Possenspiel um Lorenz Jaeger
Wie in Paderborn die kirchliche Beihilfe für den Vernichtungskrieg „aufgearbeitet“ wird

„Herr, dir ist nichts verborgen. Du schaust mein Wesen ganz.
Das Gestern, Heut und Morgen wird hell in deinem Glanz.
Du kennst mich bis zum Grund; ob ich mag ruhn, ob gehen,
ob sitzen oder stehen, es ist dir alles kund.“
Maria Luise Thurmair (1971), nach Psalm 139

(Gastbeitrag Peter Bürger, siehe auch hier im Blog: Kontroverse um Lorenz Jaeger erst am Anfang)

In den Jahren 1941-1944 ist der vormalige Wehrmachtsseelsorger und spätere Kardinal Lorenz Jaeger (1892-1975) als Erzbischof von Paderborn mit glühenden Kriegsvoten hervorgetreten. Im Jahr 2015 beantragte deshalb die Fraktion Demokratische Initiative Paderborn (DIP) im Rat der Bischofsstadt, den Namen des Kardinals aus der Liste der Ehrenbürger zu streichen. Auf Wunsch des damals schon schwerkranken Linkskatholiken Prof. Arno Klönne († 4. Juni 2015) übernahm ich die theologische Beratung der DIP, gestützt in erster Linie auf die bis heute maßgebliche Studie „Hirten unter Hitler“ (1999) von Wolfgang Stüken. Kommunalpolitisch war der Initiative für eine neues Geschichtsgedächtnis im öffentlichen Raum zunächst kein Erfolg beschieden. Doch der Paderborner Erzbischof Hans-Josef Becker kündigte plötzlich eine wissenschaftliche Erforschung der Amtszeit Jaegers an.

Mein Lob für diese Antwort der vermutlich reichsten Diözese des Erdkreises war verfrüht (bzw. naiv). Prof. Nicole Priesching (Universität Paderborn) übernahm die Leitung eines umfangreichen Forschungsprojekts, doch ausgerechnet das Teilgebiet der NS-Jahre wurde durch einen Auftrag an die gleichsam bischofseigene Theologische Fakultät ausgelagert. Das Ergebnis liegt seit diesem Jahr vor.[1] Wissenschaftler, die einem pazifistischen Ansatz folgen oder in der kritischen Katholizismus-Forschung hervorgetreten sind, wurden nicht beteiligt. Ein 13 Monate zuvor erschienener aktueller Jaeger-Beitrag[2] aus meiner Werkstatt bleibt ganz unberücksichtigt. Gleichwohl lässt mich der Herausgeber, der offenbar keinerlei Verantwortung für die Konzeption des Werkes übernehmen möchte, in einem Brief vom 18.08.2020 wissen: „Ihren Thesen zu L. Jaeger wird [in unserer Studie] vehement widersprochen; nach Aussagen der Historiker sind sie wissenschaftlich nicht haltbar.“ Das Online-Portal katholisch.de meldet dann zur Bistumsstudie sinnig. „Kardinal Jaeger war weder Nazi noch Widerstandskämpfer.“ Die Münsterische Kirchenzeitung ergänzt: „Die Forderungen [der beteiligten Professoren] richten sich vor allem an den Publizisten Wolfgang Stüken […] und den Theologen Peter Bürger.“

Mit Wolfgang Stüken oder mir hat trotz dieser „hohen Ehre“ kein kircheneigenes Medium gesprochen. Um das neue Bistumsbuch richtig würdigen zu können, müsste die lange Liste der unbequemen Sachverhalte und Bischofsworte, die in ihm auf 466 Seiten ganz ausgespart bleiben, zur Kenntnis genommen werden. Die apologetische Strategie ist offenkundig: Den Kritikern wird unterstellt, sie betrachteten Lorenz Jaeger als einen nationalsozialistischen, braunen Bischof. Diese These, die allerdings niemand vorgetragen hat, lässt sich relativ leicht entkräftigen. Hernach braucht sich keiner mehr eingehend mit den nationalistischen und militaristischen „Hirtenworten“ zu beschäftigen.

Selbst im kritischsten Beitrag der ganzen Bistumsstudie wird der Leserschaft suggeriert, vom rassenideologischen Ansatz des NS-„Antibolschewismus“ sei die „katholische“ Position zweifelsfrei zu unterscheiden gewesen.[3] Dies ist mit einem Riesenfundus an Quellen, darunter das berüchtigte Gröber-Handbuch (Eintrag „Bolschewismus“), in keiner Weise zusammenzureimen. Jaeger selbst bediente sich antisemitischer Vorlagen, als er im Februar 1942 predigte: „Ist jenes arme unglückliche Land nicht der Tummelplatz von Menschen, die durch ihre Gottfeindlichkeit und durch ihren Christushass fast zu Tieren entartet sind? Erleben unsere Soldaten dort nicht ein Elend und ein Unglück sondergleichen? Und warum? Weil man die Ordnung des menschlichen Lebens dort nicht auf Christus, sondern auf Judas aufgebaut hat.“

Für mehr als 20 Millionen zivile Sowjetbürger*innen (darunter fast drei Millionen Juden, zigtausende Sinti und Roma) sowie zahllose sowjetische Kriegsgefangene, ermordet durch deutsche Waffenträger beim Feldzug gen „Osten“, und alle Opfer der von Adolf Hitler befehligten Militärmaschinerie war es nicht von Belang, welcher Konfession die christlichen Assistenten des NS-Vernichtungskrieges auf der Kirchenleitungsebene, in Redaktionsstuben, auf Lehrstühlen oder in den Truppen angehörten, ob sie Nationalsozialisten, Deutschnationale (oder/und) Deutschchristen, Bekennende Lutheraner oder Reformierte, Orthodoxe, Katholiken, Ultramontane, Modernisten oder was auch immer waren. An den massenmörderischen Ergebnissen der Kriegsbeihilfe änderte sich durch die unterschiedlichen ‚konfessionellen Neigungen‘ der Mitwirkenden nämlich rein gar nichts. Gerade wenn wir uns nur auf das Feld der kriegsrechtfertigenden und kriegsertüchtigenden Bischofspredigt konzentrieren, bleibt es – mitnichten nur aus pazifistischer Perspektive – unvermeidbar, Lorenz Jaeger eine „Stufe der Kollaboration“ im 3. Reich zu bescheinigen.

Die neue Jaeger-Studie des Erzbistums Paderborn – finanziert durch die Beiträge aller Getauften – ist auf Bistumskosten sogleich auch kostenfrei an alle (800) Kleriker der Diözese versandt worden. Mit großer Leidenschaft versucht Prof. Dr. Joachim Kuropka in dem Auftragswerk, alle kritischen Arbeiten als unwissenschaftlich abzutun und hierbei der Leserschaft u.a. Veröffentlichungen vorzuenthalten, die z.B. auch bei der Nationalbibliothek oder durch Internetrecherche leicht zu ermitteln sind. Wie er sich an den erschütternden Erkenntnissen aus Wolfgang Stükens Standardwerk von 1999 abarbeitet, wirkt auf mich persönlich wie eine schlechte Komödie.

