehrende auf der Suche nach neuen Wegen ist es nicht, eher ein Wegweiser. Es zeigt die Richtung, in die man gehen kann, aber nimmt einem keine Entscheidungen ab, lässt auch Umwege zu, erspart einem nicht die eigenen Erfahrungen. Robischon empfiehlt: „Fang einfach nacheinander an: Bestrafe Kinder nicht. Und sag ihnen das. Strafe ist sinnlos. Kinder sind für sich selber verantwortlich“ (S. 40).

Diese Haltung lässt ihnen ihre Eigenverantwortung: „Wer sich vornimmt, Kinder grundsätzlich nicht zu bestrafen, nimmt ihnen gegenüber eine andere Haltung ein, als sie vorher war. Ich begebe mich auf gleiche Augenhöhe.

Ich weiß nicht mehr alles besser und schon vorher“ (a.a.O.), erläutert der Autor seine Position. Gleichzeitig wird im Kapitel „Ein Schulvormittag mit Robischon“ (S. 67-81) deutlich, wie viel Verantwortung er mit der Gestaltung des Umfeldes im Lernraum selber wahrnimmt, wie er die Abläufe strukturiert, mit welchen Ansätzen er die Kinder zu Lernaktionen anregt.

Robischons strukturiert-antipädagogische Vorgehensweise wird so zu einem konstruktiven Beispiel, wie man Schule anders, menschlicher machen kann.

„Wenn Kinder lernen dürfen, was sie wollen, lernen sie alles, was ihnen erreichbar ist.“ Wer diesen Satz nach der Lektüre des Buches noch einmal bedenkt, begreift, dass Kinder Subjekte ihres eigenen Lernens sind. Wer sie als Objekt von Belehrung sieht, wird immer und immer wieder mit Motivations-, Konzentrations- und Disziplinproblemen zu kämpfen haben. Es liegt also an uns selber, ob „Morgengrauen“ eher für das Grauen am Morgen oder den Beginn eines schönen, erfreulichen Tages steht.

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*) Rolf Robischon: Morgengrauen. Ein Buch über Schule … und wie sie sein könnte, Leipzig (tologo) 2019, 87 S., € 14,90 (als eBook € 12,99)

Umleitung: Imitation und Kopie, konsolidierter Rechtsruck, digitale Radikalisierung, E-Auto-Gesetz und Informationsfreiheit sowie die Technik und der Sport

Durchgang zum Hopla in Kassel. So kann mensch sein Studium auch sehen oder eben nicht sehen (foto: zoom)

Kunsttagebuch: Imitation und Kopie, Variation und der Chamäleon-Effekt. Kunst und Kultur ohne Beeinflussung, ohne Inspiration, ja selbst ohne Kopie – bzw. viele sich ständig viral fortpflanzende Sekundär-Variationen möglicher Kopien – wären kaum denkbar. Der Dramatiker und Lyriker Bertolt Brecht hat bei Francois Villion geklaut und sah sich unter anderem deshalb Plagiatsvorwürfen ausgesetzt, Goethes Faust-Version war nur eine von vielen und überhaupt bestand die Kunst des Dramas im antiken Griechenland in der thematischen Variation der immer wieder gleichen Motive und nicht in ihrer Neuschöpfung … endoplast

AfD – Konsolidierter Rechtsruck: Beim Bundesparteitag in Braunschweig hat die Partei einen neuen Vorstand gewählt. Wie erwartet, wurden Jörg Meuthen und Tino Chrupalla als Sprecher gewählt. Der Rechtsaußen-„Flügel“ sorgte aber dafür, dass nicht wenige Kandidaten scheiterten, die sich in der Vergangenheit als „gemäßigt“ geriert hatten … bnr

Ebner, Katzer & Adorno: Drei Lesetipps zur digitalen Radikalisierung … scilogs

Hintertür in E-Auto-Gesetz: Bundestag schafft Cum-Ex-Ausnahme von Informationsfreiheit … netzpolitik

Wie die Technik den Sport angetrieben hat: eine aufschlussreiche Ausstellung in der Dortmunder DASA … revierpassagen

Rezension: „Geborgen, mutig, frei“. Was Kinder stark macht – ein Erziehungsratgeber

Geborgen, mutig, frei  – das Buch (Foto: Titelseite)

Im Bereich der Erziehungsratgeber finden sich nur selten besondere Perlen. „Geborgen, mutig, frei“ *) ist jedoch ein solches Schmuckstück, wenn es auch nicht auf den ersten Blick so wirkt.

Das Buch ist nämlich recht dick – 352 Seiten könnten manche Leser/-innen abschrecken, zumal der Preis von € 26,- zwar sehr angemessen ist, aber dennoch höher liegt, als Taschenbuchkonsumenten gewohnt sind. Dafür hält man ein richtiges, gebundenes Buch in den Händen, das einen mit seinem Gewicht dazu animiert, sich in Ruhe gemütlich in den Sessel zu versenken. Für die Lektüre in Bus oder Straßenbahn eignet sich die (zudem deutlich preiswertere) eBook-Version sicherlich besser.

Zum Schmuckstück trägt natürlich auch das schwarz-weiße Titelfoto bei: Zwei Mädchen, die im Wasser spielen – eine wunderbare Gegenlicht-Aufnahme voller Dynamik. Weitere derartige Fotos von Alain Laboile finden sich vor jedem einzelnen Text und tragen ihr Teil dazu bei, dass man die insgesamt 47 Artikel von Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund mit Denkpausen unterbricht. Die sind wichtig, denn jeder einzelne Artikel ist einem anderen Thema gewidmet. Es sind ausgewählte Beiträge der beiden Autoren aus dem auflagenstarken Schweizer Elternmagazin „Fritz+Fränzi“.

Da geht es beispielsweise um den Mut, den es erfordert, Kindern Freiräume zu schenken, um das kindliche Trödeln, den Umgang mit kindlichen Ängsten, die Förderung von Selbstständigkeit oder die Mitbestimmung.

Ein Teil der Beiträge bezieht sich auf kindliches Verhalten im Vorschulalter, ein anderer Teil auf schulische Themen, wieder andere stellen altersübergreifende Fragen in den Mittelpunkt.

