
Rechte Israel-Verbündete, deutsche Staatsdoktrin, Theologenpolizei und Liebhaber der jüdischen Religion geben höchst unterschiedliche Antworten. – Persönliche Vorbemerkungen zum Aufbau einer Schalom-Bibliothek, die Pazifisten und Antimilitaristinnen aus jüdischen Familien wieder sichtbarer machen soll.
(Ein Gastbeitrag von Peter Bürger)
In der römisch-katholischen Karfreitags-Liturgie gab es vor dem letzten Konzil (1962-1965) eine Fürbitte „Pro Judaeis“. Die Sache (https://www.friedensbilder.de/projudaeis/buerger-pro-judaeis2009.pdf) war aber mitnichten „projüdisch“, sondern nur eine weitere Gelegenheit, „die Juden“ als „treulos“ und „verblendet“ auf der Bühne vorzuführen. Die ehrende Verbeugung bei den Fürbitten für alle anderen Mitglieder der menschlichen Familie unterblieb einzig an dieser Stelle.
Auch heute ist nicht alles, wo „pro Juden“ draufsteht, wirklich „projüdisch“. Extrem rechte Politiker (https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190343.rechte-allianzen-rechtsextreme-die-israel-lieben.html) aus aller Welt und Fundamentalisten aus sogenannten „Christentümern“ erweisen der gegenwärtigen Regierung in Israel die Ehre. Gott bewahre uns vor dem Irrglauben, dass das, was diese Leute vertreten und loben, in irgendeiner Weise mit der Botschaft des Judentums zu tun hat! Evangelikale Komplexe aus den USA und anderen Ländern haben die Verbundenheit mit dem Staat Israel gleichsam in ihren Katechismus hineingeschrieben; aber sie verschweigen, was ihrer Lehre zufolge dereinst beim Jüngsten Gericht mit jenen Juden geschehen soll, die sich auch angesichts des Weltuntergangs nicht zum „wahren Christus“ bekennen. (Vorgesehen ist ein großes Abschlachten.)
In deutschen Landen
Zweifellos gibt es seit dem Terror-Pogrom vom 7. Oktober 2023 unter Hamas-Führung (mit über 1200 jüdischen Mordopfern) und den nachfolgenden militärischen Massenmorden an palästinensischen Menschen in Verantwortung der israelischen Regierung eine Zunahme von Judenfeindlichkeit. Doch eine namentlich in Deutschland verfolgte Programmatik (und Praxis) wider das Phänomen des „israelbezogenen Antisemitismus“, die sich als Ausdruck einer projüdischen Staatsdoktrin versteht, kann von nonkonformistischen jüdischen Gruppen (https://www.juedische-stimme.de/jüdische-organisationen-weltweit-verurteilen-die-bundestagsresolution-zu-antisemitismus) in einer Reihe von Ländern auch als letztlich „antisemitisch“ interpretiert werden.
Ob die diesbezügliche Stellungnahme in allen Teilen überzeugt, sei dahingestellt. Ganz sicher aber ist es antisemitisch, wenn falsche „Freunde Israels“ uns suggerieren wollen, es sei vereinbar mit den jüdischen Überlieferungen, Kriegsverbrechen mit Kriegsverbrechen, Massenmorde mit noch viel mehr Massenmorden zu rächen.
„Judentum“, „jüdische Menschen“ und „projüdische Proklamationen“ können gerade in deutschen Landen leicht zu Fetischen werden, die für politische Interessen und zur moralischen Selbstüberhöhung instrumentalisiert werden, aber immer weniger mit leibhaftigen Lebenswirklichkeiten zu tun haben. Dieser diffuse Komplex kennt weder menschliche Wärme noch geistige Verbundenheit; er ist gruselig.
Nicht nur peinlich wirkte es, als z.B. schon vor Jahren ein Weltkriegsfilm über den militärischen Menschenjäger und Fliegerhelden Manfred Freiherr von Richthofen (Der Rote Baron, Deutschland 2008) auf dem Flugzeug eines „deutsch-jüdischen“ Luftwaffenpiloten im Jahre 1917 den Davidstern zeigte. Die Tragik der „jüdischen Kriegsdienstleistungen“ im Deutschen Kaiserreich wird hier weggewischt (bzw. verhöhnt) zugunsten einer aberwitzigen nationalen Geschichtspolitik auf dem Kultursektor. Es geht nicht um Juden, es geht um Deutschland.