Ein Beispiel sei genannt: 1943 geht es auf der letzten Fuldaer Bischofskonferenz darum, im Sinne des Ordensausschusses und Konrad v. Preysings Solidarität mit jenen zu bezeugen, die mit uns „nicht eines Blutes“ sind. Lorenz Jaeger aber predigt stattdessen vor Tausenden im Fuldaer Dom, die deutschen Bischöfe seien mit ihren deutschen Schwestern und Brüder durch ein gemeinsames Band des Blutes verbunden (sowie: „Deutschland muss leben, auch wenn wir sterben müssen!“). J. Kuropka will diese Passage mit dem terminus technicus für „Arier“ entkräften, indem er aus einer 2 Jahre zurückliegenden Kinderkatechese (!) des Bischofs die Aufforderung zitiert, alle Menschen zu lieben. Sein Fazit zu Jaegers Amtsführung während des Vernichtungskrieges lautet allen Ernstes: „Zusammengefasst: Er hat es gut gemacht.“ (Seite 326)

Schon im Fall der militaristisch-nationalistischen Kriegsvoten des Münsterischen Bischofs Graf von Galen hat J. Kuropka sein apologetisches Verfahren angewandt und u.a. am 7. Oktober 2005 in einem Interview „Seelsorger und Patriot“ mit der Wochenzeitung „Junge Freiheit“, dem Sprachrohr der neuen Rechten, zum Besten gegeben. Es gibt keine explosive Originalquelle, die dieser Zauberer aus Vechta nicht entschärfen könnte. Er gehört übrigens wie ehedem Lorenz Jaeger dem Ritterorden vom Heiligen Grab, der nach dem 2. Weltkrieg – in enger Tuchfühlung mit Gleichgesinnten aus Franco-Spanien – eine demokratiefeindliche „Abendland-Ideologie“ propagierte.

Einen seiner Gipfelpunkte erreicht dieser katholische Historiker, wenn er neben W. Stüken und dem Krankenpfleger theol. P. Bürger den von Lorenz Jaeger zum Priester geweihten und zuletzt vom Bistum Essen gewürdigten Theologieprofessor Heinrich Missalla (1926-2018) verunglimpft (Wortlaut: „… die bekannten Kirchenkritiker Missalla und natürlich der ‚Spiegel‘“; „Stüken kann mit seiner Arbeit in die Reihe einer bestimmten Spezies von Kirchenkritikern wie Denzler, Missalla, Mynarek und Deschner eingeordnet werden“). H. Missalla besuchte nach seiner Zeit als jugendlicher Soldat das von Franz Stock geleitete „Stacheldrahtseminar“ in Chartres, war ein Pionier der katholischen pax christi-Bewe­gung und hat als Theologe schon seit den 1960er Jahren das Feld „Kirche und Weltkrieg“ erforscht. Bezeichnenderweise wird kein einziges seiner wegweisenden Bücher[4] zu diesem Thema im Literaturverzeichnis der neuen Bistumspublikation aufgeführt.

In einem empfehlenswerten Reclam-Band „Die Wehrmacht“ (2019) der Bundeswehr-Historiker Michael Epkenhans und John Zimmermann kann heute jeder „Laie“ den Schauplatz kennenlernen, auf dem die deutschen Hirten einen Kampf ihrer Gläubigen bis zum letzten Tropfen Blut wünschten. Im Sinne eines Offenen Briefes[5], den Heinrich Missalla kurz vor seinem Tod verfasste, hat die Bischofskonferenz in diesem Jahr endlich ein Schuldbekenntnis zur Kriegsbeihilfe der deutschen Bischöfe ab 1939 vorgelegt.[6] In eklatantem Gegensatz zu den Erläuterungen des Vorsitzenden der Bischofskonferenz verfolgt die Auftragsstudie des Erzbistums Paderborn jetzt auf den allermeisten Seiten noch das Kirchenverteidigungs-Muster des letzten Jahrhunderts.[7] Was versprechen sich die Verantwortlichen an der Pader von solchem Anachronismus?

Wolfgang Stueken ist infolge der kirchensteuerfinanzierten Jaeger-Apologie vor einigen Wochen aus der „Körperschaft Kirche“ ausgetreten. Magdalene Bußmann hat u.a. wegen der Passagen zu ihrem verstorbenen Ehemann Heinrich Missalla einen von vielen Christen namentlich unterstützten Brief an den Erzbischof von Paderborn geschrieben und als Antwort ein wirklich nichtssagendes Schreiben des Buch-Herausgebers erhalten.

Die Blindheit und Schwerhörigkeit der Paderborner Apologeten sind frappierend. Mit riesigem Aufwand hat man den Nachlass gesichtet und auch eine Rekonstruktion von Jaegers Bibliothek versucht. Doch alle auffindbaren Spuren reduzieren sich auf einige Dutzend Blätter, ohne dass die kirchengenehmen „Jaeger-Forscher“ das irgendwie auffällig finden. Insbesondere konnte kein Dokument mit deutlicher Kritik des katholischen Erzbischofs am deutschen Faschismus aufgefunden werden.

Für die seriöse Forschung gibt es, z.T. versteckt in den Fußnoten, aber doch einige neue Erkenntnisse. Der Kreis der NS-Täter und weltanschaulichen Kollaborateure, für die Jaeger sich ab 1945 eingesetzt hat, fällt deutlich größer aus als bislang angenommen. Ein echtes Alleinstellungsmerkmal von Lorenz Jaeger im Kollegium der Ortsbischöfe ist seine positive Einstellung zu Feldbischof Justus Rarkowski, dessen Verehrung von Adolf Hitler nicht einmal die konservativsten Forscher in Frage stellen oder gar rechtfertigen. Das Märchen, Lorenz Jaeger selbst sei wegen Regime-Kritik 1939 förmlich in die Militärseelsorge geflüchtet, lässt sich mit dem neuen Quellenstand übrigens nicht stützen.

Zu den grundlegenden bürgerlichen Kulturtechniken, die wir im Zeitalter der Fake-News besonders hochschätzen sollten, gehört das Lesen von Primärquellen (dies sind bei unserem Thema in erster Linie keine Geheimdokumente, sondern: Kirchliche Amtsblätter u.ä.). Mit der römisch-katholischen Apologetik zu disputieren, ist hingegen fast immer vertane Zeit, denn diese ist trotz gelehrter Maskerade eine Spielart von Fundamentalismus. Mit Blick auf das traurige Gedenken 22.6.1941 – 22.6.2021 wollen wir im Aufklärungs- und Editionsprojekt „Kirche & Weltkrieg“ (https://kircheundweltkrieg.wordpress.com/) vor allem auch Voten der Kirchenleitungen zugunsten des Rasse- und Vernichtungskrieges für jede/n leicht zugänglich machen. Wer das Projekt durch Textspenden – vorliegende Forschungsbeiträge, bereits erfasste Quellen oder Schreibarbeiten – unterstützen möchte, kann sich an den Verfasser dieses Beitrages wenden. Speziell auch für das Erzbistum Paderborn werden bezogen auf die Zeit des 2. Weltkrieges noch weitere Abgründe zu vermitteln sein, die schon aus der Zeitschrift der Theologischen Fakultät und der Kirchenzeitung „Leo“ zusammengetragen worden sind. Es bleibt dabei: Wer lesen kann, erfährt mehr.