So hat mich beispielsweise der Artikel „Etwas mehr Optimismus, bitte!“ (S. 67 ff.) sehr beeindruckt. Er thematisiert den Sachverhalt, dass Optimisten in unserer Kultur häufig für realitätsfremd und naiv gehalten werden. Doch wer eine pessimistische Grundhaltung vertritt, verstärkt negative Gefühle und Sichtweisen übermäßig. Dagegen stellt die Forschung fest: „Menschen mit einem gesunden Optimismus leben länger, sind körperlich fitter, haben glücklichere Beziehungen, sind erfolgreicher, kommen mit Enttäuschungen besser zurecht und packen Probleme aktiver an“ (S. 68).

Darum stellt der Artikel auch zwei Methoden vor, die Eltern helfen können, sich selbst und ihrem Kind zu einer positiveren Weltsicht zu verhelfen. Eine davon ist die „Was ist gut gelaufen?“-Übung aus der positiven Psychologie: Beim abendlichen Gute-Nacht-Sagen kann das Kind drei Kleinigkeiten vom Tag erzählen, die Freude gemacht haben. Mutter oder Vater dürfen auch von eigenen schönen Erlebnissen erzählen. Sie lenken mit diesem Brauch, der allerdings keine allabendliche Pflichtübung werden sollte, die Aufmerksamkeit ihres Kindes auf die positiven Aspekte des Lebens. Natürlich ist das Verfahren empirisch überprüft, so wie alle Tipps und Anregungen in „Geborgen, mutig, frei“ einen seriösen, wissenschaftlichen Hintergrund aufweisen.

Das ist auch beim wichtigen Themenkreis „Mobbing“ so, wo nicht nur Eltern informiert und zu einem konstruktiven Eingreifen angeregt werden. Einer von insgesamt vier Artikeln dazu wendet sich speziell an Lehrkräfte und stellt ihnen die „No Blame Approach“-Methode so detailliert vor, dass jede Leserin, jeder Leser danach handeln könnte.

Außerdem verweist der Artikel auf ein Video zur Methode für Grundschulkinder, das auf www.biber-blog.com angeschaut werden kann. Auf dieser Website findet man etliche weitere Kurzfilme, auf die einzelne Artikel bei Gelegenheit aufmerksam machen, ob zum Modelllernen, dem Umgehen mit eigenen Ängsten oder der Entwicklung von mehr Selbstständigkeit.

„Geborgen, mutig, frei“ ist also wirklich ein Schmuckstück, sehr klar und verständlich geschrieben, konkret, hilfreich, vielseitig. Es lässt nichts aus, was im Erziehungsalltag mit Kindern zum Problem werden könnte. Dabei sind die Artikel gleichzeitig stets unterhaltsam, humorvoll, oft auch lustig – an manchen Stellen konnte ich ein lautes Auflachen nicht unterdrücken. Der Verweis auf weiterführende Hilfen, wo nötig, die kompakten Kurztipps am Ende mehrerer Artikel oder auch ein Ringelnatz-Gedicht an passender Stelle – das alles trägt zu einer genauso unterhaltsamen wie nützlichen Lektüre bei. Und das Beste: Das Buch belehrt nirgends, aber man lernt auf jeder Seite hinzu.

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*) Fabian Grolimund, Stefanie Rietzler: Geborgen, mutig, frei. Wie Kinder zu innerer Stärke finden, Freiburg (Herder) 2019, 352 S., € 26,- (als eBook € 19,99)

Umleitung: vom Unbewussten über den Klimawandel zum Projektlernen

Aufstieg zum Hohen Dörnberg: Blick zurück auf die Helfensteine (foto: zoom)

Kunsttagebuch: Unbewusstheit und die Notwendigkeit des Bewusstseins … endoplast

„Greta-Jünger“, „Weltuntergangssekte“? Ist die Klimastreikbewegung eine Säkularreligion? … hpd

Wie lange wissen wir um den drohenden Klimawandel? Wenn man die aufgeregten Debatten um wirksame Maßnahmen zu Klimaschutz in jüngster Zeit verfolgt, so kann einen der Verdacht beschleichen, hier würden ganz brandaktuelle Erkenntnisse behandelt … scilogs

Klimaproteste: Wie sich der Erfolg von Sitzblockaden auf Google Maps überprüfen lässt … netzpolitik

Feiertagskinder, der Norden und literarische Hasstiraden: drei Neuerscheinungen von Gewicht … revierpassagen

Schulinterne Lehrpläne: Pädagogische Chance, triste Realität … bildungsluecken

Hauptlernform Projektlernen: Wie geht das? Anstatt das seit Jahrzehnten bekannte und bewährte Projektlernen in der Lehrerbildung zu lehren und aus Dauer-Nische und -Randständigkeit in der Schulpraxis herauszuholen, wurde das Rad neu erfunden. Und das kam dann oft dabei heraus… shift

Abenteuer Antiquariat: Die USA aus europäischer Sicht

Oklahoma (aus Holitscher 1912)

In den USA war ich nie und werde ich nie sein. Aber ich habe, neben meiner unrettbar USA-dominierten Musiksammlung, drei USA-Ecken in meinem Bücherschrank, die mir viel bedeuten. Zum einen die literarischen Realisten von Twain über Dos Passos und Lewis bis Faulkner, dann die frühen Comics von Feininger, Herriman und, ja, auch Disney, schließlich die Reiseberichte europäischer Intellektueller über ihre Wahrnehmungen im Land. Um letztere soll es hier gehen.

(Der Artikel von Christian Gotthardt ist im September zuerst im Harbuch erschienen.)

Arthur Holitscher: Amerika heute und morgen, Berlin 1912. Im Versandantiquariat zu haben für ca. 30 €, Neuauflagen teilweise deutlich günstiger.

Arthur Holitscher: Amerika heute und morgen
Ihn kennt heute kaum noch jemand. Von etwa 1900 bis in die 1920er und 1930er Jahre hinein war er dagegen einer der bekanntesten und erfolgreichsten „Reiseschriftsteller“.[1] Wie der muntere Kommunist Egon Erwin Kisch, aber eher von bürgerlich-liberaler Seite. Er brachte seinen Lesern das Alltagsleben der neuen großen Mächte nahe, der Sowjetunion und eben auch der USA. Lesern, die damals absehbar keine Chance hatten, jemals selbst dorthin zu gelangen. Es sei denn in Uniform.