Dieses Deutschland schickt sich dieser Tage an, auch auf dem Wege von Grundgesetzänderungen und „innovativen“ Verfassungsinterpretationen wieder militärische Groß- und Führungsmacht zu werden. Dazu ist die Weltmeisterschaft bei der Aufarbeitung der eigenen historischen Abgründe unerlässlich. Falls es vor allem darum geht bei der vermeintlich proisraelischen ‚Staatsraison‘, sollten wir weinen.
Die beanspruchte Weltmeisterschaft der Deutschen beim Geschichtsgedenken ist ohnehin zum Großteil Fiktion. Mit der Ermordung von über zwanzig Millionen Menschen hat die deutsche Wehrmacht beim 1941 begonnenen Rasse- und Vernichtungskrieg gegen die Völker der Sowjetunion den bislang größten Genozid der gesamten Menschheitsgeschichte ins Werk gesetzt (bezogen auf die Quantitäten eines Zeitraums von weniger als vier Jahren). Allein in Leningrad wurden über eine Millionen Bewohner vom deutschen Militär vorsätzlich durch Aushungerung umgebracht. Doch deutsch-amtlich spricht man auch nach über 80 Jahren nicht davon, dass die gigantischen Kriegsverbrechen im sog. Ostfeldzug dem antislawischen Rassenwahn der NS-Wehrmacht entsprachen und selbstredend im Klartext als Völkermord zu benennen sind.
Vorab: Wir können der Welt nicht gerecht werden …
Die Shoa ist ein anderer, wirklich einzigartiger Sonderfall der Weltgeschichte. Bis zum Ende aller Tage kann kein Einzelner und kann auch keine Weltgemeinschaft diesem Abgrund „gerecht“ werden. Gesten sind möglich … etwa, dass eine Dorfbewohnerin mit Sorgfalt einen von sechs Millionen Leidenswegen nachzeichnet. Das Leidensgedächtnis wird sich aber hier – wie sonst überall – nach Generationen verändern. Wir sind eben bedürftige Menschlein, keine Götter, und können also unseren Mitmenschen, den Massengräbern der Geschichte, dem Tagesgeschehen und dieser ganzen, von Widersprüchen durchzogenen Welt nie wirklich gerecht werden. Den frommen Wunsch, nicht gleichgültig zu werden …, ein Lied, eine Umarmung, etwas in dieser Art können wir einbringen …
Mein eigenes Ungenügen – bezogen auf Vergangenheit und Gegenwart – sei offen bekannt. Was geschieht im „Heiligen Land“? Ich versuche gegenwärtig, der Tagespresse, einem regelmäßigen Informationsdienst (Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern e.V.) oder den Filmdokumentationen auf dem deutsch-französischen Sender „Arte“ wenigstens teilweise zu folgen. Das ist selbstredend zu wenig. Ich würde nie behaupten, hinreichend informiert zu sein über die Hamas-Massenmorde vom 7. Oktober 2023 oder die bedrückende Lage der Menschen in Gaza und im Westjordanland, über die neuartigen Anfeindungen von jüdischen Studierenden oder andererseits die Repressionserfahrungen von Migranten u.a., die sich propalästinensisch engagieren …
Natürlich bin auch ich voreingenommen bei Lektüre und selbstgewählten „Autoritäten“. Besonders schaue ich – wie nicht wenige andere aus meiner Generation – auf Frauen und Männer aus jüdischen Familien, deren Persönlichkeit, Intellektualität, Ethik und Menschlichkeit mich anspricht. Da kritische Betrachtungen zur israelischen Staatspolitik auf diese Weise nie zu kurz kommen, mögen die palästinensischen Menschengeschwister mir solche Einseitigkeit nachsehen.
