Der russische Friedensbote stellte die Botschaft der Propheten in den Geschwisterkreis einer universellen Wahrheit – ein anregendes Lesebuch beleuchtet jetzt sein Verhältnis zum Judentum
Schon zu Lebzeiten Leo N. Tolstois, so schreibt die Literaturwissenschaftlerin Inessa Medzhibovskaya, kursierten zur Frage, wie sich der Dichter denn zu Juden, Judentum oder „Judenfrage“ stelle, Mythen, Legenden und polarisierende Schilderungen: „Man verdächtigte ihn entweder eines versteckten Antisemitismus oder einer übertriebenen Judeophilie“; dem rechten Lager galt der Graf als „satanischer Trommler, der mit den Juden im Bunde stand und mit Kräften, die sich gegen Russland verschworen“. Unter der jüdischen Anhängerschaft gab es die verständliche Neigung, die Anwaltschaft des großen Vorbildes für die Sache der Bedrückten zu idealisieren, während einige jüdische Kritiker dem Dichter Untätigkeit bzw. Gleichgültigkeit vorwarfen.
(Gastbeitrag der Redaktion Tolstoi-Friedensbibliothek)
Geradezu gegensätzlich klingen die Zeugnisse aus unterschiedlichen Zeiten: „Das alte Testament lese ich nicht, denn die Frage besteht nicht darin, wie der Glaube der Juden war, sondern worin der Glaube Christi besteht“ (Vereinigung und Übersetzung der vier Evangelien, 1879-1881). Im März 1890 heißt es hingegen in einem Brief an den Philosophen Wladimir S. Solowjow: „Der Grund unseres Entsetzens über die Unterdrückung der jüdischen Nation ist bei uns beiden derselbe: Die Erkenntnis der Brüderschaft der Völker und im besonderen die Freundschaftsbande mit den Juden, aus deren Mitte der Nazarener hervorgegangen ist und die von der Dummheit der sich Christen nennenden Götzendiener so viel zu leiden hatten und noch immer zu leiden haben.“
Mehr als die Hälfte aller Feldlerchen in Europa und Deutschland sind seit 1980 verschwunden.
Haben Du und Deine Kinder in diesem Frühling und Frühsommer schon den wunderbaren Gesang der ins Blau aufsteigenden Lerche gehört? Dies ist eher unwahrscheinlich. (Grafik: Axel Mayer / Mitwelt)
„Verschwunden“ ist ein seltsam verharmlosender Neusprech-Begriff. Ausgerottet trifft die Realität in Zeiten des globalen Artensterbens wesentlich besser.
(Gastbeitrag: Axel Mayer, erschienen bei Mitwelt Stiftung Oberrhein; die eingebetteten Links sind ebenfalls sehr interessant.)
Die Bestände der weit verbreiteten Feldlerche sind im Zeitraum von 1980 bis heute europaweit sowie in Deutschland um mehr als die Hälfte zurückgegangen. Doch die aktuelle Debatte um das globale und bundesweite Lerchen-Sterben und das Vogelsterben und seine Ursachen führt an einer Stelle in die Irre. Wir diskutieren das große Sterben als ein Phänomen der letzten 30 Jahre. Doch das Sterben hat mit DDT, E 605 und anderen brutalen Agrargiften und dem daraus folgenden Insektenschwund schon viel früher begonnen. Das aktuelle Vogelsterben ist „nur“ die Ausrottung des verbliebenen Rests. Das gilt nicht nur für die Vögel, sondern auch für das Sterben der Insekten und für das große globale Artensterben.
An Ida Levy (geb. Winterberger) wird vor dem Haus Haynstr. 13 in Hamburg-Nord, Eppendorf erinnert
Inzwischen ist der Stolperstein für Ida Levy, geb. Winterberger, unter dem Stein ihres Ehemann ebenfalls verlegt worden. (archivfoto 24. Juni 2023: zoom)
Stolperstein Ida Levy, Haynstr. 13, Hamburg (Foto: Wikipedia)
Der Stolperstein für Ida Levy (geb. Winterberger) ist seit Oktober 2023 unter dem Stein ihres Ehemann Ludwig Levy verlegt. Der ausführlich recherchierte Eintrag von Sabine Brunotte zu den beiden Stolpersteinen ist kürzlich (Mai 2025) auf der Website Stolpersteine Hamburg (Landeszentrale für politische Bildung) erschienen.