Holitschers großes Talent waren die psychologische Einfühlung und der Wortschatz seiner Beschreibungen. Franz Kafka soll, nur auf Basis der Lektüre Holitschers, die grandiosen New York-Schauplätze in seinem Roman „Amerika“ gestaltet haben. Und das Lebensgefühl in dieser Stadt.

Der Autor geht, nach den im Übrigen von allen der hier erwähnten Autoren gewissenhaft absolvierten Stationen Ellis Island, Wolkenkratzer usw., ganz eigensinnige Wege. Seine sensiblen Beobachtungen über pädagogische Reformversuche, über die Multikulturalität Kanadas, über das brutale Leben in Chicago sind unbedingt lesenswert.

Als befremdlich stoßen Holitschers Bemerkungen zur sog. Rassenfrage auf. Er ist zwar um eine humane Sicht bemüht, kolportierte aber zahllose rassistische Stereotype. Dies ist lehrreich, zeigt es doch, wie wenig geübt auch offene, gebildete, liberale Europäer zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Umgang mit diesem Thema waren. Hier hatte der Kolonialismus offenbar ein Problem aufgeworfen, das aus dem Gefühls- und Kenntnishorizont des Alte-Welt-Establishments nicht zu lösen war. Wie ich in einem anderen Kontext lernen konnte: Erste, wirklich überzeugende antirassistische Positionen entstanden erstmals in den linksradikalen Seeleutegewerkschaften, die mit der kommunistischen Internationale kooperierten (so z.B. auf dem „Ersten Internationalen Kongress der Hafenarbeiter und Seeleute“ in Hamburg 1931).

Arthur Holitscher: Wiedersehen mit Amerika, Berlin 1930. Das Buch ist derzeit knapp und leider nur zu unangemessenen Preisen erhältlich. Abwarten…

Arthur Holitscher: Wiedersehen mit Amerika
18 Jahre später, der Versuch einer Fortsetzung des Bestsellers. Vielleicht aber auch, oder vor allem, eine Art Widerruf der ehedem eher euphorischen Sicht. Der Text ist weit weniger ausladend, abstrakter und sehr konzentriert und kritisch.

Simone de Beauvoir: Amerika Tag und Nacht, Hamburg 1950. Im Versandantiquariat zu haben für 2 bis 10 Euro.

Simone de Beauvoir: Amerika Tag und Nacht
Hierbei handelt es sich um das Reisetagebuch einer USA-Vortragstournee vom 25. Januar bis zum 20. Mai 1947. De Beauvoir, in Frankreich bereits gefeierte Erzählerin und Essayistin, ließ sich auf Vermittlung des französischen Kulturministers an den amerikanischen Universitäten herumreichen und nahm an zahlreichen Diskussionsrunden teil. Im Vordergrund standen die großen Themen der Welt-Nachkriegsordnung, kulturelle Gemeinsamkeiten diesseits und jenseits des Atlantiks, das Verständnis von Nation und Demokratie usw. Die engagierte Diskutantin tagte, in dichtem Zigarettenqualm und mit stets gefülltem Wiskeyglas, mit ihren amerikanischen Gesprächspartnern aus Wissenschaft und Literaturbetrieb meist bis spät in die Nacht, wobei dann auch heiklere Themen wie Rassismus oder Sexismus zur Sprache kamen.

Was mir an diesem Buch gefällt, ist vielleicht in den Augen anderer sein größter Mangel: De Beauvoir geht mit einer stets störrisch aufgesetzten europäischen Schutzbrille an die USA heran, und setzt sie niemals ab. Genauer gesagt, einer französischen, humanistischen, laizistischen Schutzbrille. Sie mag einfach nicht akzeptieren, das Schlimmes in den USA passiert, weil es immer schon so passiert sei. Dies Argument lässt sie nicht gelten. Sie erinnert mich an einen von mir geschätzten Lehrer in meiner Schülerzeit. Als ich auf seine frustrierte Feststellung, die von der Schulleitung veranlasste Aufteilung der Pausenräume in Raucher und Nichtraucher würde nicht befolgt, antwortete, in dem einen Raum träfe sich die Junge Union und in dem anderen die Linken, und beide würden rauchen, sagte er: Wenn die Realität falsch ist, muss man sie ändern. Klassischer maoistischer Voluntarismus, aber manchmal ein fruchtbarer Denkanstoß. Selige 1970er Jahre.

Bei De Beauvoir beweist sich dies vor allem in der Darstellung ihrer Gespräche mit Literaten und Aktivisten im Umfeld der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, die sie konsequent suchte und ausführlich schildert.

Volkhard Brandes: Good bye, Uncle Sam, München 1971. Im Versandantiquariat zu haben für 3 bis 15 Euro.

Volkhard Brandes: Good bye, Uncle Sam
Dieses Buch habe ich 1974 gelesen, wir hatten es damals in unserer (vor dem Schulgelände verkauften) Schülerzeitung empfohlen. Es brachte meine in der Kindheit und beim Heranwachsen entstandenen USA-Wahrnehmungen auf einen plausiblen Nenner. Der meinen Blick bis heute prägt.

Meine Wahrnehmungen hatten viel mit dem Vietnam-Krieg zu tun. Ich erinnere mich an zwei Schlaglichter: Die legendäre Fotoserie des „Stern“ über die Ausbildung von Kommandoeinheiten der US-Marines, und die allsonntägliche Berichterstattung des ARD-Magazins „Weltspiegel“ über die Kampfhandlungen. Das war alles stark erklärungsbedürftig, und ich war dankbar, dass mein großer Bruder, als „68er“, da war, mir beim Verstehen zu helfen.

Bei Brandes lernte ich dann die Gesellschaft kennen, die hinter diesem Krieg stand. Er hatte Englisch und Amerikanistik studiert und war mehrfach durch die USA getrampt, hatte an Protesten gegen den Krieg teilgenommen und war auch abgeschoben worden. Sein Bericht ist nicht systematisch. Er gibt verstörende Snapshots preis, die vor allem deshalb verstörend sind, weil sie das, was wir geneigt sind für unsere europäischen Kulturstandards zu halten, massiv unterlaufen: Amerikanische Nazis, Slums in New York, Polizeikorruption und -gewalt, Truthahn-Wahnsinn der Mittelschicht bei Thanksgiving, Hire and Fire usw.