Wo sich Gelegenheiten ergeben, suche ich ein besseres Verstehen in persönlichen Begegnungen. Die sozialistischen Studierenden in Düsseldorf engagieren sich im Sinne der Palästina-Solidarität. In Gesprächen mit SDS-Mitgliedern habe ich nie den Eindruck bekommen, es könne dabei auch nur entfernt so etwas wie Antisemitismus im Spiel sein.
Die Studierenden sprechen nach anfänglicher Zurückhaltung seit einiger Zeit aber von einem „Genozid in Gaza“. Ich persönlich finde es hingegen angesagt, aufgrund der deutschen Geschichte hierzulande eine solche (nicht mehr konjunktivische) Feststellung dem abschließenden Urteil der internationalen Rechtsprechung zu überlassen. Militärische Massenmorde und andere Kriegsverbrechen lassen sich einstweilen auch ohne das ultimative Reizwort zur Sprache bringen. – Aber ich kann den Jungen in dieser Sache kein unfehlbares Dogma verkünden und auch keine letzte Gewissheit darüber erlangen, ob meine Vorbehalte nicht ebenso die Gefahr des Schuldigwerdens bergen wie ein zu forsches Urteilen.
Religion oder Rassenlehre?
Wir kommen zurück zum Ausgangspunkt: „Was ist projüdisch?“ Verwirrende Widersprüche treten schon bei der Frage zutage, was denn überhaupt „jüdisch“ bedeutet. Über Jahrtausende galt es als unstrittig, dass das Judentum eine Religion ist (man kann zu ihr durchaus konvertieren, man kann von ihr – trotz jüdischer Mutter – auch abfallen). Die Antisemiten, die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend die Definitionshoheit im öffentlichen Raum erlangen konnten, wollten das Judentum hingegen als sogenannte „Rasse“ dingfest machen.
Viele säkulare – nicht oder anders religiöse – Nachfahren von Juden verzichteten, wenn sie die Solidarität mit ihrer bedrängten Herkunftsgemeinschaft zum Ausdruck bringen wollten, aus sehr ehrenwerten Motiven auf einen Austritt aus der Synagogengemeinschaft. Aber den deutschen Faschisten war es ganz gleich, ob die sechs Millionen Opfer, die sie ermordet haben, der jüdischen Religion, einer anderen oder gar keiner anhingen. Sie imaginierten sich ein „Juden-Gen“ und fahndeten nach biologischen Stammbäumen.
Durch die Pogrome bis zum frühen 20. Jahrhundert und vollends durch die Shoa ist eine neue Lage eingetreten. Wer von den Überlebenden, den Kindern und Kindeskindern wollte, auch wenn er sich nicht mehr mit der religiösen Überlieferung der Voreltern identifizierte, jetzt eine Zugehörigkeit zum „Judentum“ leugnen und dadurch gleichsam die soziale Gemeinschaft des Leidensgedächtnisses (oder Kampfgedächtnisses) aufkündigen?
Die enge religiöse Definition geht also nicht mehr an. Dem Selbstverstehen und Selbstbezeichnen von leibhaftigen Menschen kommt ein Vorrang zu. Es bleiben somit Widersprüche, zumal im Staat Israel (z.B. wenn völlig säkulare Leute, die mit Religion nichts am Hut haben, bei wichtigen Angelegenheiten zwingend einen Rabbiner aufsuchen müssen). Die Widersprüche lassen sich auch auf tausend Druckseiten nicht logisch auflösen – was an sich kein Drama sein müsste.
Ich für meine Person kann nun aber aus religiösen, politischen und wissenschaftlichen Gründen einer behaupteten Bedeutsamkeit von (angeblich) kollektiven genetischen Eigenschaften sowie schon dem Terminus „Rasse“ rein gar nichts abgewinnen! Vor vielen Jahren hat mich die Lektüre eines Buches „Die Juden als Rasse“ (1967) der jüdischen Schriftstellerin Salcia Landmann entsetzt, weil hier – wie in einer etwa zeitgleichen, staatlich geförderten Publikation für Westfalen-Lippe – auch zwei Jahrzehnte nach Niederwerfung des deutschen Faschismus noch Anschluss an die „Rassenforschung“ einer unheilvollen Epoche gesucht wurde. Erst viel später musste ich über zwei Werke des Historikers Shlomo Sand desillusioniert zur Kenntnis nehmen, dass Literatur über Rasse und Gene – als anthropologische Wissenschaft angepriesen – in Israel keineswegs nur als ein sehr seltenes Außenseiterphänomen aufgetaucht ist.
