Victor Klemperer über den 1. September 1939

In seinem Tagebuch notiert Victor Klemperer am 3. September, Sonntag vormittag[1]:

„Die dauernde Nervenfolter immer unerträglicher. Am Freitag morgen [1.9.39, zoom] dauernde Verdunklung befohlen. Wir sitzen eng im Keller, die furchtbare nasse Schwüle, das ewige Schwitzen und Frösteln, der Schimmelgeruch, die Lebensmittelknappheit macht alles noch qualvoller.

[…]

Dies alles wäre an sich Bagatelle, aber es ist nur das Nebenbei. Was wird? Von Stunde zu Stunde sagen wir uns, jetzt muss es sich entscheiden, ob Hitler allmächtig, ob seine Herrschaft eine unübersehbar dauernde ist, oder ob sie jetzt, jetzt fällt.

Am Freitagmorgen, 1. 9., kam der junge Schlächtergeselle und berichtete: Rundfunk erkläre, wir hielten bereits Danzig und Korridor besetzt, der Krieg mit Polen sei im Gang, England und Frankreich blieben neutral. Ich sagte zu Eva, dann sei für uns eine Morphiumspritze oder etwas Entsprechendes das Beste, unser Leben sei zu Ende. Dann wieder sagten wir uns beide, so könnten die Dinge unmöglich liegen, der Junge habe schon oft tolles Zeug berichtet (er sei ein Musterbeispiel für die Art, wie das Volk Berichte auffaßt). Eine Weile später hört man Hitlers gehetzte Stimme, dann das übliche Gebrüll, verstand aber nichts.

[…]“

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[1] Victor Klemperer, 1937 – 1939, 3. Aufl. Berlin 1999, S. 157/158