Vielleicht damals eine vorurteilsbedingte Wahrnehmung eines deutschen Linken? Aber wenn wir die derzeit vom Trump-Aufstieg in den USA bzw. AfD-Aufstieg in Deutschland ausgehenden Tabubrüche bedenken, vielleicht doch eher eine gespenstische Weissagung. The times they are a`changing.

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Anmerkungen

[1] Eine schöne Zusammenstellung von Rezensionen und Originaltexten bietet die Friedrich Ebert Stiftung in https://www.fes.de/e/arthur-holitscher-neu-entdecken-mit-dem-historischen-vorwaerts/ (15.8.2019).

Umleitung: Selbstreflexion, Thakur, DJV, Berlins Krise, Klimakatastrophe, Ulrich Kelber, Leonardo da Vinci, Hagen und Brilon-Petersborn.

Bank, Bäume und Bildstock bei Scharfenberg (foto: zoom)

Das Bild der Bank-, Baum- und Bildstockgruppe bei Scharfenberg habe ich nach Hinweisen eines Twitter-Bekannten aufgenommen. Das Wetter war leider nicht wie erträumt, aber ich bin sicher, dass ich den Ort erneut aufsuchen werde. Das Motiv ist noch nicht ausgereizt.

Jetzt aber zu einigen Lesehinweisen.

Kunsttagebuch: Selbstreflexion als Voraussetzung für das Ich-erkennendes Bewusstsein … endoplast

Thakur: Speziell diese Ausgabe von 1914 hatte ich schon mehrfach besessen und dann wieder nicht mehr. Immer wenn ich – früher – ernsthaft verliebt war, dann schenkte ich es der Angebeteten. Jedesmal ewige Ewigkeit voraussetzend. Ich Narr … paralipomena

Journalistenverband: will Veranstaltung zum Datenschutz verhindern … welchering

Lösung für Berlins Krise: Die Krise der Stadt wäre schlagartig behoben, wenn der Bundestag und die Bundesregierung nach Bonn zurückkehrten. Der Zustrom der Bürger nach Berlin würde verebben, die Mieten würden sinken, der Wohnungsmarkt würde durchlüftet … postvonhorn

Klimakatastrophe: Wie Fritz Vahrenholt den Bundestag für dumm verkaufen wollte … scilogs

Datenschützer Ulrich Kelber: Wir werden auch in Deutschland Strafen in Millionenhöhe sehen … netzpolitik

Der Zeit voraus in allen Wissenschaften: Hagener Ausstellung auf den Spuren des Universalgenies Leonardo da Vinci … revierpassagen

Schule statt Block 1: Hagens Politik erwartet Transparenz … doppelwacholder

Brilon-Petersborn: Neue Siedlung im potentiellen Naturschutzgebiet? … sbl

Victor Klemperer über den 1. September 1939

In seinem Tagebuch notiert Victor Klemperer am 3. September, Sonntag vormittag[1]:

„Die dauernde Nervenfolter immer unerträglicher. Am Freitag morgen [1.9.39, zoom] dauernde Verdunklung befohlen. Wir sitzen eng im Keller, die furchtbare nasse Schwüle, das ewige Schwitzen und Frösteln, der Schimmelgeruch, die Lebensmittelknappheit macht alles noch qualvoller.

[…]

Dies alles wäre an sich Bagatelle, aber es ist nur das Nebenbei. Was wird? Von Stunde zu Stunde sagen wir uns, jetzt muss es sich entscheiden, ob Hitler allmächtig, ob seine Herrschaft eine unübersehbar dauernde ist, oder ob sie jetzt, jetzt fällt.

Am Freitagmorgen, 1. 9., kam der junge Schlächtergeselle und berichtete: Rundfunk erkläre, wir hielten bereits Danzig und Korridor besetzt, der Krieg mit Polen sei im Gang, England und Frankreich blieben neutral. Ich sagte zu Eva, dann sei für uns eine Morphiumspritze oder etwas Entsprechendes das Beste, unser Leben sei zu Ende. Dann wieder sagten wir uns beide, so könnten die Dinge unmöglich liegen, der Junge habe schon oft tolles Zeug berichtet (er sei ein Musterbeispiel für die Art, wie das Volk Berichte auffaßt). Eine Weile später hört man Hitlers gehetzte Stimme, dann das übliche Gebrüll, verstand aber nichts.

[…]“

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[1] Victor Klemperer, 1937 – 1939, 3. Aufl. Berlin 1999, S. 157/158

Umleitung: Elf Lesehinweise von der Visualisierung des Nie-Gesehenen über NS-Traditionen und völkische Parallelwelten zum anarchischen Zustand der GroKo und mehr …

Am späten Nachmittag auf der Niedersfelder Hochheide (foto: zoom)

Kunsttagebuch: Kunst und die Visualisierung des Nie-Gesehenen … endoplast

SPD: Dem Kollaps entgegen – Die Erneuerung droht zu scheitern … postvonhorn

Von Lucke über die GroKo: „Fast anarchischer Zustand der Führungslosigkeit“ … deutschlandfunk

Zum Weiterwirken von NS-Traditionen: Wieder N wie Nathan statt N wie Nordpol? … scilogs

Gestapo, Kripo, Schupo: Polizeiliche Gewalttäter in Harburg 1933 bis 1945 … harbuch

Völkische Parallelwelt: Rechte Familien siedeln sich gezielt in Regionen mit Landflucht an. Mit Gleichgesinnten leben sie ihre völkische Ideologie aus und geben sie entsprechend an den Nachwuchs weiter … bnr

Schlanker Staat? Blöde Idee! Niedrige Staatsquote, eine Schuldenbremse im Verfassungrang: all das klingt gut, ist aber gefährlicher Unfug. In einer schweren Rezession ist eine Schuldenbremse praktisch ökonomischer Selbstmord … misik

Tor-Netzwerk und Redaktionsgeheimnis: Was die Bundesregierung anderswo unterstützt, greift sie hierzulande an … netzpolitik

The Weather Machine – a journey into the forecast: Andrew Blums „The Weather Machine – A journey inside the forecast“ untersucht die Hintergründe unserer Wetterberichte. Das Buch startet aus der Geschichte heraus und erzählt, wie es überhaupt zu unserem heutigen System der Wetterbeobachtung kam … schmalenstroer

Blickrichtung rückwärts: Ruhrtriennale 2019 mit groß angelegter Multimedia-Produktion von Heiner Goebbels … revierpassagen

Versuch einer Analyse: Kosten und Qualität der vier Jugendamtsbezirke im HSK … sbl

Gute Nacht aus Siedlinghausen … muss jetzt „1984“ zu Ende lesen!