Die Schriftsteller der Hebräischen Bibel lassen Ismael gleichermaßen den erstgeborenen (!) Sohn des Patriarchen Abraham und den Stammvater der Araber sein. Wenn es irgendwie um Gene gehen soll, kann es nur eine „Pro-Einstellung“ geben: Pro Mensch.
„DAS Judentum“, „DAS Christentum“ oder „DER Islam“ …?
Als Christ indessen nehme ich in religiöser Hinsicht einen besonderen „projüdischen Standort“ ein. Schon mit sechs Jahren habe ich als Kind den Auszug aus Ägypten im Bewusstsein gemalt, dass hier „unsere Leute“ dem Sklavenhaus entkommen. (Das Bild gibt es noch.) Wo auch immer auf dem Globus dieser Befreiungsmythos in der Geschichte Menschen oder Gruppen zur Freiheit angestiftet hat, finde ich einen vertrauten Anlass zur Freude.
Aber mit der Religion können wir genau so in die Irre gehen wie mit den Genen. Denn es gibt nicht „DAS Judentum“, „DAS Christentum“ oder „DEN Islam“. Kein Jude, Christ oder Muslim kann in seiner begrenzten Lebenszeit die ganze Vielfalt der Überlieferungen und Gestalten seiner eigenen Religionsrichtung kennenlernen, geschweige denn die aller anderen. Den meisten Menschen aus den genannten Bekenntnissen, die religionsgeschichtlich zusammen eine enge Familie bilden, leiden auch nicht an diesem Unvermögen, denn sie sehen sich einfach berufen, gute Menschen zu werden und andere zu achten. Mit den gleichen heiligen Urkunden kann man aber auch ganz andere Judentümer, Christentümer oder Koranreligionen veranstalten, die der Macht über andere und der Kaltstellung von Mitmenschen das Wort reden.
Was ich sagen will: Mit der Nennung von Judentum, Christentum oder Islam kann man jeweils die schärfsten Gegensätze – unter gleichem Namen – bezeichnen. (Ein beträchtlicher Teil der real existierenden „Christentümer“ befördert Hass, Gewalt und Waffenkulte; ich könnte als Christ mein ganzes Leben damit vertun, mich davon abzugrenzen.) Anderseits erfahren religiöse Menschen in Begegnungen mit Angehörigen anderer Bekenntnisse oder völlig nichtreligiösen Menschen (Atheisten …) oft mehr innere Gemeinsamkeit im Wesentlichen als bei jenen, die den gleichen Religionseintrag wie sie selbst im Stammblatt aufweisen.
Die Hebräische Bibel ist nun kein Buch aus einem Guss, das etwa eine einheitliche, widerspruchsfreie Dogmatik vermittelt, sondern sehr ‚pluralistisch‘: eine Bibliothek aus vielen unterschiedlichen Büchern von höchst unterschiedlichen Autoren bzw. Redakteuren aus unterschiedlichsten Zeiten. Wir finden hier etwa Schlüsseltexte einer radikalen Kritik der Herrschaft von Menschen über Menschen (1. Samuel 8) und der zivilisatorischen Gewaltkomplexe. Und gleichermaßen sind – literarisch, nicht als historische Praxis – archaische Grausamkeiten (Kriegsverbrechen) im Namen einer vermeintlich höchsten Macht eingeschmuggelt worden – offenbar wider Verbot zumeist bei den „heidnischen Nachbarn“ abgekupfert und von Hoftheologen viele Jahrhunderte zurückprojiziert in eine angenommene Zeit der Landnahme.
Oder wir gehen zu den Büchern der Propheten, in denen im ersten Jahrtausend vor der christlichen Zeitrechnung um jenes Experimentierfeld der „Erwählung“ gerungen wird, auf dem man lernen kann, wie Menschen allüberall auf dieser Erde dem Lebensförderlichen (Erich Fromm: Biophilie) – und nicht dem Totmachen – sich widmen.