Die Autorin stellt uns ihren Text (siehe auch Copyright Sabine Brunotte unten) für das Blog und damit für unsere Winterberger Leser*innen zu Verfügung:
************** Beginn des Gastbeitrags *************
Ludwig Levy, geb. am 10.3.1875 in Altona, am 15.7.1942 nach Theresienstadt deportiert, am 21.9.1942 in das Vernichtungslager Treblinka weiterdeportiert
Ida Levy, geb. Winterberger, geb. am 3.10.1883 in Winterberg, am 15.7.1942 nach Theresienstadt deportiert, am 21.9.1942 in das Vernichtungslager Treblinka weiterdeportiert
Haynstraße 13
Der letzte frei gewählte Wohnsitz von Ida und Ludwig Levy war das Haus Isestraße 67. Da dort aber schon sehr viele Stolpersteine liegen, wurden die Steine für das Ehepaar Levy vor dem Haus Haynstraße 13 verlegt, das von 1917 bis 1932 das Zuhause der Familie war.
Mariam Said (Leiterin der Barenboim-Said Foundation in New York) und der vom Verfasser dieses Beitrages verehrte argentinisch-israelische Musiker Daniel Barenboim, der auch palästinensischer Staatsbürger ist. (Commons.wikimedia.org – CC-BY-SA-4.0,3.0,2.5,2.0,1.0)
Rechte Israel-Verbündete, deutsche Staatsdoktrin, Theologenpolizei und Liebhaber der jüdischen Religion geben höchst unterschiedliche Antworten. – Persönliche Vorbemerkungen zum Aufbau einer Schalom-Bibliothek, die Pazifisten und Antimilitaristinnen aus jüdischen Familien wieder sichtbarer machen soll.
(Ein Gastbeitrag von Peter Bürger)
In der römisch-katholischen Karfreitags-Liturgie gab es vor dem letzten Konzil (1962-1965) eine Fürbitte „Pro Judaeis“. Die Sache (https://www.friedensbilder.de/projudaeis/buerger-pro-judaeis2009.pdf) war aber mitnichten „projüdisch“, sondern nur eine weitere Gelegenheit, „die Juden“ als „treulos“ und „verblendet“ auf der Bühne vorzuführen. Die ehrende Verbeugung bei den Fürbitten für alle anderen Mitglieder der menschlichen Familie unterblieb einzig an dieser Stelle.
Auch heute ist nicht alles, wo „pro Juden“ draufsteht, wirklich „projüdisch“. Extrem rechte Politiker (https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190343.rechte-allianzen-rechtsextreme-die-israel-lieben.html) aus aller Welt und Fundamentalisten aus sogenannten „Christentümern“ erweisen der gegenwärtigen Regierung in Israel die Ehre. Gott bewahre uns vor dem Irrglauben, dass das, was diese Leute vertreten und loben, in irgendeiner Weise mit der Botschaft des Judentums zu tun hat! Evangelikale Komplexe aus den USA und anderen Ländern haben die Verbundenheit mit dem Staat Israel gleichsam in ihren Katechismus hineingeschrieben; aber sie verschweigen, was ihrer Lehre zufolge dereinst beim Jüngsten Gericht mit jenen Juden geschehen soll, die sich auch angesichts des Weltuntergangs nicht zum „wahren Christus“ bekennen. (Vorgesehen ist ein großes Abschlachten.)
In seiner anarchistischen „Zeitschrift für Menschlichkeit“ (Kain) veröffentlichte der antimilitaristische Dichter Erich Mühsam (1878-1934, im KZ ermordet) im Mai 1914 den Text „Das große Morden“. Der nachfolgende Auszug zur Hochrüstung in Deutschland hat – abgesehen von den Zahlen – leider nichts von seiner Aktualität und Dringlichkeit verloren.
(Redaktion Schalom-Bibliothek | pb)
„Mit zwei Milliarden Mark muss jährlich die Henne gefüttert werden, die unter dem Namen ‚Deutsche Wehrmacht’ im bedrohten Vaterlande herumgackert. Jetzt ist sie mit einer Extramilliarde noch fetter aufgeplustert worden und beansprucht infolgedessen fortan noch erheblich mehr Getreidekörner aus den Ackern des deutschen Volkes als bisher. Der Geflügelzüchter Michel ist ein Schafskopf, denn er merkt nicht, dass das meschuggene Huhn ihm nichts als Kuckuckseier in den Stall legt. Eines guten Tages aber wird es ihm schmerzlich fühlbar werden, wenn nämlich der zärtlich gepflegte ‚bewaffnete Friede’ an Überfütterung krepiert, seine Küken aber auskriechen und sich die missgestalteten Kreaturen als Krieg, Hunger und Pestilenz über das Land ergießen.