Der Abendhimmel von der Allenbergstraße aus gesehen (foto: zoom)

Gute Nacht und nur kurz angemerkt. Bin heute mit dem alten Tamron Zoom (18-200) auf der Kamera durch den Ort geschlendert, um zu sehen, ob es wirklich so viel schlechter ist als meine Nikon Objektive.

Nun ja, es kommt darauf an, was man fotografiert. Manchmal reicht es, manchmal nicht.

Gleich will ich vor allen Dingen „1984“ zu Ende bringen. Ich habe diese Dystopie von George Orwell schon mehrmals gelesen. Das erste Mal als Jugendlicher schnell an einem Abend. Danach habe ich immer länger gebraucht und jetzt sind es schon mehrere Wochen, die ich Seite für Seite kurz vor dem Einschlafen mit Winston Smith verbringe.

Ein bis zwei Seiten haben gereicht, um mich bis in die Träume zu beschäftigen. Heute Abend geht es dem Ende zu, und das werde ich „wie früher“ in einem Rutsch lesen.

Ich finde „1984“ hart zu ertragen, weil der Roman seit seiner Erstveröffentlichung vor 70 Jahren nichts von seiner „Aktualität“ und Schärfe verloren hat.

Doublethink, Newspeak, Ignorance is Strength, War is Peace … später (vielleicht) mehr.

Ich höre an dieser Stelle auf, denn gleich muss Smith im dritten und letzten Teil in den „Room 101“.

Und sind wir auch Israels Kinder
Der Erste Band der „Beiträge zur Geschichte der Esloher Juden“ ist erschienen

„Und sind wir auch Israels Kinder“ – Buchcover

Wenn der katholische Oberhirte aus Paderborn kam, hängten Goldschmidts ein Schild ins Schaufenster: „Sind wir auch Israels Kinder, wir lieben den Bischof nicht minder …“.

Ein soeben erschienenes Buch, herausgegeben in Kooperation mit dem Museum Eslohe, erschließt Berichte und Forschungen zur Geschichte der Juden im Gebiet der Gemeinde Eslohe ab dem 18. Jahrhundert.

Die chronologische Darbietung der Beiträge aus den Jahren 1988-2013 ermöglicht es, Irrtümer, Erkenntnisfortschritte und einen Wandel der Sichtweisen nachzuvollziehen. Dem Ansatz „Ich male mir mein Dorf schön“ folgt z.B. die Einsicht, dass der Antisemitismus nicht erst durch „Nazis von einem fremden Stern“ ins Esloher Land gekommen ist.

In der Gesamtschau zeigt sich ein erstaunlich facettenreiches Bild, ermöglicht durch die Unterschiedlichkeit der Autoren, Perspektiven und Herangehensweisen. Der Erste Band der „Beiträge zur Geschichte der Esloher Juden“ enthält Beiträge von Dr. Alfred Bruns, Peter Bürger, Rudolf Franzen, Eugen Henkel, Anton Mathweis, Helmut Neunzig, Wilfried Oertel, Hans Jürgen Rade, Dr. Erika Richter, Rita Römer, Gudrun Schulte, Dierk W. Stoetzel und Dr. Henry Wahlig.

Rudolf Franzen, Gudrun Schulte, Peter Bürger (Hg.):
„Und sind wir auch Israels Kinder“: Beiträge zur Geschichte der Esloher Juden – Erster Band. ISBN: 978-3-7357-3723-6 (312 Seiten; Paperback; farbige Abbildungen; BoD 2019; Preis 14,90 €, überall im Buchhandel bestellbar, auch vor Ort)
Mit einer BoD-Direktbestellung fördern Sie das Publikations-Projekt (Leseprobe / Inhaltsverzeichnis oben links abrufbar):
https://www.bod.de/buchshop/und-sind-wir-auch-israels-kinder-9783735737236

Nachfolgend dokumentieren wir als Leseprobe das Vorwort zur Sammlung (unter Wegfall der Fußnoten) und eine Übersicht zum Inhalt des Buches.

Einleitung

„Etliche Bücher, die an die Geschichte von Juden und Christen in einem bestimmten Ort oder einer Region erinnern, betonen, hier sei das Verhältnis wirklich von gegenseitiger Toleranz geprägt gewesen. […] Nun fragt sich aber, wo dann noch der Antisemitismus seinen Ort hat, wenn – zugespitzt formuliert – beinahe jede Lokalgeschichte von einem friedlichen Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden zu berichten weiß.“
Olaf Blaschke

Die erste greifbare Chroniknachricht ist eine Vertreibungsgeschichte aus dem Jahr 1700: Wilhelm Engelhard hat in seinem nahe der Esloher Kirche gelegenen Haus einen aus Mainz kommenden Juden aufgenommen – sehr zum Missfallen des örtlichen Pastors. Der Kölner Generalvikar weist Engelhard unter empfindlicher Strafandrohung an, seinen jüdischen Hausgenossen wieder vor die Tür zu setzen. – Im Kopfschatzregister für das Gericht Eslohe und Reiste von 1764/ 1765 wird mit Sander Laiser ein ortsansässiger Jude namentlich genannt.

Sander Laiser ist wohl der Vater des 1791 in einem Verzeichnis aufgeführten Jackel (Jockel, Jakob) Sander zu Eslohe, der dann ab 1809 den Familiennamen Goldschmidt führt. Wenn in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der römisch-katholische Oberhirte aus Paderborn zur Firmung in den Ort kam, soll ein Urenkel des Jakob ein Schild in sein Schaufenster gestellt haben: „Sind wir auch Israels Kinder, /So lieben wir doch / Den Bischof nicht minder.“ Wer mit den historischen Verhältnissen im kurkölnischen Südwestfalen vertraut ist, wird dies keinesfalls als Indiz für nachhaltige ‚Integration‘ und Harmonie deuten. Ende 1942 werden die letzten am Ort lebenden Nachfahren von Sander Laiser und Jakob Sander im Zuge der Massenverschleppung von westfälischen Juden aus Eslohe deportiert.