Wer soll oder darf als „projüdisch“ gelten?
Das Gefilde der Religion ist also alles andere als eindeutig und widerspruchsfrei. Ohne eine Bereitschaft zu Begegnungen, zum Zuhören und zu Auseinandersetzungen wird es keine Verständigung geben. Doch nun kommt, zumal in Deutschland, vielleicht die Theologenpolizei – und daneben womöglich auch ein staatlich zertifizierter Gesinnungs-TÜV:
Im letzten Jahr hat mir ein bekannter Theologe erzählt, wie ihm vor seinem Referat an einer kirchlichen Akademie gleichsam eine Liste von Normen vorgetragen worden ist, die er bei Ausführungen zum Judentum zu beachten hätte. Ich hoffe sehr, dass solches nicht Schule macht. Denn mit einem vorgegebenen Sprach-, Formel- und Meinungskodex kann man die Möglichkeit lebendiger Begegnung und eines geistigen Dialoges nur abwürgen. Beschämt werden alle Beteiligten, weil man ihnen – außer der freundlichen Gesinnung im Herzen – die Befähigung zum freiheitlichen Denken und zum guten Streit unter dem Vorzeichen des gegenseitigen Wohlwollens abspricht.
Wo „muss“ ein christlicher Theologe denn stehen? Im letzten Jahrhundert hat die protestantische Landeskirche im Rheinland ein Synodenpapier verabschiedet, in welchem die Gründung des Staates Israel gleichsam als Ergebnis göttlicher Vorsehung dargestellt wird. Ich erkenne – eingedenk der braunen Kirchenzeiten – die gute Absicht. Indessen lasse ich persönlich (ganz unabhängig vom Blick auf Israel) mir von niemandem das Bekenntnis zu einem „Gott“ vorschreiben, der höchstpersönlich die Gründung und Förderung von staatlichen Machtgebilden betreibt. Eine Theo-Logik, die – wie die hegemonialen Komplexe des sog. Abendlandes – solchen Fährten folgt, kann nach meinem Dafürhalten nämlich nur mit einem Monster in die Irre gehen, welches schlussendlich für alle Abgründe der menschlichen Geschichte haftbar zu machen wäre.
Desgleichen verspüre ich keine Neigung, solche „Normen“ für theologische oder politische Standortbestimmungen entgegenzunehmen, die es z.B. Antimilitaristen, Pazifisten oder Anarchistinnen von vornherein unmöglich machen, je als „pro-jüdisch“ zu gelten. Wo stehen die „Guten“, wo stehen die „Bösen“?
Viele „Antideutsche“ mochten die nichtzionistischen Orthodoxen mit Schläfenlocken überhaupt nicht, weil diese religiösen Juden die Uniform der von „Antideutschen“ geschätzten israelischen Armee meiden. Waren oder sind die „Antideutschen“ also Antisemiten? – Ich selbst empfinde beim Anblick der gleichen Orthodoxen oft zärtliche Gefühle, weil sie das Unaussprechliche für das Wichtigste im Leben halten, lieber den heiligen Schriften nachgehen als dem unheilvollen Waffenhandwerk – und außerdem (vielleicht ähnlich wie meine katholisch-fundamentalistischen Vorfahren: strikte Nazigegner, aber voller Sündenangst) mit den Widrigkeiten einer zu gestrengen Frömmigkeit zu kämpfen haben. Stelle ich durch solche Sympathie für die ‚Ewiggestrigen‘ unter Beweis, dass ich nicht solidarisch bin mit den Menschengeschwistern in Israel?
Eine Schalom-Bibliothek entsteht …
Im Übrigen: Natürlich „muss“ kein Mensch im religiösen Sinn pro-jüdisch oder überhaupt religiös sein, um etwa als „guter Mensch“ zu gelten. Doch überzeugende Christenmenschen, die nicht „pro-jüdisch“ denken und fühlen, sind aus meiner Sicht schwer vorstellbar. Vor zweitausend Jahren tötete die römische Besatzungsmacht im heiligen Land einen Leute-Rabbi aus Galiläa. Er hatte dem auf „Münze, Macht und Militär“ fußenden Imperium Roms nicht mit Dolchen, sondern mit unblutigen Strategien der Entfeindung und zivilem Ungehorsam Widerstand geleistet. Seine Botschaft der Gewalt- und Herrschaftsfreiheit (https://www.lebenshaus-alb.de/magazin/media/pdf/Spiegel_Gewaltverzicht.pdf) war mitnichten ein Bruch mit der Hebräischen Bibel, sondern wurzelte tief in Überlieferungen der jüdischen Religion.