Die Erbpächter der deutschen Ehre und der deutschen Phrase möchten das 43jährige Friedensvieh schon längst zum Platzen bringen. Sie ängstigen deshalb den dummen Michel heute mit diesem, morgen mit jenem Bauernschreck und heißen ihn zur Abwehr immer größere Mengen seiner schwitzend erarbeiteten Profite in die Armee hineinstopfen. Fehlt bloß noch ein geeigneter Anlass – und der Krieg gegen den Erbfeind ist fertig. Aber es hat sich herausgestellt, dass es bei den schauderhaften Formen, in denen sich heutzutage ein europäischer Krieg abspielen würde, nicht mehr ganz so leicht ist, die Volksseele zum Kochen zu bringen. Weder die marokkanischen Diplomatenkünste noch die Bemühungen, die Folgen der Balkanwirren friedlich zu überwinden, haben der Schwerindustrie und ihren Hintermännern genützt, den Massenmord in Szene zu setzen. So ein Krieg muss schon aus den Tiefen des europäischen Volksgemüts selbst heraussprudeln.
In diesem Zeitalter raffiniertester technischer Zivilisation gibt es für den Erfindergeist immer noch keine höheren Aufgaben als die Vervollkommnung der kriegerischen Mordinstrumente. Wessen Gewehre und Kanonen am weitesten schießen, am schnellsten laden, am sichersten treffen, der hat den Kranz. Das Scheußliche und Groteske gehen Hand in Hand durchs zwanzigste Jahrhundert und rufen die Völker auf zur Bewunderung der Weltvollkommenheit.“
Volltext | Erich Mühsam: Das große Morden. In: Kain – Zeitschrift für Menschlichkeit (München, Hg. Erich Mühsam), Jahrgang IV, Nr. 2 (Mitte Mai) 1914, S. 17-24.
Ausgewählt für das Internetportal zu „Pazifisten und Antimilitaristinnen aus jüdischen Familien“ | www.schalom-bibliothek.org
Ein Film von Andrea Isa, die im Sauerland geboren ist
„Für mich ist die Essenz des Strebens nach Frieden der Satz: „Ich spüre deinen Schmerz trotz meines eigenen.“ –, den ich zum ersten Mal bei einer Veranstaltung der Initiative „Jews and Palestinians for Peace“ hörte, und den im Film verschiedene Frauen in verschiedenen Sprachen sagen.“
Das Video beginnt mit dem Klagelied an den Gott des Krieges. Es ist ein Gedicht der En-hedu-anna, Tochter von Sargon von Akkad. Sie bekleidete das Amt der Hohepriesterin des Mondgottes Nanna in der südmesopotamischen Stadt Ur ca. 2300 vor unserer Zeitrechnung und ist die erste namentlich bekannte Autorin der Geschichte.
Der Militarismus ist endgültig rehabilitiert und bläst zum Angriff auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens – eine Relektüre alter Texte könnte dem Widerstand vielleicht dienlich sein
Symbolbild: Universum, Welt und Friedenstaube
Gegen Gewalt von innen und von außen können Gemeinschaften nur auf einem einzigen Wege Widerstandskraft entwickeln: indem sie nämlich ihr soziales Gefüge menschlich, gerecht und kooperativ gestalten, die Kinder – und also auch die „Bildung“ – stark machen, die Bedürftigen nicht allein lassen, den Kranken ohne Ansehen der Person (und des Kontos) ein gutes Gesundheitswesen bereiten, die Werktätigen nicht ausbeuten, den neu Hinzukommenden Unterstützung geben, die Alten nicht „abschreiben“, Wohnungen für Menschen statt für Profite bauen, den öffentlichen Raum mit seinen allen dienenden Einrichtungen pflegen … Ein Blick auf die Sparpolitik zeigt, dass diese einzig rationale, erprobte Politikrichtung wider Gewalt von innen und außen nicht hoch in Kurs steht, vielmehr sabotiert werden soll.
