In den USA war ich nie und werde ich nie sein. Aber ich habe, neben meiner unrettbar USA-dominierten Musiksammlung, drei USA-Ecken in meinem Bücherschrank, die mir viel bedeuten. Zum einen die literarischen Realisten von Twain über Dos Passos und Lewis bis Faulkner, dann die frühen Comics von Feininger, Herriman und, ja, auch Disney, schließlich die Reiseberichte europäischer Intellektueller über ihre Wahrnehmungen im Land. Um letztere soll es hier gehen.
(Der Artikel von Christian Gotthardt ist im September zuerst im Harbuch erschienen.)
Arthur Holitscher: Amerika heute und morgen
Ihn kennt heute kaum noch jemand. Von etwa 1900 bis in die 1920er und 1930er Jahre hinein war er dagegen einer der bekanntesten und erfolgreichsten „Reiseschriftsteller“.[1] Wie der muntere Kommunist Egon Erwin Kisch, aber eher von bürgerlich-liberaler Seite. Er brachte seinen Lesern das Alltagsleben der neuen großen Mächte nahe, der Sowjetunion und eben auch der USA. Lesern, die damals absehbar keine Chance hatten, jemals selbst dorthin zu gelangen. Es sei denn in Uniform.
Holitschers großes Talent waren die psychologische Einfühlung und der Wortschatz seiner Beschreibungen. Franz Kafka soll, nur auf Basis der Lektüre Holitschers, die grandiosen New York-Schauplätze in seinem Roman „Amerika“ gestaltet haben. Und das Lebensgefühl in dieser Stadt.
Der Autor geht, nach den im Übrigen von allen der hier erwähnten Autoren gewissenhaft absolvierten Stationen Ellis Island, Wolkenkratzer usw., ganz eigensinnige Wege. Seine sensiblen Beobachtungen über pädagogische Reformversuche, über die Multikulturalität Kanadas, über das brutale Leben in Chicago sind unbedingt lesenswert.
Als befremdlich stoßen Holitschers Bemerkungen zur sog. Rassenfrage auf. Er ist zwar um eine humane Sicht bemüht, kolportierte aber zahllose rassistische Stereotype. Dies ist lehrreich, zeigt es doch, wie wenig geübt auch offene, gebildete, liberale Europäer zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Umgang mit diesem Thema waren. Hier hatte der Kolonialismus offenbar ein Problem aufgeworfen, das aus dem Gefühls- und Kenntnishorizont des Alte-Welt-Establishments nicht zu lösen war. Wie ich in einem anderen Kontext lernen konnte: Erste, wirklich überzeugende antirassistische Positionen entstanden erstmals in den linksradikalen Seeleutegewerkschaften, die mit der kommunistischen Internationale kooperierten (so z.B. auf dem „Ersten Internationalen Kongress der Hafenarbeiter und Seeleute“ in Hamburg 1931).
Arthur Holitscher: Wiedersehen mit Amerika
18 Jahre später, der Versuch einer Fortsetzung des Bestsellers. Vielleicht aber auch, oder vor allem, eine Art Widerruf der ehedem eher euphorischen Sicht. Der Text ist weit weniger ausladend, abstrakter und sehr konzentriert und kritisch.
Simone de Beauvoir: Amerika Tag und Nacht
Hierbei handelt es sich um das Reisetagebuch einer USA-Vortragstournee vom 25. Januar bis zum 20. Mai 1947. De Beauvoir, in Frankreich bereits gefeierte Erzählerin und Essayistin, ließ sich auf Vermittlung des französischen Kulturministers an den amerikanischen Universitäten herumreichen und nahm an zahlreichen Diskussionsrunden teil. Im Vordergrund standen die großen Themen der Welt-Nachkriegsordnung, kulturelle Gemeinsamkeiten diesseits und jenseits des Atlantiks, das Verständnis von Nation und Demokratie usw. Die engagierte Diskutantin tagte, in dichtem Zigarettenqualm und mit stets gefülltem Wiskeyglas, mit ihren amerikanischen Gesprächspartnern aus Wissenschaft und Literaturbetrieb meist bis spät in die Nacht, wobei dann auch heiklere Themen wie Rassismus oder Sexismus zur Sprache kamen.
Was mir an diesem Buch gefällt, ist vielleicht in den Augen anderer sein größter Mangel: De Beauvoir geht mit einer stets störrisch aufgesetzten europäischen Schutzbrille an die USA heran, und setzt sie niemals ab. Genauer gesagt, einer französischen, humanistischen, laizistischen Schutzbrille. Sie mag einfach nicht akzeptieren, das Schlimmes in den USA passiert, weil es immer schon so passiert sei. Dies Argument lässt sie nicht gelten. Sie erinnert mich an einen von mir geschätzten Lehrer in meiner Schülerzeit. Als ich auf seine frustrierte Feststellung, die von der Schulleitung veranlasste Aufteilung der Pausenräume in Raucher und Nichtraucher würde nicht befolgt, antwortete, in dem einen Raum träfe sich die Junge Union und in dem anderen die Linken, und beide würden rauchen, sagte er: Wenn die Realität falsch ist, muss man sie ändern. Klassischer maoistischer Voluntarismus, aber manchmal ein fruchtbarer Denkanstoß. Selige 1970er Jahre.