Dieser Jude aus Nazareth eröffnete vor zweitausend Jahren – wie vor ihm auch schon u.a. das chinesische Tao-Buch, der Buddha und eben die Propheten Israels – Auswege aus einer Zivilisation der Gewalt und Selbstzerstörung. Doch die Anbeter der Macht wollen immer noch nicht zuhören, obwohl es wirklich „spät“ geworden ist auf dem Planeten.
Heute erhalten jüdische Friedensbotschafterinnen und Kriegskritiker (https://overton-magazin.de/top-story/in-nicht-nur-eigener-sache/) in Deutschland immer häufiger einen „Maulkorb“ verpasst, während Waffenlieferungen an die rechtsextreme israelische Regierung als „Moral aus der Geschichte“ verkauft und neumodische nationalreligiöse Ideologien mit „dem Judentum“ verwechselt werden. Die Ausladungen (https://overton-magazin.de/krass-konkret/omri-boehms-ausladung/) und „Redeverbote“ sind nicht zuletzt Ausdruck einer weithin ausgeblendeten Sonderform von Antisemitismus (s.u.), über die an sich ein reichhaltiges historisches Quellenmaterial Auskunft geben könnte. Gleichzeitig bleiben jene jüdischen Traditionslinien, die – auch noch bei vielen nicht mehr religiösen Nachkommen – bis heute dem Frieden des ganzen Erdkreises zugewandt sind, weithin unsichtbar.
Ein Editionsprojekt „Schalom-Bibliothek“ (https://schalom-bibliothek.org) zu Pazifisten und Antimilitaristinnen aus jüdischen Familien (https://schalom-bibliothek.org/namen/) soll diesen Gedächtnisverlusten mit Aufklärung entgegenwirken. Von Zeit zu Zeit möchte ich im Overton-Magazin über neue Quellenfunde (https://schalom-bibliothek.org/lesesaal/) , Forschungen und Veröffentlichungen (https://schalom-bibliothek.org/digitalbibliothek/) berichten. Aktuell wird das Portal mit folgender Kurzbeschreibung (https://schalom-bibliothek.org/ueber-das-projekt/) vorgestellt:
„Zwei Jahrtausende lang hat das rabbinische Judentum die Friedensbotschaft der Hebräischen Bibel und der Propheten Israels mit Blick auf die Eine Menschheit erschlossen: ‚Schwerter zu Pflugscharen!‘ Seit der Aufklärung sind Frauen und Männer aus jüdischen Familien – ‚Säkulare‘, Orthodoxe sowie Angehörige von Reformsynagogen – vor allem aufgrund der überlieferten Absage an die Gewaltgottheiten als herausragende Fürsprecherinnen / Fürsprecher des ‚Ewigen Friedens‘ (Kant) hervorgetreten. Ohne ihre Beiträge hätte es im späten 19. Jahrhundert – namentlich im deutschsprachigen Raum – auf Schritt und Tritt an Geburtshilfe für die organisierte Friedensbewegung, den Völkerrechtsgedanken und die Menschenrechts-Arbeit gefehlt. Auch ein bedeutsamer Strom des kulturell–religiösen Zionismus betrachtete das Friedenswirken als Kernauftrag des Judentums.
Die noch im Aufbau befindliche Schalom-Bibliothek soll diesen Reichtum an geistiger Kraft und Schönheit vermitteln, aber auch eine in den Gegenwartsdebatten fast immer ausgeblendete Spielart von ‚Antisemitismus‘ in Erinnerung rufen: die antipazifistische Judenfeindschaft.“
Das vom Verfasser des Beitrags betreute Portal: Schalom-Bibliothek (https://schalom-bibliothek.org) – Pazifisten und Antimilitaristinnen aus jüdischen Familien
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