Anmerkungen:

[1] Josef Meyer zu Schlochtern / Johannes W. Vutz (Hg.): Lorenz Jaeger. Ein Erzbischof in der Zeit des National­sozialismus. Münster: Aschendorff 2020.

[2] Zuerst als Beitrag zum Sammelband „Im Sold der Schlächter“ (2019), ISBN 978-3-7481-0172-7. Vgl. inzwischen den frei abrufbaren digitalen Sonderdruck „Lorenz Jaeger – Kriegsbischof der deutschen Blutsgemeinschaft“ (https://www.ikvu.de/fileadmin/user_upload/IKvu_Sonderdruck_Lorenz_Jaeger_2020-08-07.pdf ).

[3] Vgl. viel ausführlicher in der ersten Stellungnahme/Rezension „Bistums-Studie zu Lorenz Jaeger“ vom 8.9.2020 (http://upgr.bv-opfer-ns-militaerjustiz.de/uploads/Dateien/Links/pb-zu-jaegerstudie20200908.pdf )

[4] „Gott mit uns“. Die deutsche katholische Kriegspredigt 1914-1918. München 1968; Für Volk und Vaterland. Die Kirchliche Kriegshilfe im Zweiten Weltkrieg. Königstein 1978; „Wie der Krieg zur Schule Gottes wurde“. Hitlers Feldbischof Rarkowski. Oberursel: Publik 1997; Für Gott, Führer und Vaterland. Die Verstrickung der katholischen Seelsorge in Hitlers Krieg. München 1999; Erinnern um der Zukunft willen. Wie die katholischen Bischöfe Hitlers Krieg unterstützt haben. Publik-Forum 2015.

[5] Zugänglich auch in: https://www.lebenshaus-alb.de/magazin/media/pdf/Arbeitshilfe_Bisch%C3%B6fe_und_Hitlerkrieg.pdf

[6] Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.): Deutsche Bischöfe im Weltkrieg. Wort zum Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren. Bonn 2020. https://dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2020/2020-075d-DB_107-Deutsche-Bischoefe-im-Weltkrieg.pdf

[7] Vgl. zu Verlauf, Kontroversen und Erkenntnissen der Forschung: Olaf Blaschke, Die Kirchen und der Nationalsozialismus. Stuttgart: Reclam 2014.

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Mit freundlicher Genehmigung des Netzwerkes IKvu und des Verfasser aus: Ökumenisches Netzwerk Initiative Kirche (Hg.): Querblick 40 (Dezember 2020), S. 31-34.

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Peter Bürger, geb. 1961 (Eslohe/Sauerland), Kriegsdienstverweigerer (Zivildienst), Theologiestudium in Bonn, Paderborn, Tübingen (Diplom 1987), examinierter Krankenpfleger, psycho-soziale Berufsfelder, ab 2003 freier Publizist (Düsseldorf, www.friedensbilder.de). Seit dem 18. Lebensjahr Mitglied der internationalen katholischen Friedensbewegung pax christi, später auch: Versöhnungsbund, DFG-VK, Solidarische Kirche im Rheinland. Mitarbeit im Ökumenischen Institut für Friedenstheologie.

Zum Tod von Sean Connery: „Solche Männer gibt es heute nicht mehr“?

Klampfe, Kippe, Bier – „Solche Männer gibt es heute nicht mehr“? Anlässlich des Todes von Sean Connery macht sich unser Autor seine eigenen Gedanken. (foto: zoom)

Als ich das Kommentarsymbol über der Meldung meiner Internetzeitung sah, habe ich GEWUSST, was kommen würde. Ich habe gewusst, dass da wieder so ein „Einer der letzten Großen ist abgetreten“- und „Solche Männer gibt es heute nicht mehr“-Kommentar stehen würde.

(Ein Gastbeitrag von Michael Hermes, Verein Bildung und Freizeit)

Es ist immer das Gleiche, genau wie beim Tod von Helmut Schmidt, Egon Bahr, Hans-Jochen Vogel…. immer das gleiche Gejammer. So wird einst auch über die jetzt aktiven Politiker, Schaupieler und Prominenten geschrieben werden, obwohl es doch, wenn die ständige Klage stimmte, längst keine „ganz Großen“, keine bedeutenden Persönlichkeiten mehr geben dürfte…

Genauso wird über Angela Merkel geschrieben werden und wahrscheinlich über Hubertus Heil, über Schäuble, Gysi, Obama und Thunberg, über George Clooney und Leonardo di Caprio, über Moritz Bleibtreu und Nora Tschirner, Jürgen Vogel und Matthias Schweighöfer, über Heike Makatsch, Karoline Herfurth, Nadja Uhl, Anke Engelke und Hunderte andere.

Und es wird auch in Zukunft – genau wie heute und genau wie in der Vergangenheit – nicht Ausdruck einer aufgeklärten Betrachtung, Bewertung und Vorausschau sein. Solche Aussagen sind Ausdruck eines zähen, klebrigen Kulturpessimismus, sind Ausdruck des Wunsches nach Stillstand, Ausdruck einer „Es wird alles immer schlimmer“-Mentalität, des ewigen „Wir wollen unsern alten Kaiser Wilhelm wiederhaben“, der völlig irrationalen Überhöhung einer nicht wirklich verstandenen, aber halbwegs kontrollierbaren (weil bereits überlebten) Vergangenheit. Und vor allem der ANGST vor einer unbestimmten Zukunft.

Solche Statements sind kaum jemals wirklich Aussagen über die wirklichen Merkmale der betrauerten Männer und Frauen, über ihre Leistung und ihre Zeit. Sie sind Aussagen über den desolaten geistigen und seelischen Zustand des Senders. Dieses immer gleiche Gejammer, diese völlig unreflektierte Gewissheit, die Welt werde sich unweigerlich zum Schlechteren, werde sich GANZ SICHER zu mehr Rohheit und Ungerechtigkeit entwickeln, ist, weil sie deutliche Merkmale von Realitätsverlust und Wahn aufweist, schon psychotisch zu nennen.