(Ein Gastbeitrag von Peter Bürger)
Stattdessen bereitet die „Politik“ (samt ihrer Sprachrohre) die Menschen bezüglich der genannten Felder auf bittere Zeiten, Schwachmachen, Kürzungen und Entbehrungen vor. Denn sie möchte lieber den erfolgversprechendsten Weg beschreiten, auf dem man Unsicherheit (innere Gewalt) produziert und einen kommenden Weltkrieg wahrscheinlicher macht: sie will eine astronomische Hochrüstungsoffensivehttps://overton-magazin.de/hintergrund/politik/ueberfallartig-wollen-union-und-spd-deutschland-kriegstuechtig-machen/ einleiten, die von keinerlei Hemmung und keiner Grenze mehr gebremst werden kann. Die gesellschaftlichen Vermögen sollen den Totmach-Industrien in den Rachen gespült werden. Akteure, die nicht einmal in der Lage sind zur Gewährleistung eines funktionierenden öffentlichen Verkehrswesens, faseln von Notfallkonzepten für den Fall militärischer Konflikte, den sie selbst nach Ausweis einer konfrontativen Politik aber gar nicht für das Allerschlimmste zu halten scheinen. Die sehr sehr bescheidenen Friedensbudgets in den Haushalten früherer Tage sind ohnehin schon abgewickelt.
Ein neues Eisner-Lesebuch – eingeleitet durch die Darstellung des Weggefährten Felix Fechenbach
Die Titelseite des Kurt Eisner Lesebuchs
(Redaktion der Schalom-Bibliothek | pb)
******************** Kurt Eisner als Revolutionär und Ankläger des deutschen Militarismus. Ein Lesebuch – eingeleitet durch die Darstellung des Weggefährten Felix Fechenbach. Herausgegeben von Peter Bürger, in Kooperation mit dem Lebenshaus Schwäbische Alb. (= edition pace | Pazifisten & Antimilitaristen aus jüdischen Familien | 7). Norderstedt: BoD 2025.
Im Editions-Regal „Pazifisten und Antimilitaristen aus jüdischen Familien“ (www.schalom-bibliothek.org) ist soeben ist der erste von drei Bänden zu Kurt Eisner erschienen (Schwerpunkt Revolutionszeit 1918/19). Wir dokumentieren nachfolgend die:
Ein links-katholischer Kommentar – nicht ohne sauerländischen Heimatsinn
Plakat auf der Briloner „Vielfalt statt Weißwurst“-Kundgebung am 19. Januar 2025. Friedrich Merz rollt der AfD den roten Teppich aus. (foto: zoom)
Das „kölnische Sauerland“, meine Geburtsheimat, hat mich zeitlebens nicht losgelassen; eine ganze Bibliothek habe ich ihm vom rheinischen Exil aus gewidmet. Zur Geschichte gehörte ehedem die Magie einer katholischen Landschaft, ein noch in meiner Kindheit auf Schritt und Tritt mit religiösen Vollzügen durchwirkter Alltag. Von Schönheit und Elend müssen wahrhaftige Chronisten reden. Zur Schattenseite der heute gottlob pulverisierten Kleriker-Herrschaft zählten u.a. abgründige Sexualängste und die z.T. bedrückende Enge des Milieus.
Vom „Gender-Unfug“ wusste man tatsächlich die meiste Zeit nichts. Auch eine erwachsene Frau wurde in der alten Mundart als Neutrum – als Sache – angesprochen („das Maria“, „das Lisabeth“). Der plattdeutsche Sprichwortschatz verkündete: „Weibersterben? Kein Verderben! – Viehverrecken: das bringt Schrecken!“ Die bedeutsamste Mundartlyrikerin schrieb in ihrer Jugend einen hochdeutschen „Roman“ wider die Unterdrückung der Frauen, der aber nur im Ruhrgebiet als Zeitungs-Serie erscheinen konnte …
Leitgedanken eines Impulsvortrags zum „Spirituellen Sommer – Sauerland“ im Saal des Esloher Museums am 1. September 2024
Kinder schützen und gestalten die Welt (Foto: Peter Bürger)
Die Geschichte des Lebens auf dieser wunderbaren Erde umfasst 4 Milliarden Jahre. Seit angenommen 300 Millionen Jahren entwickeln sich die Säugetiere, und vielleicht vor 7 Millionen Jahren gab es bei den Primaten einen Scheideweg, der hin zu unserer Spezies, zum Menschen führt. Seit 300.000 Jahren, so der gegenwärtige Forschungsstand, ist der homo sapiens in seiner heutigen Gestalt auf der Bildfläche sichtbar.