Bislang gab es keine eigenständige, in Buchform veröffentlichte Darstellung zu den Esloher Juden. Der hier vorgelegte Sammelband erschließt Berichte, Forschungen und andere Wortmeldungen zur Geschichte der jüdischen Bewohner des Gemeindegebietes ab dem 18. Jahrhundert, die zuerst in den Jahren 1988 bis 2013 erschienen sind. (Die meisten Texte stammen aus Ausgaben des von Rudolf Fran­zen begründeten Jahrbuchs „Esloher Museumsnachrichten“.) Die chronologische Darbietung dieser Beiträge ermöglicht es, Irrtümer, Erkenntnisfortschritte und einen Wandel der Sichtweisen nachzuvollziehen. In der Gesamtschau zeigt sich ein erstaunlich facettenreiches Bild, ermöglicht durch die Unterschiedlichkeit der Autorenpersönlichkeiten, Perspektiven und Herangehensweisen.

Als 1987 eine wegweisende Dokumentation zu den Juden des ehemaligen Kreises Meschede von Dr. Alfred Bruns erschien, gab es noch keine lokale Darstellung, die an jüdische Bewohnerinnen und Bewohner des Esloher Landes erinnerte. Die von Bruns edierten Quellen lenkten den Blick zurück ins 19. Jahrhundert. 1818 lebten 23.045 Einwohner im Kreis Eslohe/Meschede; von ihnen waren 210 Juden.

Im entsprechenden Verzeichnis sind folgende Zahlen für Orte im heutigen Gemeindegebiet berücksichtigt: Eslohe-Dorf: 6 jüdische Bewohner; Cobbenrode: 7; Hengsbeck: 3; Salwey: 8. Für das Jahr 1839 wurden dann folgende Zahlen ermittelt: Eslohe-Dorf: 9 jüdische Bewohner; Cobbenrode: 7; Wenholthausen: 7; Mathmecke: 5. – „1846 machte der Anteil der Juden im Amt Eslohe fast genau 1 % der Bevölkerung aus.“ (->Kapitel XIV.12) Die „Mitbürger israelitischen Glaubens“ blieben stets eine sehr kleine Minderheit. Nach 1945 gab es auch für Dorfgemeinschaften im Sauerland viele Gründe, sich an ihre Namen nicht mehr zu erinnern.

Die von 10 bis 15 Millionen bundesdeutschen Zuschauern verfolgte – zunächst äußerst umstrittene – Ausstrahlung der vierteiligen US-Fernsehproduktion „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“ Anfang 1979 wird gemeinhin als „erinnerungsgeschichtliche Zäsur“ betrachtet – mit Auswirkungen gerade auch in der heimatkundlichen Forschung. Ein knappes Jahrzehnt später erschien auf Privatinitiative hin eine kleine Dokumentation zu den November-Pogromen des Jahres 1938 im Hochsauerland. Über Eslohe war in dieser Publikation nichts zu lesen.

Auch auf einer Karte zu den Pogromen von 1938 im Holthausener Ausstellungskatalog „Das Hakenkreuz im Sauerland“ (1988) fehlten Hinweise zu Gewaltakten in Eslohe. Dies war Ansporn für Rudolf Franzen, 1988 für das CDU-Mitteilungsblatt „Essel-Bote“ den ersten ortsgeschichtlichen Beitrag über „Das Schicksal der Esloher Juden“ (->Kapitel I) zu verfassen.

Somit steht am Anfang der ‚lokalen Erinnerungs- und Forschungsgeschichte‘ – durchaus nicht untypisch – der Blick auf Unterdrückung und Ermordung der jüdischen Minderheit in der NS-Zeit. Die Basis der mündlichen Zeitzeugenberichte war 1988 noch recht schmal. In diesem Sammelband ist der Beitrag mit drei Fußnoten versehen, die bereits die Grenzen von „oral history“ erahnen lassen.

1989 veröffentlichten Rudolf Franzen und ich „Das Buch vom Pampel“ (auf der Grundlage einer umfassenden Geschichtensammlung – nach Mitteilungen von 69 Erzählerinnen und Erzählern). Dieses Werk, ein anekdotisch erzählter „Schelmenroman“, erhebt den in mancherlei Hinsicht unangepassten Dorfbewohner Willi Jungbluth (1897-1960) zur „Heldengestalt“. Auszüge aus dem Erzählkapitel über die NS-Zeit werden im vorliegenden Band dokumentiert (->Kapitel II).

Die Sammlung der mündlich mitgeteilten „Pampel“-Geschichten und erst recht die literarische Buchfassung können freilich nicht als historische Quellen herangezogen werden! Vielmehr folgen die zugrundegelegten lokalen Erzähltraditionen und die redaktionelle Linie des Buchbearbeiters (Peter Bürger) in den 1980er Jahren noch dem Ansatz: „Ich male mir mein Dorf und seine Geschichte schön.“

Maria Lüttcke, geb. Schulte (1919-1997) hat allerdings am 25.6.1995 bei einer weiteren Befragung erneut betont, die Geschichte über Pampels Anstreicherarbeiten am Haus Goldschmidt sei „wahr“! Für Nachträge, die in den „Esloher Museumsnachrichten 2000“ veröffentlicht worden sind, gab Marianne Schulte, geb. Schmidt (Jg. 1925) zu Protokoll, Willi Jungbluths Frau Änne habe sich von ihrer Mutter in der NS-Zeit während der Haft des Gatten trösten lassen. Immerhin denkbar ist also, dass zu Nonkonformismus und Konflikten des W. Jungbluth (alias „Pampel“) in den 1930er Jahren einmal eine amtliche Quelle auftaucht.