Und sie ist politisch gefährlich. Der Kulturpessimismus mit seiner Rückwärtsgewandtheit lässt Menschen an überkommenen Vorstellungen vom Leben und von der Gesellschaft festhalten. Er lässt sie sich aus der Verantwortung stehlen, wenn es darum geht, auf der Höhe der Zeit, auf Grundlage der vorliegenden Möglichkeiten, mit Vernunft und Phantasie die Gegenwart zu gestalten und die Zukunft zu planen. Dem Kulturpessimismus ist deshalb immer und überall zu widersprechen, mindestens ist er zu hinterfragen. Es wird nicht zwangsläufig „alles immer schlimmer“. Nicht die angenommen stetig sich verschlechternden Zustände, die Kulturpessimisten SELBST sind es, die sich und Anderen einen vernünftigen Blick auf das Leben versperren und den Durchgang in ein erträgliches Morgen erschweren – und manchmal auch verhindern.

Also hört BITTE auf zu jammern. Ich bin fest davon überzeugt, das Gejammer, sie seien die letzten „Großen“, die letzten „Gentlemen“, die letzten „Echten“ oder „Anständigen“ oder was auch immer gewesen, wird ihnen nicht gerecht. Ich glaube, wenn sie könnten, würden sie widersprechen.

Kontroverse um Lorenz Jaeger erst am Anfang

Lorenz Jaeger vor seiner Wahl zum Paderborner Bischof als Militärgeistlicher in Hitlers Wehrmacht; über dem Kreuz der Kappe und an der Brust prangt das Hakenkreuz der „Feinde Christi“. (Umschlagcover)

Wegen seiner Hirtenworte zugunsten des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges war Erzbischof Lorenz Jaeger 2015 erneut „Gegenstand“ einer Paderborner Kontroverse. Nach Auskunft aus den Priester- und Solidaritätsgruppen wird die aktuelle Rechtfertigungsstudie des Erzbistums Paderborn auf Kosten der Kirchensteuerzahler*innen an alle 800 Kleriker der Diözese versandt.

(Gastbeitrag Peter Bürger, siehe auch hier im Blog: Lorenz Jaeger – Kriegsbischof der deutschen Blutsgemeinschaft)

Das Buch enthält u.a. Verunglimpfungen von Vertretern der katholischen Friedensbewegung wie dem verstorbenen Theologieprofessor Heinrich Missalla (1926-2018).

Ebenfalls enthalten ist auf Seite 326 wörtlich folgendes Fazit von Prof. Joachim Kuropka zum Bischofsdienst von L. Jaeger im Nationalsozialsozialismus: „Zusammengefasst: Er hat es gut gemacht.“

In der Anlage (PDF) finden Sie meine erste, vorläufige Rezension zu dem Werk, ebenso unten noch einen Link zum zugehörigen Sonderdruck meines letzten Aufsatzes zu L. Jaeger vom Juli 2029 (im Bistumsbuch – trotz ISBN – übergangen).

Die neue kirchliche Publikation überspannt den Bogen des apologetischen Paradigmas aus meiner Sicht so extrem, dass sie auf paradoxe Weise der geschichtswissenschaftlichen und kirchlichen Debatte einen großen Dienst erweist.

PDF-Anlage Peter Bürger: Bistums-Studie zu Lorenz Jaeger.
Warum jetzt eine ganz neue Paderborner Kontroverse „Kirche im Nationalsozialismus“ ansteht – eine erste Stellungnahme (Textstand 08.09.2020; der Text enthält den Emailkontakt zum Verfasser)
http://upgr.bv-opfer-ns-militaerjustiz.de/uploads/Dateien/Links/pb-zu-jaegerstudie20200908.pdf

Dazu der Sonderdruck (zuerst Juli 2019): Peter Bürger: Lorenz Jaeger – Kriegsbischof der deutschen Blutsgemeinschaft. IKvu-Digitalfassung, 07.08.2020. [67 Seiten]
https://www.ikvu.de/kontexte/texte-personen/kommentar2020-03-buerger.html
Direkt zum PDF:
https://www.ikvu.de/fileadmin/user_upload/IKvu_Sonderdruck_Lorenz_Jaeger_2020-08-07.pdf

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HIER EINE AKTUELLE PRESSEINFORMATION DER PADERBORNER LINKSFRAKTION AUS DEM INTERNET
https://www.linksfraktion-paderborn.de/?q=tags/pressemitteilungen
https://www.linksfraktion-paderborn.de/?q=inhalt/kontroverse-um-lorenz-jaeger-erst-am-anfang

Kontroverse um Lorenz Jaeger erst am Anfang

Linke Ratsfraktion sieht den kriegsfördernden Kardinal durch die neue Bistumsstudie noch stärker belastet
09.09.2020

Im August hat das Erzbistum in Buchform das Ergebnis einer Auftragsstudie zu Lorenz Jaeger vorgestellt. Anlass des Projektes war 2015 der DIP-Antrag im Paderborner Rat, den Namen des Kardinals aus der Liste der Ehrenbürger zu streichen.
Reinhard Borgmeier, Fraktionsvorsitzender der Linksfraktion im Paderborner Rat: „Aus Sicht der Linksfraktion steht mit der Veröffentlichung der Studie jetzt erst recht eine neue Kontroverse um den Erzbischof zur Zeit des Nationalsozialismus an. Dazu haben wir heute eine weitere Stellungnahme des Publizisten und Theologen Peter Bürger auf unsere Internetseite gestellt. Das Dossier enthält alle nötigen Quellenverweise.“

Verunglimpfung friedensbewegter Katholiken?
Bürger, der schon vor 5 Jahren die Kritiker der bischöflichen Ertüchtigungen zum Hitlerkrieg beraten hat, ist wenig erfreut über eine Verunglimpfung von pazifistischen Katholiken. Der verstorbene pax christi-Pionier und Theologieprofessor Heinrich Missalla, von Lorenz Jaeger zum Priester geweiht, werde z.B. mit militanten Atheisten in einen Topf geworfen. Das gehöre sich nicht für ein von allen Kirchensteuerzahler*innen finanziertes Buchprojekt.

Die meisten Seiten der Rechtfertigungs-Studie enthielten das genaue Gegenteil des von der deutschen Bischofskonferenz in diesem Jahr vorgelegten Schuldbekenntnisses zur kirchlichen Kriegsbeihilfe ab 1939. An der Pader sollten offenbar weiterhin die Konzepte des letzten Jahrhunderts gelten.

Gelobt wird allerdings die mit anderen Themenschwerpunkten beauftragte kirchliche Kommission für Zeitgeschichte, weil sie zur fairen Diskussion auf einen Sonderdruck der Kritiker hinweist.

Abenteuerliche Thesen zur Jaeger-Kontroverse

Die Bistumsstudie der Fakultät handelt Bürger zufolge einige zentrale Fragen der Debatte auf abenteuerliche Weise ab. So werde z.B. phantasiert, die Behörden hätten Jaegers freie Ansprache zum staatlichen Treue-Eid irgendwie diktiert.