(Ein Gastbeitrag von Peter Bürger)
Eine Aufrüstung hin zu aggressiven, sehr zerstörerischen Großgebilden der Menschenwelt hat unter dem Vorzeichen einer männlich dominierten Zivilisationsentwicklung aber erst vor weniger als zehntausend Jahren eingesetzt (Stadtstaaten als Folgeerscheinung der landwirtschaftlichen Revolution; später die Großreiche mit ihrem „Turmbau zu Babel“: Münze – Macht – Militär). Noch nicht einmal 300 Jahre jung ist schließlich die tiefgreifende Umwälzung (in einem Teil der Menschenwelt) aufgrund einer neuartigen Ausbeutung der in kürzester Zeit verpulverten fossilen Energieträger (Kohle, Öl, Gas) im Industrialismus – mit dramatischen Auswirkungen für den ganzen Lebensraum Erde und alle seine Bewohner, auch für die Tiere.
Der qualitativ und quantitativ völlig neuartige „Industrielle Krieg“ der Moderne mit schließlich Abermillionen Toten in zwei Weltkriegen ist ebenfalls kein ewiges Naturphänomen, sondern gehört erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts zur bedrückenden Last des Menschengeschlechts. Förmlich erst seit gestern (1945) gibt es sodann die Methode der atomaren Massenvernichtung, durch welche die Menschheit – und fast alles Lebendige – erstmalig als Ganzes tötbar geworden ist (Günther Anders).
Zuletzt hat die Revolution der elektronischen Datenverarbeitung (bis hin zur „Künstlichen Intelligenz“) für eine Beschleunigung aller die Erde beeinträchtigenden Prozesse gesorgt – eine Beschleunigung, der niemand mehr mit ruhiger Überlegung folgen und gerecht werden kann. Obwohl (oder weil) der Mensch im Vergleich zu allen anderen Lebewesen mit der größten Großhirnrinde ausgestattet ist, zeigt er sich unfähig, die Kurswende zur Abwendung oder Linderung der Erderhitzung einzuleiten. Ausgerechnet wir befinden uns heute auf jenem winzigen, kaum sichtbaren Punkt einer unermesslich langen Zeitleiste des Lebens auf diesem Planeten, der den Ernstfall markiert.
Im Jahr 2014 ließ Papst Franziskus in seinem nach hochkarätiger wissenschaftlicher Expertise ausgearbeiteten Umwelt-Rundschreiben „Laudato Si“ den Erdkreis wissen, wir seien nunmehr die letzte Generation, die durch Handeln den Nachkommenden unvorstellbare Leiden ersparen könne. Das „Gemeinsame Haus“, die Erde, brauche dringend Austausch und Zusammenarbeit der Einen Menschheit jenseits aller Grenzmauern. – Als ein halbes Jahrzehnt später überall die „Fridays for Future“ auf die Straße gingen, wurde den jungen Leuten eine ganz großartige „ökologische Transformation“ versprochen. Trotz alledem: Die Erde wird jetzt nicht etwa im Sinne des Papstes auf Kooperation hin organisiert, sondern unverdrossen nach Maßgabe eines hochgerüsteten Programms Konkurrenz und Konfrontation. (Die militärische Heilslehre hat auch in den letzten Jahrzehnten nur Traurigkeit produziert und auf diese Weise den Konzernen der Todesindustrie Milliardenprofite beschert. Nahezu auf allen Parteitagen und Medienkanälen wird die Kriegsreligion wieder beworben.)
Doch wir – die Heutigen und alle Kinder und Kindeskinder – haben nur diesen einen Heimatplaneten: „Nach dieser Erde wäre da keine, die eines Menschen Wohnung wär.“ Vor knapp 250 Jahren konnte der Dichter Matthias Claudius (1740-1815) seine Leserschaft noch dazu ermuntern, täglich die Freude am eigenen Menschsein zu besingen: „Ich danke Gott, und freue mich / Wie ’s Kind zur Weihnachtsgabe, / Dass ich bin, bin! Und dass ich dich, / Schön menschlich Antlitz! habe.“ Jeder von uns kennt Menschen, die in sich Güte tragen und schön sind. An die Schönheit der GattungMenschals Ganzes vermag aber heute ein Großteil des Publikums nicht mehr zu glauben. Zu offenkundig ist die Übermacht der zerstörerischen und selbstmörderischen Potenzen unserer Spezies geworden.