Bei De Beauvoir beweist sich dies vor allem in der Darstellung ihrer Gespräche mit Literaten und Aktivisten im Umfeld der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, die sie konsequent suchte und ausführlich schildert.
Volkhard Brandes: Good bye, Uncle Sam
Dieses Buch habe ich 1974 gelesen, wir hatten es damals in unserer (vor dem Schulgelände verkauften) Schülerzeitung empfohlen. Es brachte meine in der Kindheit und beim Heranwachsen entstandenen USA-Wahrnehmungen auf einen plausiblen Nenner. Der meinen Blick bis heute prägt.
Meine Wahrnehmungen hatten viel mit dem Vietnam-Krieg zu tun. Ich erinnere mich an zwei Schlaglichter: Die legendäre Fotoserie des „Stern“ über die Ausbildung von Kommandoeinheiten der US-Marines, und die allsonntägliche Berichterstattung des ARD-Magazins „Weltspiegel“ über die Kampfhandlungen. Das war alles stark erklärungsbedürftig, und ich war dankbar, dass mein großer Bruder, als „68er“, da war, mir beim Verstehen zu helfen.
Bei Brandes lernte ich dann die Gesellschaft kennen, die hinter diesem Krieg stand. Er hatte Englisch und Amerikanistik studiert und war mehrfach durch die USA getrampt, hatte an Protesten gegen den Krieg teilgenommen und war auch abgeschoben worden. Sein Bericht ist nicht systematisch. Er gibt verstörende Snapshots preis, die vor allem deshalb verstörend sind, weil sie das, was wir geneigt sind für unsere europäischen Kulturstandards zu halten, massiv unterlaufen: Amerikanische Nazis, Slums in New York, Polizeikorruption und -gewalt, Truthahn-Wahnsinn der Mittelschicht bei Thanksgiving, Hire and Fire usw.
Vielleicht damals eine vorurteilsbedingte Wahrnehmung eines deutschen Linken? Aber wenn wir die derzeit vom Trump-Aufstieg in den USA bzw. AfD-Aufstieg in Deutschland ausgehenden Tabubrüche bedenken, vielleicht doch eher eine gespenstische Weissagung. The times they are a`changing.
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Anmerkungen
[1] Eine schöne Zusammenstellung von Rezensionen und Originaltexten bietet die Friedrich Ebert Stiftung in https://www.fes.de/e/arthur-holitscher-neu-entdecken-mit-dem-historischen-vorwaerts/ (15.8.2019).
-> Foto „Oklahoma (aus Holitscher 1912)“
https://www.youtube.com/watch?v=Web007rzSOI
@gp
Dieser musikalische Kommentar ist kongenial.
Und dazu DIESER Text:
Strange Fruit
Southern trees bear strange fruit
Blood on the leaves and blood at the root
Black bodies swinging in the southern breeze
Strange fruit hanging from the poplar trees
Pastoral scene of the gallant south
The bulging eyes and the twisted mouth
Scent of magnolias, sweet and fresh
Then the sudden smell of burning flesh
Here is fruit for the crows to pluck
For the rain to gather, for the wind to suck
For the sun to rot, for the trees to drop
Here is a strange and bitter crop
Sehr merkwürdiger Absatz, klingt wie eine Rechtfertigung („… wie wenig geübt …“):
„Als befremdlich stoßen Holitschers Bemerkungen zur sog. Rassenfrage auf. Er ist zwar um eine humane Sicht bemüht, kolportierte aber zahllose rassistische Stereotype. Dies ist lehrreich, zeigt es doch, wie wenig geübt auch offene, gebildete, liberale Europäer zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Umgang mit diesem Thema waren. Hier hatte der Kolonialismus offenbar ein Problem aufgeworfen, das aus dem Gefühls- und Kenntnishorizont des Alte-Welt-Establishments nicht zu lösen war.“
Folgendes bezweifle ich:
„Wie ich in einem anderen Kontext lernen konnte: Erste, wirklich überzeugende antirassistische Positionen entstanden erstmals in den linksradikalen Seeleutegewerkschaften, die mit der kommunistischen Internationale kooperierten (so z.B. auf dem „Ersten Internationalen Kongress der Hafenarbeiter und Seeleute“ in Hamburg 1931).“
Ist das keine „überzeugende antirassistische Position“, von 1897:
“There are many humorous things in the world; among them, the white man’s notion that he is less savage than the other savages.”