Fast der wichtigste Punkt sei aber die Fuldaer Dompredigt über eine Blutgemeinschaft „deutscher Schwestern und Brüder“, die 1943 den Bischofsappell enthielt: „Deutschland muss leben, auch wenn wir sterben müssen.“ Keiner der Buchautoren erfasse auch nur ansatzweise den brisanten Kontext dieser „Blutbande“-Rede.

Im Fastenhirtenwort 1942 habe Jaeger Russland als Tummelplatz von „fast zu Tieren entarteten“ Menschen bezeichnet – auf „Judas“, nicht auf Christus gebaut. Zuvor schon konnte die Theologische Fakultät des Bistums ein übles Gemisch von Antibolschewismus und Judenhass drucken lassen. Dass auf fast 500 Seiten niemand Jaegers „Judas-Predigt“ in diesen Zusammenhang stelle, sei ein beschämendes Zeugnis und schier unglaublich.

Die neue Bistumsstudie belastet Lorenz Jaeger
Andererseits entdeckt Peter Bürger im aktuellen Bistums-Buch, das einige sehr interessante Beiträge enthalte, neue Erkenntnisse, die Lorenz Jaeger schwer belasten. Aufgezeigt werde z.B. seine Verbundenheit mit Franz Justus Rarkowski, der auch bei bürgerlichen Historikern als „Hitlers Feldbischof“ gelte.

Jaegers einziger enger Freund seit Studientagen war der hochrangige Militärgeistliche Heinrich Joseph Henneke. Mit dessen Entnazifizierungsverfahren musste sich der Ausschussvorsitzende Johannes Gronowski (CDU) in Paderborn noch 1948 abmühen. Da hatte Jaeger seinen Vertrauten längst zum Domherrn gemacht.

Der Hauptvorwurf lautet nach wie vor: Predigt zugunsten des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges im Osten mit mehr als 20 Millionen Mordopfern. Der militaristische und nationalistische Kardinal könne nicht als Nazi bezeichnet werden. Das sei in diesem Zusammenhang aber auch gar nicht von Belang.

Zukünftige Initiativen – neue Diskussion
Nach Ende der Corona-Schutzzeit wird der in Düsseldorf lebende Publizist erneut zum Vortrag nach Paderborn eingeladen. Weitere kommunalpolitische Initiativen sollen inhaltlich intensiv vorbereitet werden und den Blick insgesamt auf das Thema „Kirche, Bistum und Nationalsozialismus“ richten. Dies sei schon immer der richtige Ansatz des Paderborner Journalisten Wolfgang Stüken gewesen. Der Plan bis Ende 2021: Alle maßgeblichen Quellen sollen frei im Netz abrufbar sein, damit sich jede/r ohne Bevormundung ein eigenes Bild verschaffen kann.

Vor allem Prof. Joachim Kuropka, der wie ehedem Lorenz Jaeger dem Ritterorden vom Heiligen Grab angehört, habe den Bogen jetzt eindeutig überspannt. Seine These zur NS-Zeit: Der Erzbischof hat seine Sache gut gemacht. Für diese Dreistigkeit müsse man ihm fast dankbar sein. Denn sie zeige vielen Menschen, dass die eigentliche Debatte um den Kardinal noch bevorsteht.

Lorenz Jaeger – Kriegsbischof der deutschen Blutsgemeinschaft

Lorenz Jaeger vor seiner Wahl zum Paderborner Bischof als Militärgeistlicher in Hitlers Wehrmacht; über dem Kreuz der Kappe und an der Brust prangt das Hakenkreuz der „Feinde Christi“. (Umschlagcover)

In den 1990er Jahren erforschte die katholische Kirchenhistorikerin Antonia Leugers die Bemühungen des mit Bischof Konrad von Preysing eng verbundenen „Ordensausschusses“, die deutsche Bischofskonferenz zur NS-Zeit zu einer klaren Bezeugung des christlichen Dogmas von der Einheit des Menschengeschlechts (Humani generis unitas) – in Wort und Tat – zu bewegen.

(Vorwort von Peter Bürger zum  Sonderdruck Lorenz Jaeger)

Hierbei zeigte sie auf, dass der Paderborner Erzbischof Lorenz Jaeger – in markantem Gegensatz zu diesem Anliegen – auf der letzten Fuldaer Bischofskonferenz vor Kriegsende auf ein gemeinsames ‚Band des Blutes‘ zwischen den deutschen Bischöfen und „ihren“ deutschen Gläubigen abhob, in der Predigt sodann noch sein vordringliches Anliegen verlautbaren ließ: „Deutschland muß leben, auch wenn wir sterben müssen!“ (Die erzbischöfliche Rezeption des terminus technicus für „Arier“ wird im Titel der vorliegenden Veröffentlichung auf schmerzhafte Weise in Erinnerung gerufen.)

Die Abgründe der Amtsführung von Lorenz Jaeger während des 2. Weltkrieges wurden hernach im Buch „Hirten unter Hitler“ (1999) des Paderborner Katholiken Wolfgang Stueken – unter zahllosen seriösen Belegen – vermittelt. Doch eine kirchlichenamtliche Rezeption blieb diesem unbequemen Werk, das man als Christ oder Christin nur unter Erschütterung und Traurigkeit lesen kann, auf viele Jahre hin versagt.

Erst eine kommunalpolitische Eingabe der Demokratischen Initiative Paderborn (DIP) im Jahr 2015 bewirkte eine neue „Jaeger-Debatte“.

Damals bat mich der schon sterbenskranke Arno Klönne, die DIP aus einer katholisch-pazifistischen Perspektive heraus zu beraten. Die hier nun im Kontext der aktuellen Debatte als „Sonderdruck“ vorgelegte Arbeit (zuerst 2019) vermittelt noch weitaus besser als das 2015 eingebrachte kleine Dossier, an welchen Schatten und Abgründen sich kein beteiligter Forscher vorbeimogeln darf.

Ein erstes Hoffnungszeichen bezogen auf die Aufarbeitung der kirchlichen Kriegsbeihilfe bringt in diesem Jahr eine Erklärung der deutschen Bischöfe.[1]

Leider hat man auf vielen Seiten dieser Stellungnahme doch wieder Vertretern der apologetischen Schule die Redaktion überlassen, so dass das gute Anliegen fast verdunkelt wird.

Die Hofgeschichtsschreiber des kirchlichen Selbstlobkollektivs bemühen sich gegenwärtig eifrig um eine „Historisierung“ der katholischen Kriegsassistenz. Was die Klerikerkirche sonst selten kennt, das wird nun plötzlich im Übermaß eingefordert: Einfühlung, Verzicht auf Werturteile und sehr viel Verständnis für menschliches Versagen.