Vor drei Jahrzehnten deutete ich in einem zuerst 1992 veröffentlichten Beitrag (->Kapitel III) einen sechseckigen Stern auf dem z.T. schon verwitterten Grabstein des – vermeintlich jüdischen – Mädchen Louise Gabriel an der katholischen Kirche im Einklang mit anderen Eslohern leichtfertig als Davidstern. Von den älteren Gewährsleuten – darunter Wilhelm Molitor (1904-1997) und Dr. Magdalene Padberg (1926-2019) – hatte ich erfahren, dass alter Dorfüberlieferung zufolge die Familie Gabriel auf jüdische Vorfahren zurückging.

Sehr bald nach einem zweiten Abdruck des Textes fragte Dierk W. Stoetzel mich mit freundschaftlichem Forscherspott, ob ich fußlahm sei und deshalb den allerchristlichen Taufeintrag zur Esloherin Louise Gabriel (1814-1830) im nahen Pfarrarchiv nicht hätte nachschlagen können (->Kapitel XIV.14). Es handelt sich erwiesenermaßen nicht um ein jüdisches Grabdenkmal!

Die Kunde zur ‚jüdischen Vorgeschichte‘ der Esloher Familie Gabriel konnte indessen durch überaus gründliche Forschungen von Hans Jürgen Rade bestätigt werden (->Kapitel XI; XVI). Noch nicht zufriedenstellend beantwortet ist lediglich die Frage, ob die Symbolik des Grabsteins von Louise Gabriel (Stern, Schmetterling in Kreisschlange) vielleicht doch noch eine Nähe zur Bildsprache auf jüdischen Friedhöfen des 19. Jahrhunderts anzeigt.

1993 folgte ein Beitrag zu einigen antisemitische Textfunden aus dem Museums- und Mundartarchiv (->Kapitel VI). Ob diese Quellen als repräsentativ für die sauerländische Landschaft gelten können oder ihr Auftauchen eher dem „Zufall“ geschuldet ist, war damals noch nicht zu entscheiden. Inzwischen konnte aber durch eine systematische Studie im Buchband „Liäwensläup“ (Eslohe 2012) gezeigt werden, dass judenfeindliche Inhalte in den Sprachzeugnissen des katholischen Sauerlandes keine Ausnahmeerscheinungen sind.

Im gleichen Jahr feierte der Ballspielclub Eslohe (BCE) sein 75-jähriges Bestehen. Ein in der Festschrift 1993 veröffentlichter Beitrag zur Vereinsgeschichte von Eugen Henkel (1912-1987) vermittelt die Bedeutung der Brüder Robert und Julius Goldschmidt in den Gründerjahren zumindest vage über dokumentierte Zeitungsberichte des Jahres 1927 (->Kapitel VI). Weitere Nachforschungen (->Kapitel VIII.6) ergeben ein zwiespältiges Bild: Nach 1933 kam es zu „Spannungen“ und vermutlich auch zu Handgreiflichkeiten, die dem aktiven Fußballer Dr. med. Julius Goldschmidt zeigten, dass er sich in der ‚Neuen Zeit‘ keineswegs rückhaltlos auf alte Spielerkameradschaft verlassen konnte.

Andererseits stellte das antisemitische Hetzblatt den Esloher Verein Anfang 1935 an den Pranger, weil er 1934 am Grab des Robert Goldschmidt einen Kranz niedergelegt hatte. – Nur durch die 2007 auch im Esloher Museums-‚Jahrbuch‘ veröffentlichten Forschungen (->Kapitel XIII) des Sporthistorikers Dr. Henry Wahlig wissen wir, dass sich Dr. Julius Goldschmidt nach seinem Ausscheiden aus dem BCE stark für das jüdische Fußball-Vereinswesen engagiert hat und hierbei als Fußballobmann des Schild-Verbands in Westdeutschland sehr erfolgreich gewesen ist: „Er gehörte […] zu den wichtigsten Funktionären des jüdischen Fußballs in Deutschland.“ (H. Wahlig)

Alfred Bruns legt 1993 in Band I der „Esloher Forschungen“ einen soliden Gesamtüberblick zur Geschichte der Juden für das gesamte Gemeindegebiet (->Kapitel IV) vor, der in „kirchengeschichtlichen Kontexten“ auch erstmals bedeutsame Nachrichten ab 1700 erschließt. Ein Beitrag „Sind wir auch Israels Kinder …“ (->Kapitel VIII), zuerst erschienen 50 Jahre nach Niederwerfung des deutschen Faschismus, bringt Neues für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem auf der Grundlage ausgiebiger Zeitzeugenbefragungen.

Gudrun Schulte er­innert in einem NS-Kapitel der 1995 erschienenen Esloher „Sparkassen-Geschichte“ an die systematische Ausraubung der jüdischen Bewohner (->Kapitel VII). In einem zuerst 2006 veröffentlichten Beitrag (->Kapitel XII) vermittelt Anton Mathweis (1926-2016) auf sehr persönliche Weise familiäre und eigene Erinnerungen an die letzten Nachfahren der Familie Isaak Goldschmidt.

Auf eine 1796 niedergeschriebene und 1800 dem Jacob Zander (d.i. Jakob Goldschmidt) verehrte Hebräische Liedhandschrift, die irgendwann ins Esloher Pfarrarchiv gelangt ist, wird schon im Beitrag von Bruns hingewiesen. Der Düsseldorfer Helmut Neunzig hat für die „Esloher Museumsnachrichten 2001“ die elf Strophen dieser Gebetsdichtung nicht nur übersetzt, sondern auch die Herkunft des Liedes und seine liturgische Bedeutung beleuchtet (->Kapitel IX).

Im Rahmen seines unermüdlichen Einsatzes für die Erinnerungsarbeit hat der evangelische Theologe Wilfried Oertel (1947-2018) im Jahr 2004 einen Sammelband „Jüdisches Leben im Synagogenbezirk Meschede“ herausgegeben, aus dem im vorliegenden Buch fünf Auszüge aufgenommen worden sind: Im Text von Dr. Erika Richter wird u.a. dargelegt, dass die Esloher Jonas und Isaak Goldschmidt schon 1905/1906 eine Aufnahme in die Mescheder Synagogengemeinde beantragt haben (->Kapitel X.1).