Es scheint für viele schon ausgemacht zu sein, dass es dereinst kein „gutes Ende“ geben kann und der Mensch schlussendlich ob seiner Hässlichkeit als der große „Erdzerstörer“ abtreten muss – in Schande: „Leben, dieses Wunder unseres Universums, entstand vor vier Milliarden Jahren. Der Mensch … hat es in ganz kurzen Zeit geschafft, das Gleichgewicht der Natur zu gefährden“ (Yann Arthus-Bertrand: Dokumentarfilm „Home“, 2009). Allen Ernstes überlegen sich aberwitzige Zukunftswissenschaftler schon jetzt, wo der homo sapiens im Universum neu ansiedeln könnte, um dann den nächsten Planeten ins Unglück zu stürzen …
Eine Frömmigkeit, die dieses Drama heute nicht in den Mittelpunkt stellt, betreibt Quacksalberei und überzeugt nicht. Jede wahre Religion ist daran zu erkennen, dass sie die Menschen an allen Orten der Erde zusammenbringt (nicht spaltet), eine Befreiung zur Gewaltfreiheit ermöglicht und angetrieben wird nicht von einem Kult des Todesanbetung, sondern von der Liebe zum Leben und zu allem Lebendigen (Erich Fromm).
So bestünde also der Auftrag der Religionen darin, den Traum von einer Menschwerdung des Menschen – der Einzelnen wie auch der Gattung, im Nahen wie im Großmaßstab – unter die Leute zu bringen. Nur zusammen mit anderen können wir die Parole „Es ist ohnehin zu spät“ verlernen und uns einreihen in eine kulturelle Revolte für das Leben.
Der Wegweiser Jesus aus Galiläa hat vor 2000 Jahren die Leute eingeladen zur Kraft der Gewaltfreiheit, zur Festlichkeit und zu einem Gemeinsam-Gewinnspiel ohne Verlierer. Das war sein Widerspruch zum Römischen Imperium, zur damaligen Besatzungsmacht in Palästina. Heute kann es im Großmaßstab nur gute Aussichten für die Menschen und alle Lebewesen geben durch Frauen und Männer, die bezogen auf den ganzen Erdkreis wissen, wie das geht: ein Gemeinsam-Gewinnspiel ohne Verlierer … Es sitzen über kurz oder lang alle im gleichen Boot, das entweder sinkt oder über Wasser bleibt (Leonardo Boff). Wir müssen uns also heute auf ganzer Linie für eine Ökonomie, Ökologie und Kultur des Friedens entscheiden …
Noch mehr Sündenpredigten und womöglich scharfe Umweltgebote im Erwachsenenkatechismus werden die Welt nicht retten. Ja, die menschliche Zivilisation hat sich auf zerstörerische Weise zum Turm von Babel aufgerüstet. Das geschah jedoch nicht aus bösartiger Überheblichkeit, sondern weil das einzige „denkende Säugetier“ auch kollektiv von Angst getrieben wird (Bedeutungslosigkeit, Hunger, Ohnmacht, Verwundbarkeit, Sterblichkeit). Überlebensfähig wäre am Ende aber nur eine Zivilisation von Geliebten, die sich auf Erfahrungen eines rein geschenkten – nicht gekauften – Lebens gründet. Es geht also nicht um „Moral“, sondern um Überwindung der Angst, um ein anderes, schöneres Leben.
Dem Papst liegt es in seiner Umweltenzyklika daran, die Lage auf dem Heimatplaneten klar zu sehen, ohne in starre Trauer zu verfallen. Allein dafür brauchen wir schon Trost und Kräftigung – im Bild der Bibel: die Fähigkeit, Giftschlangen anfassen zu können, ohne selbst vergiftet zu werden. Der oben angerissene Ernstfall der Zivilisation gehört auch deshalb in die Liturgie. Nichts wäre dringlicher in der „Kirchenreform“ als eine Messe für das Leben im dritten Jahrtausend.
Die abschließende Bitte des „Vaterunsers“ soll uns davor bewahren, in ein dunkles Gefühl der Vergeblichkeit zu fallen. Neue Prozessionen könnten uns in Bewegung setzten, um endlich „die nötigen Schritte zu tun“ als Menschen, die die Erde, das Wunder der Geburt und alle Wesen lieben. Wer sonst, wenn nicht die Frommen, sollte der Welt zeigen, dass auch solch ein politisch-wirtschaftliches Handeln möglich ist, bei dem wir über den eigenen Sargdeckel hinaus zu denken vermögen. Die Erde ist – samt all der Gaben auf dem Altar der Erde – ja nicht unser Besitz, sondern Heimat auch für die nach uns Geborenen – und alle Lebewesen.
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