Säkulare, kirchenferne Geschichtsforscher sollten sich gut überlegen, ob sie diesem Vorgehen wirklich Beifall zollen können. Dass moralische Verurteilungen keine seriöse Forschung, Faktenermittlung usw. ersetzen können, ist allen Seiten bekannt. Dem wertfreien „Historisieren“ der bischöflichen Unterstützung für Hitlers Krieg stehen jedoch zwei Umstände entgegen:

a) Die Bischöfe beanspruchten gegenüber den sogenannten „Laien“ Weisungsbefugnis sowie einen privilegierten Wahrheitszugang, als sei ihre „Salbung mit Heiligem Geist“ wesenhaft eine andere als die der anderen Getauften. An diesem dogmatischen Anspruch der Hierarchie sind Versagen, irrige Weisungen und bischöfliche Kollaboration mit einem massenmörderischen Komplex zu messen. Wer darauf verzichtet, arbeitet der klerikalen Machtideologie zu und sabotiert Lernprozesse der kirchlichen Gemeinschaft.

b) Die zur Entgegennahme bischöflicher Weisungen angewiesenen‚ Laien‘ und Leutepriester ‚unten‘ gingen in vielen Fällen nicht mit der Kriegsassistenz der Bistumsleitungen ‚oben‘ konform, sondern folgten einem authentischen Christentum – indem sie der Hierarchie ungehorsam waren. Wie soll man diesem gerade für das Paderborner Bistum gut belegten Befund gerecht werden, wenn wir in der historischen Darstellung auf Vergleiche und Bewertungen verzichten?

Vermutlich werden öffentliche Ehrungen Jaegers dereinst nicht aufgrund seiner nationalistischen und militaristischen Schatten aufhören, sondern wegen der systematischen Verschleierung der sexualisierten Klerikergewalt im Erzbistum. Gleichwohl wird es der apologetischen Schule kaum gelingen, wie in früheren Zeiten die dem Hitlerkrieg zugeneigten Ideologien und Handlungen dieses hochrangigen Klerikers unsichtbar zu machen.

Düsseldorf, den 6. August 2020 Peter Bürger

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[1] SEKRETARIAT DER DEUTSCHEN BISCHOFSKONFERENZ (Hg.): Deutsche Bischöfe im Weltkrieg. Wort zum Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren. Bonn 2020.

Download des Sonderdrucks als PDF:

https://www.schiebener.net/wordpress/wp-content/uploads/2020/08/schie_Sonderdruck-Lorenz-Jaeger-2020-08-07.pdf

Detlef Träbert: Was verbessert die Konzentration beim Lernen?

„Konzentration kann durch Training verbessert werden.“ (Buchcover)

Was verbessert die Konzentration beim Lernen? Ermahnungen wie „Nun pass aber mal auf!“ oder „Gestern hast du es doch noch gekonnt!“ helfen gar nichts. Konzentration ist nun mal keine reine Willenssache.

(Autor: Dr. Jochen Klein, www.kreiselhh.de, Hamburg)

Die gute Nachricht ist: Konzentration kann durch Training verbessert werden.

„Konzentration – der Schlüssel zum Schulerfolg“ erklärt anschaulich und verständlich, was Konzentration ist, wie sie gefördert und beim Lernen ganz praktisch unterstützt werden kann.

Wie immer bei Sachbuchautor Detlef Träbert gibt es eine Fülle von Tipps, Übungen und Spielen. Dies alles verknüpft mit Fragebögen, anregenden Zitaten und wissenschaftlichen Erkenntnissen ergibt einen hilfreichen und leicht lesbaren Ratgeber.

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Detlef Träbert: Konzentration – der Schlüssel zum Schulerfolg, Dreieich (MEDU Verlag) 2020, 188 S., € 14,95

Abenteuer Antiquariat: Die USA aus europäischer Sicht

Oklahoma (aus Holitscher 1912)

In den USA war ich nie und werde ich nie sein. Aber ich habe, neben meiner unrettbar USA-dominierten Musiksammlung, drei USA-Ecken in meinem Bücherschrank, die mir viel bedeuten. Zum einen die literarischen Realisten von Twain über Dos Passos und Lewis bis Faulkner, dann die frühen Comics von Feininger, Herriman und, ja, auch Disney, schließlich die Reiseberichte europäischer Intellektueller über ihre Wahrnehmungen im Land. Um letztere soll es hier gehen.

(Der Artikel von Christian Gotthardt ist im September zuerst im Harbuch erschienen.)

Arthur Holitscher: Amerika heute und morgen, Berlin 1912. Im Versandantiquariat zu haben für ca. 30 €, Neuauflagen teilweise deutlich günstiger.

Arthur Holitscher: Amerika heute und morgen
Ihn kennt heute kaum noch jemand. Von etwa 1900 bis in die 1920er und 1930er Jahre hinein war er dagegen einer der bekanntesten und erfolgreichsten „Reiseschriftsteller“.[1] Wie der muntere Kommunist Egon Erwin Kisch, aber eher von bürgerlich-liberaler Seite. Er brachte seinen Lesern das Alltagsleben der neuen großen Mächte nahe, der Sowjetunion und eben auch der USA. Lesern, die damals absehbar keine Chance hatten, jemals selbst dorthin zu gelangen. Es sei denn in Uniform.

Holitschers großes Talent waren die psychologische Einfühlung und der Wortschatz seiner Beschreibungen. Franz Kafka soll, nur auf Basis der Lektüre Holitschers, die grandiosen New York-Schauplätze in seinem Roman „Amerika“ gestaltet haben. Und das Lebensgefühl in dieser Stadt.

Der Autor geht, nach den im Übrigen von allen der hier erwähnten Autoren gewissenhaft absolvierten Stationen Ellis Island, Wolkenkratzer usw., ganz eigensinnige Wege. Seine sensiblen Beobachtungen über pädagogische Reformversuche, über die Multikulturalität Kanadas, über das brutale Leben in Chicago sind unbedingt lesenswert.

Als befremdlich stoßen Holitschers Bemerkungen zur sog. Rassenfrage auf. Er ist zwar um eine humane Sicht bemüht, kolportierte aber zahllose rassistische Stereotype. Dies ist lehrreich, zeigt es doch, wie wenig geübt auch offene, gebildete, liberale Europäer zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Umgang mit diesem Thema waren. Hier hatte der Kolonialismus offenbar ein Problem aufgeworfen, das aus dem Gefühls- und Kenntnishorizont des Alte-Welt-Establishments nicht zu lösen war. Wie ich in einem anderen Kontext lernen konnte: Erste, wirklich überzeugende antirassistische Positionen entstanden erstmals in den linksradikalen Seeleutegewerkschaften, die mit der kommunistischen Internationale kooperierten (so z.B. auf dem „Ersten Internationalen Kongress der Hafenarbeiter und Seeleute“ in Hamburg 1931).

