„Der Opa von Friedrich Merz“
Über den Briloner Bürgermeister Josef Paul Sauvigny (1875-1967), die „Einigung alles deutschen Blutes“ 1933 und ein Vorläuferkapitel der CDU-Parteigeschichte

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Brilon,_alter_Friedhof,_Grab_f%C3%BCr_den_ehemaligen_B%C3%BCrgermeister_Josef_Sauvigny.JPG

Der Sauerländer Friedrich Merz hat (womöglich gleichermaßen als „Wunschkandidat“ von oppositionellen Linken wie auch der Nationalgesonnenen in der CDU) gute Chancen, nächster Vorsitzender der christdemokratischen Partei zu werden oder – wenn die Grünen der Gründergeneration vollständig von der Bildfläche verschwunden sind – sogar Bundeskanzler.

(Ein Gastbeitrag von Peter Bürger, hier auch als PDF)

Vor nunmehr siebzehn Jahren gab es eine öffentliche Debatte, weil Merz seinen „rechtskatholischen“ Großvater Josef Paul Sauvigny (Briloner Bürgermeister bis 1937) als bewundernswertes Vorbild bezeichnete und dabei nicht nur aus meiner Sicht sein ignorantes Geschichtsverständnis regelrecht zur Schau stellte. Er musste etwas zurückrudern, nachdem kritische Journalisten (u.a. taz, Die Zeit) einschlägige Zeitungsquellen [1] (1933/1937) und die Entnazifizierungsakte des gerühmten Ahnen gesichtet hatten. [2]

Viele Millionen Deutsche haben Großväter, die den Nazis zu Diensten standen. Das ist kein persönlicher Makel. Entscheidend bleibt allein die 2004 von Patrik Schwarz gestellte Frage, wie man sich persönlich zu diesen Vorfahren stellt. Der vorliegende Beitrag soll – quellenbasiert – aufzeigen, warum vom möglicherweise nächsten Vorsitzenden der CDU heute eine unmissverständliche Klarstellung erwartet werden muss, die über eine Relativierung von tradierten Familienlegenden deutlich hinausgeht: Der Großvater war nicht nur „kein Vorbild“, sondern bot mit seinem Verhalten als Politiker eines der abstoßenden Beispiele in einem dunklen Vorläuferkapitel der CDU-Parteigeschichte.

Licht und Schatten einer katholischen Landschaft

Unter den Emails des katholischen Schriftleiters einer Heimatzeitschrift des Sauerlandes finde ich stets den Satz: „Da steht der Feind, der sein Gift in die Wunden eines Volkes träufelt. Da steht der Feind – und darüber ist kein Zweifel: Dieser Feind steht rechts!“ Gesagt hat das im Parlament am 25. Juni 1922 der linkskatholische Reichskanzler Josef Wirth, Mitglied der CDU-Vorläuferpartei Zentrum, nach der Ermordung des Demokraten Walter Rathenau.

Die Minderheit jener Christenmenschen, die ab 1933 ob ihrer beharrlichen Weigerung einer Zusammenarbeit mit den Faschisten verfolgt oder gar ermordet worden sind, trat im katholischen Teil des Sauerlandes eindeutig stärker in Erscheinung als in den protestantisch geprägten Nachbarlandschaften. Zu diesen katholischen Pazifisten, Kapitalismuskritikern oder Zentrumsleuten habe ich die Bücher „Sauerländische Friedensboten“ [3] und „Sauerländische Lebenszeugen“ [4] (versehen mit dem Geleitwort eines christdemokratischen Regierungspräsidenten) herausgegeben.

Doch diese Vorbilder bildeten eben nur einen denkbar kleinen Kreis, während sich die Mehrheit der Leute dem Kurs des III. Reiches fügte oder alsbald mit den Wölfen heulte. Auch im Sauerland weiß das verbliebene schwarze Heimat-Selbstlobkollektiv aufgrund der Verdrängungsgeschichte nur wenig von den Schatten der katholischen Zentrumspartei:

Aus Südwestfalen kamen eben nicht nur ehrenwerte „katholische Antifaschisten“, sondern gleichermaßen Hitlers Steigbügelhalter Franz von Papen vom rechten Zentrumsrand (Werl), die beiden früh zu den Deutschnationalen und dann zur NSDAP übergelaufenen Politikerbrüder Ferdinand [5] und Hermann [6] von Lüninck (aus Ostwig nahe Brilon) und der berüchtigte katholische Staats-Unrechtler Carl Schmitt (NSDAP-Eintritt 1.5.1933) aus Plettenberg, der sich im Altkreis Brilon mit Gleichgesinnten [7] traf.