Mark Twain, „Following the Equator: A Journey Around the World“, 1897
@ zoom
ich habe keine Lust auf Schockfotos … (Foto ganz oben)
ist das normal, sowas zu zeigen? Für mich nicht.
@Andreas Lichte
Der Rassismus in den USA ist „nicht normal“. Das Foto schockiert mich auch, aber ich habe in der Auseinandersetzung mit der US-amerikanischen Geschichte viele solcher Bilder gesehen.
Heute kannst du dir Situationen anschauen, in denen weiße Polizisten schwarze Kids und Erwachsene abknallen.
Ich denke nichtsdestotrotz weiter über deine Frage nach.
-> „Der Rassismus in den USA ist “nicht normal”.“ ???
https://de.wikipedia.org/wiki/Begrabt_mein_Herz_an_der_Biegung_des_Flusses
-> „Das Foto schockiert mich auch,“
Auch diese Person sei „fast ein Spion“. „Sie wissen, was wir früher gemacht haben, als wir noch schlau waren, richtig?“, fragt Trump dann.
Bin mir nicht sicher, ob der „Make America Great Again“-Psychopath KEIN Foto von der Umsetzung seines „Sie wissen, was wir früher gemacht haben, als wir noch schlau waren, richtig?“-Statements twittern würde.
@ zoom
es geht ausschliesslich um den Schock, den das Foto auslösen kann, nicht darum, ob das Foto „sachlich richtig“ ist, zum Thema passt.
Wenn es ein Artikel über den Holocaust wäre, könnte man – richtigerweise – eins der grässlichen KZ-Fotos zeigen, da würde ich dasselbe sagen.
Was passiert:
Du öffnest das Blog, und –
Bumm !
da ist das Foto, keine Chance, dem zu entgehen …
-> „es geht ausschliesslich um den Schock, den das Foto auslösen kann, nicht darum, ob das Foto “sachlich richtig” ist, zum Thema passt.“
Ergo:
Liebe Damen und Herren der ISS-Crew. Bitte den Blick auf den „blauen Planeten“ nur noch via Bildbeschreibung textbasiert kommunizieren.
Fotografische Darstellungen des „Status Quo“ lenken in Richtung Realität ab.
@ zoom
kannst Du das Foto, ganz oben, noch mal aus 400 Kilometer Höhe aufgenommen bringen?
Ich denke, das mildert den Schock …
@Andreas Lichte:
Durchmesser der Erde ca. 12.700.000 m
Durchmesser des Fotos ca. 0,105 m
Abstand ISS-Erde ca 400.000 m
Errechneter proportionaler Abstand von der Szene:
400.000 m / 12.700.000 m = x / 0,105 m
x = (400.000 x 0,105) m^2 / 12.700.000 m
x = 0,0033 m
x = 3,3 cm
Ich denke, dass der Abstand des Betrachters/Fotografen zur Szene mehr als 3,3 cm beträgt, damit sind wir mehr als im grünen Bereich und wir könnten das Bild getrost auf bspw. das Weiße Haus projizieren.
Vorher aber nochmal mein Verfahren -Logik, Zahlen und Rechnung- überprüfen.
@ zoom
„kannst Du das Foto, ganz oben, noch mal aus 400 Kilometer Höhe aufgenommen bringen?“
heißt:
dieselbe Szene, statt vor Baum und Menschengruppe zu stehen und aus Augenhöhe zu fotografieren, aus der ISS fotografieren – so, wie „gp“ es angesprochen hat.
Bei einem Foto der „Baumszene“ aus der ISS beträgt der Abstand der Kamera 400 Kilometer. Da dürfte selbst bei höchster Bild-Auflösung viel Schrecken verloren gehen. Außerdem ist das „Typische“ der fotografierten Szene in der Aufsicht nicht zu erkennen.
… and now for something completely different …
or is it still racism?
–
„Doctor Who (S11/E3)
01.10.2019 Doctor Who – Staffel 11 ? ONE
Die Tardis landet 1955 in Montgomery, genau einen Tag, bevor Rosa Parks sich weigert, ihren Sitzplatz frei zu machen. Der Lauf der Geschichte ist durch den Zeitreisenden Krasko gefährdet, der die Ereignisse verhindern möchte.“
https://www.ardmediathek.de/one/player/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLTJkOWEzMjAwLTNjNTMtNDlhOC1hZjZiLWU4NzA2MzI1YTYyMw/doctor-who-s11-e3
@Andreas Lichte
Werde mir die Folge demnächst in Ruhe angucken.
Heute schaffe ich es nicht.
Danke für den Link!