Arthur Holitscher: Wiedersehen mit Amerika, Berlin 1930. Das Buch ist derzeit knapp und leider nur zu unangemessenen Preisen erhältlich. Abwarten…

Arthur Holitscher: Wiedersehen mit Amerika
18 Jahre später, der Versuch einer Fortsetzung des Bestsellers. Vielleicht aber auch, oder vor allem, eine Art Widerruf der ehedem eher euphorischen Sicht. Der Text ist weit weniger ausladend, abstrakter und sehr konzentriert und kritisch.

Simone de Beauvoir: Amerika Tag und Nacht, Hamburg 1950. Im Versandantiquariat zu haben für 2 bis 10 Euro.

Simone de Beauvoir: Amerika Tag und Nacht
Hierbei handelt es sich um das Reisetagebuch einer USA-Vortragstournee vom 25. Januar bis zum 20. Mai 1947. De Beauvoir, in Frankreich bereits gefeierte Erzählerin und Essayistin, ließ sich auf Vermittlung des französischen Kulturministers an den amerikanischen Universitäten herumreichen und nahm an zahlreichen Diskussionsrunden teil. Im Vordergrund standen die großen Themen der Welt-Nachkriegsordnung, kulturelle Gemeinsamkeiten diesseits und jenseits des Atlantiks, das Verständnis von Nation und Demokratie usw. Die engagierte Diskutantin tagte, in dichtem Zigarettenqualm und mit stets gefülltem Wiskeyglas, mit ihren amerikanischen Gesprächspartnern aus Wissenschaft und Literaturbetrieb meist bis spät in die Nacht, wobei dann auch heiklere Themen wie Rassismus oder Sexismus zur Sprache kamen.

Was mir an diesem Buch gefällt, ist vielleicht in den Augen anderer sein größter Mangel: De Beauvoir geht mit einer stets störrisch aufgesetzten europäischen Schutzbrille an die USA heran, und setzt sie niemals ab. Genauer gesagt, einer französischen, humanistischen, laizistischen Schutzbrille. Sie mag einfach nicht akzeptieren, das Schlimmes in den USA passiert, weil es immer schon so passiert sei. Dies Argument lässt sie nicht gelten. Sie erinnert mich an einen von mir geschätzten Lehrer in meiner Schülerzeit. Als ich auf seine frustrierte Feststellung, die von der Schulleitung veranlasste Aufteilung der Pausenräume in Raucher und Nichtraucher würde nicht befolgt, antwortete, in dem einen Raum träfe sich die Junge Union und in dem anderen die Linken, und beide würden rauchen, sagte er: Wenn die Realität falsch ist, muss man sie ändern. Klassischer maoistischer Voluntarismus, aber manchmal ein fruchtbarer Denkanstoß. Selige 1970er Jahre.

Bei De Beauvoir beweist sich dies vor allem in der Darstellung ihrer Gespräche mit Literaten und Aktivisten im Umfeld der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, die sie konsequent suchte und ausführlich schildert.

Volkhard Brandes: Good bye, Uncle Sam, München 1971. Im Versandantiquariat zu haben für 3 bis 15 Euro.

Volkhard Brandes: Good bye, Uncle Sam
Dieses Buch habe ich 1974 gelesen, wir hatten es damals in unserer (vor dem Schulgelände verkauften) Schülerzeitung empfohlen. Es brachte meine in der Kindheit und beim Heranwachsen entstandenen USA-Wahrnehmungen auf einen plausiblen Nenner. Der meinen Blick bis heute prägt.

Meine Wahrnehmungen hatten viel mit dem Vietnam-Krieg zu tun. Ich erinnere mich an zwei Schlaglichter: Die legendäre Fotoserie des „Stern“ über die Ausbildung von Kommandoeinheiten der US-Marines, und die allsonntägliche Berichterstattung des ARD-Magazins „Weltspiegel“ über die Kampfhandlungen. Das war alles stark erklärungsbedürftig, und ich war dankbar, dass mein großer Bruder, als „68er“, da war, mir beim Verstehen zu helfen.

Bei Brandes lernte ich dann die Gesellschaft kennen, die hinter diesem Krieg stand. Er hatte Englisch und Amerikanistik studiert und war mehrfach durch die USA getrampt, hatte an Protesten gegen den Krieg teilgenommen und war auch abgeschoben worden. Sein Bericht ist nicht systematisch. Er gibt verstörende Snapshots preis, die vor allem deshalb verstörend sind, weil sie das, was wir geneigt sind für unsere europäischen Kulturstandards zu halten, massiv unterlaufen: Amerikanische Nazis, Slums in New York, Polizeikorruption und -gewalt, Truthahn-Wahnsinn der Mittelschicht bei Thanksgiving, Hire and Fire usw.

Vielleicht damals eine vorurteilsbedingte Wahrnehmung eines deutschen Linken? Aber wenn wir die derzeit vom Trump-Aufstieg in den USA bzw. AfD-Aufstieg in Deutschland ausgehenden Tabubrüche bedenken, vielleicht doch eher eine gespenstische Weissagung. The times they are a`changing.

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Anmerkungen

[1] Eine schöne Zusammenstellung von Rezensionen und Originaltexten bietet die Friedrich Ebert Stiftung in https://www.fes.de/e/arthur-holitscher-neu-entdecken-mit-dem-historischen-vorwaerts/ (15.8.2019).

Land in Sicht!
Ein Beitrag zur Ausstellung „Wie geschnitten Brot“ in Dortmund

Sämtliche Abbildungen: angela jansen

24 Stunden nichts als Wasser, Wasser, Wasser. Da ist es kein Wunder, wenn sich die Nordlandreisenden auf der Fähre von Dänemark nach Island nach „Land in Sicht“ sehnen. Als die Shetland-Inseln zu sehen waren, kam es folglich auf der Backbordseite zu einem großen Auflauf.

(Der Artikel ist zuerst auf Harbuch.de erschienen. Text und Bilder: Angela Jansen. Informationen zur Autorin siehe unten.)

Alle wollten das beste Foto schießen, trotz verhangenen Himmels, Regens und Nebelschwaden – schließlich sollte sich die Investition in die dicke Kamera ja gelohnt haben oder die Lieben zuhause zeitnah eine whats-app-Nachricht erhalten.

Da ich mit meiner billigen Digitalkamera von diesem Motiv sowieso kein vernünftiges Foto machen konnte, richtete ich das Objektiv auf die Fotograf*innen. Nach den Fotos entstanden dann im Atelier Skizzen mit Tusche und Wasserfarben. Damit man auch weiß, wohin sie alle gucken bzw. was sie fotografieren, fügte ich Holzschnitte des begehrten Motivs hinzu.

Das Konzept der Ausstellung ist es, Kunst zu günstigen Preisen anzubieten, auf dass die Bilder weggehen „wie geschnitten Brot“. Jede Künstlerin und jeder Künstler hat einen Raum von 1 x 3 Meter zur Verfügung. Wer Kunst wie das tägliche Brot benötigt oder einfach mal in der Fülle der Kunstwerke schwelgen will, ist herzlich eingeladen nach Dortmund.