Vom Herausgeber Wilfried Oertel selbst stammen dokumentarische Kapitel zum Waldfriedhof Oesterberge (->Kapitel X.2) und zur Reister Familie Steinberg (->Kapitel X.3) sowie eine Gedenkansprache (->Kapitel X.5). Rita Römer erhellt die lokale Geschichte der Velmeder Familie Bachmann, aus der die Esloher Geschäftsfrau Anneliese Goldschmidt (geb. 9.7.1906) stammte (->Kapitel X.4).

Dierk W. Stoetzel veröffentlichte 2009 einen exzellenten Überblick zu den „Spuren jüdischen Lebens“ im gesamten Esloher Gemeindegebiet (->Kapitel XIV); im Jahr darauf konnte er auch seine neuen Forschungen zum „Schicksal der letzten in Eslohe ansässigen Mitglieder der Familie Goldschmidt“ – insbesondere der Hannah Simon – vorlegen (->Kapitel XV).

In diesen beiden Beiträgen werden neben den eigenen Quellenrecherchen des Verfassers Arbeiten aus zwei Jahrzehnten ausgewertet und einer gründlichen Kritik unterzogen. Stoetzel klärt Widersprüche auf und zeigt, warum bestimmte Mitteilungen von Zeitzeugen nicht haltbar sind. Für ‚eilige Leser‘ bietet es sich an, mit der Lektüre seiner beiden Texte zu beginnen.

Einen neuen Stand der Erinnerungskultur vor Ort markierte am 10. Oktober 2013 die Präsentation der Ausstellung „Kicker – Kämpfer – Legenden: Juden im deutschen Fußball“ im Museum Eslohe (->Kapitel XVII). Mit der Eröffnungsrede zur Ausstellung schließt dieses Buch. Es dokumentiert nicht zuletzt, wie die Gemeinde Eslohe beschenkt ist nicht nur durch die Mühen der nahen Lokalforscher, son­dern auch durch hochkarätige Beiträge von sieben Forschenden, die durch keinen direkten biographischen Bezug mit dem Gebiet der Kom­mune verbunden sind.

Den Autorinnen und Autoren sei gedankt, nicht minder allen anderen Menschen, die durch Hinweise und mannigfache Hilfestellungen das Erscheinen des ersten Teilbandes möglich gemacht haben: Magdalene Fiebig und Karl-Arnold Reinartz, die übrigens beide auch eigene Beiträge im Zweiten Band veröffentlichen werden; eben­so Bodo Bischof, Anne Boskamp, Daniel Brandes (Gemeindearchiv Finnentrop), Philip Bürger, Michael Gosmann (SüdWestfalenArchiv), Ulrich Hengesbach (Bürgerzentrum Alte Synagoge e. V. – Meschede), Franz-Josef Keite, Bernd Schaller, David Schächter, Siegbert Tillmann, Horst Vielhaber und dem Vorstand des BallspielClubs Eslohe.

Ein Gesamt-Namenregister für alle Teile soll der noch in Vorbereitung befindliche Zweite Band dieses Sammelwerkes zur „Geschichte der Esloher Juden“ enthalten.

Düsseldorf, 9. Mai 2019: Peter Bürger

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Übersicht zum Buchinhalt
„Und sind wir auch Israels Kinder“

I. Das Schicksal der Esloher Juden
Von Rudolf Franzen (1988)

II. Das Buch vom Pampel
Geschichten aus Eslohe (1989)
Hg. Peter Bürger & Rudolf Franzen

III. „Schmetterling im Kreis der Schlange“
Anmerkungen zu einem Relief auf dem Grabstein des [jüdischen] Mädchens Louise Gabriel auf dem Kirchhof zu Eslohe
Von Peter Bürger (1992)

IV. Der jüdische Kultus im Raum Eslohe
Von Alfred Bruns (1993)

V. 75 Jahre Ballspielclub Eslohe und wie alles begann
Aus der BCE-Festschrift von 1993
Von Eugen Henkel

VI. „Heimatbewegtes“?
Antisemitische Spuren aus dem Archiv
Von Peter Bürger (1993)

VII. Juden als Sparkassenkunden
Ein Beitrag zur Geschichte der Esloher Juden
Von Gudrun Schulte (1995)

VIII. „Sind wir auch Israels Kinder …“
Nachträge zur Geschichte der Esloher Juden
Von Peter Bürger (1995)

IX. „Meine Seele dürstet nach Gott“
Hebräische Liedhandschrift der
Esloher Juden aus dem Jahre 1796
Von Helmut Neunzig (2001)

X. Jüdisches Leben im Synagogenbezirk Meschede
Herausgegeben von Wilfried Oertel (2004)
(Erika Richter: Wie Meschede Synagogenbezirk wurde
Wilfried Oertel (Bearb.): Versteckt und doch entdeckt. Waldfriedhof Oesterberge
Wilfried Oertel: Familie Steinberg, Kirchrarbach und Reiste
Rita Römer: Die Familie Bachmann in Velmede)

XI. Die jüdischen Wurzeln der Arnsbergerin Christina Gabriel (1766-1835)
[Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Esloher Familie Gabriel]
Von Hans-Jürgen Rade (2005)

XII. Erinnerungen an die letzte jüdische Familie aus Eslohe
Bitter war der Abschied der Familie Isaak aus Niedereslohe – 1941 wurde sie „einberufen“ …
Von Anton Mathweis (2006)

XIII. Julius Goldschmidt:
Ein vergessener Sportmäzen und -manager aus Eslohe
Von Henry Wahlig (2007)

XIV. Postkarte von 1916 bei ebay ersteigert
Spuren jüdischen Lebens in Eslohe
Von Dierk W. Stoetzel (2009)

XV. Hannah Simon und die Deportation der Esloher Juden
Neue Entdeckungen geben Auskunft über das Schicksal der letzten in Eslohe ansässigen Mitglieder der Familie Goldschmidt
Von Dierk W. Stoetzel (2010)

XVI. Ein jüdischer Grabstein auf dem Esloher Kirchplatz?
Ein Blick in die Geschichte der Familie Gabriel in Eslohe hilft, das Rätsel zu lösen
Von Hans Jürgen Rade (2010)

XVII. „Geschichtliche Erinnerungen“
Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Kicker – Kämpfer – Legenden: Juden im deutschen Fußball“ am 10. Oktober 2013 im Museum Eslohe
Von Peter Bürger (2013)