Die Ausstellung im kunstbetrieb ist geöffnet vom 31. August bis zum 28. September Montag bis Freitag 11–13 Uhr und 15 Uhr–18 Uhr, Samstag 11–13 Uhr.

Am 31. August findet in der Dortmunder Nordstadt der Hafenspaziergang statt, ein großes Quartiersfest. An diesem Samstag ist die Ausstellung von 14.00–22.00 Uhr geöffnet. Anlässlich der Offenen Nordstadtateliers am 28. und 29. September öffnet der kunstbetrieb am Samstag von 15–20 Uhr und am Sonntag von 11–18 Uhr.


Angela Jansen, Jahrgang 1958, geboren in Düsseldorf, aber zuhause im Norden (Witzwort und Harburg), ist Dipl.-Designerin und seit vielen Jahren Inhaberin der kleinen Werbeagentur fraujansen kommunikation. Nebenher malt und holzschneidet sie. Zu Harbuch.de hat sie ein enges familiäres Verhältnis. So erscheinen dort gelegentlich auch Artikel von ihr, z.B. über die Logos von Harburger Firmen oder  über kleine bänke. e-Mail: aj@fraujansen.de

Militärkirche: „Die Seelen rüsten“

Ein neuer Sammelband beleuchtet die staatskirchliche Militärseelsorge und erschließt Vorbilder der Befreiung.

(Text: Peter Bürger)

Nach dem im Juli erschienenen Sammelband „Im Sold der Schlächter“ über die Militärseelsorge im Hitlerkrieg legen wir mit dem zweiten Titel „Die Seelen rüsten“ eine aktuelle Kritik der staatskirchlichen Militärseelsorge vor. Kooperationspartner ist wieder das Ökumenische Institut für Friedenstheologie. Dieses Buch enthält in erster Linie Beiträge aus christlicher Sicht, doch es kommen auch Vertreter einer antimilitaristischen, humanistischen und laizistischen Kritik zu Wort.

Im Zuge der Remilitarisierung wurde ab 1950 in Westdeutschland ein neues Militärkirchenwesen aufgebaut. Federführend beteiligt waren geistliche Assistenten des Hitlerkrieges aus beiden Konfessionen. Pazifistische Abweichler wurden in den Kirchen zum Teil kaltgestellt, während die militärfreundlichen Amtsträger der Regierung treu zu Diensten standen.

Die Militärpfarrer sind bis heute Beamte und dem Bundesministerium für das Militärressort zugeordnet, das sie aus Steuergeldern auch besoldet. „Auf dem Felde“, das heißt im Einsatz außer Haus oder im Ausland, tragen die Seelsorger sogar den Tarnanzug der Soldaten. Der staatskirchliche Charakter dieses Komplexes liegt offen zutage. Es spricht vieles dafür, ihn als unvereinbar mit den Anforderungen des Grundgesetzes zu betrachten.

Die Kirchen in der DDR blieben hingegen staatsfern und nahmen später einen entschiedenen Friedens-Standort ein, der sie allein an Jesus von Nazareth band. Ihre Seelsorge für Wehrpflichtige, Bausoldaten und Verweigerer vollzog sich unabhängig, als rein kirchliche Aufgabe. Nach der staatlichen Vereinigung wurden die Erfahrungsschätze der „DDR-Christenheit“ ignoriert. Kritik an der staatskirchlichen Verflechtung, wie sie Pfarrer Axel Noack (Kirchenprovinz Sachsen) 1990 vorgetragen hat, ist 2019 dringlicher denn je: „Mit dem Militärseelsorgevertrag geht die Kirche eine >Grundbindung< an die Armee ein, die der Freiheit ihrer Verkündigung gefährlich werden kann … (Es) hat die Kirche sich ohne Not in eine Bindung begeben, die die Klarheit ihres Zeugnisses verdunkeln muss … Im demokratischen Rechtsstaat … besteht nicht die Nötigung zu einem Militärseelsorgevertrag.“

Derzeit gibt es in vielen Kirchen der Christenheit einen Aufbruch hin zur biblischen „Doktrin“ der aktiven Gewaltfreiheit und zu einem entschiedenen Friedenszeugnis – mit klarem Standort im Sinne der Botschaft Jesu. Dass jüngst mehrere Bücher von hochrangigen Militärseelsorgern erschienen sind, die die staatliche Militärdoktrin stützen, wirkt da nicht mehr ganz zufällig.

Unser Sammelband vermittelt Orientierung, Impulse und Befreiungswege für die Debatte über das Militärkirchenwesen – mit Texten von: Ralf Becker, Wolfram Beyer, Peter Bürger, Gerhard Czermak, John Dear, Matthias-W. Engelke, Erasmus von Rotterdam, Hanna E. Fetköter, Albert Fuchs, Joachim Garstecki, Matthias Gürtler, Ullrich Hahn, Georg D. Heidingsfelder, Hartwig Hohnsbein, Uwe Koch, Victoria Kropp, Gerhard Loettel, Walter Mixa, Franz Nadler, Thomas Nauerth, Martin Niemöller, Leo Petersmann, Rainer Schmid, Tertullian, Reinhard J. Voß, Bernhard Willner, Bernd Winkelmann und Hans Dieter Zepf.

Das Buches enthält insgesamt 46 Beiträge, thematisch gegliedert nach zehn Abteilungen:

  1. Jesus und das Konstantinische Kirchentum
  2. Antimilitaristische, humanistische und laizistische Kritik der Militärseelsorge
  3. Wiederbewaffnung und Neuaufbau des Militärkirchenwesens
  4. Friedenszeugnis ohne staatskirchliche Verflechtung in der DDR – Durchsetzung des westdeutschen Modells
  5. Stimmen aus dem Versöhnungsbund
  6. Sakralisierung des Militärkomplexes
  7. Ökumenische Initiativen zur Abschaffung der staatskirchlichen Militärseelsorge
  8. Stimmen aus dem Kreis der katholischen Friedensbewegung
  9. Wie staatstreu sind die Kirchen in der Friedensfrage?
  10. Beistand für Soldaten, Infrastrukturen des Friedens und Vorbilder einer neuen Freiheit

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„Die Seelen rüsten“. Zur Kritik der staatskirchlichen Militärseelsorge. Herausgegeben von Rainer Schmid, Thomas Nauerth, Matthias-W. Engelke und Peter Bürger. (edition pace 8.) Norderstedt 2019. [ISBN: 9783749468041; Seitenzahl: 456; zahlreiche farbige Abbildungen; Preis 15,99 Euro].

https://www.bod.de/buchshop/die-seelen-ruesten-9783749468041
(Leseprobe mit Inhaltsverzeichnis oben links abrufbar). Mit einer Direktbestellung bei BoD fördern Sie die Friedensbibliothek der edition pace; das Werk ist auch überall vor Ort im Buchhandel bestellbar.