In der sozialdemokratischen Zeitschrift „Der wahre Jakob“ war 1932 zu lesen: „Der Nationalsozialismus (siehe Hitler ‚Mein Kampf‘) wünscht Krieg gegen Russland, Krieg gegen Frankreich und Krieg gegen die Randstaaten. – Nun, das wird kein Krieg, sondern eine Jagd. – Aber Sie, Herr von Papen, wird man dann fragen, wer die Bestie aus dem Käfig gelassen!“ [8] So klarsichtig urteilten zu diesem Zeitpunkt auch noch viele Zentrumspolitiker.

Unmittelbar nach ihrer Machtübernahme hatten die erklärten braunen Weltbrandstifter in katholischen Landschaften wie dem kölnischen Sauerland ein Problem – namentlich in der Kommunalpolitik. An vielen Orten gab es Anfang 1933 noch nicht einmal eine „Zelle“ der NSDAP. Man musste zunächst NS-Staatsdiener vor Ort aus dem vorhandenen Personal rekrutieren und fand erstaunlich viele Wendehälse, die sofort zur Kollaboration bereit waren.

Einige wenige Beispiele [9] seien angeführt: Am 12.4.1933 erklärt Heinrich Feldmann im Kreistag des Kreises Meschede, die gesamte Zentrumsfraktion stelle sich geschlossen hinter die „nationale Regierung“ und sei bereit zur Mitarbeit „mit allen ihr zu Gebote stehenden Kräften“. Ähnlich bekundet der Arnsberger Stadtverordnete Rörig am 25.4.1933: „Für uns Zentrumsleute ist es eine Selbstverständlichkeit, der jetzt gegebenen Ordnung zu dienen.“

Der Arnsberger Propstdechant Joseph Bömer [10] (1881-1942), als Priester einer der couragiertesten Zentrumspolitiker im Sauerland und bis zum Tod ein kompromissloser Gegner des Hakenkreuzes, hatte sich 1932 als Kreisvorsitzender seiner Partei für den aus Attendorn stammenden Zentrumsmann Rudolf Isphording als neuen Bürgermeister eingesetzt und musste 1933 mit Bitterkeit feststellen, wie schnell dieser über Nacht zu einem Anhänger der Nazis geworden war (und nun braune Parolen von sich gab).

Der vormalige Letmather Zentrums-Bürgermeister Franz Pöggeler fungierte von 1933 bis zu seinem Tod im Jahr 1942 als Bürgermeister von Rüthen (1971-1975 Schulort von Friedrich Merz) und wurde postum noch 1977 durch eine Pöggeler-Straße geehrt. Nach den Forschungen von Dr. Hans-Günther Bracht kommt man nicht umhin, Pöggeler eine erschreckende Mitwirkung am nationalsozialistischen Verfolgungssystem zu bescheinigen. [11]

Der Briloner Bürgermeister Josef Paul Sauvigny

Zu diesem Kreis von Personen, die Zentrumspartei wie Demokratie verrieten und sich 1933 der Macht verkauften, gehörte nach Ausweis der bislang bekannten Quellen der Großvater von Friedrich Merz. Josef Paul Sauvigny (1875-1967) stammte aus einer Gutsbesitzerfamilie, von der fünf Söhne am „sinnlosen Gemetzel“ (Papst Benedikt XV.) des 1. Weltkrieges teilgenommen hatten. Der studierte Jurist (Rechtsanwalt ab 1912) verlegte sich alsbald auf die Politik (1915 zweiter, 1916 erster Beigeordneter in Brilon) und amtierte in seiner Heimatstadt ab dem 17.11.1917 als Bürgermeister: Er „ist königstreuer Gesinnung und gehört politisch der Centrumspartei an“ [12].

Dr. Ottilie Knepper Babilon ordnet den 1929 wiedergewählten Bürgermeister für die Jahre 1925-1933 einer kommunalpolitischen Listen-Konstruktion zu, welche die Interessen des „gehobenen“ bzw. besitzenden Bürgertums vertrat und sich in der Folgezeit als „politisch sehr anpassungsfähig“ erwies. [13] Dazu zählte etwa Dr. Josef Gerlach, der 1933 auf Kreisebene für die bürgerliche Interessensgruppe und vor Ort für das den „kleinen Leuten“ zugewandte Zentrum kandidierte, in der NS-Zeit dann eine Karriere als Kreiswirtschaftsberater machte – zuständig u.a. für das als „Arisierung“ bezeichnete Raubunternehmen.

Die sogenannte „Volksgemeinschaft“ formiert sich

Nach der Machtübernahme der Hitler-Partei bleibt nun J.P. Sauvigny ohne weitere Umstände Bürgermeister von Brilon und leitet dort am 1. Mai 1933 eine Massenversammlung, auf der sich die sogenannte „Volksgemeinschaft“ der „Menschen deutschen Blutes“ formiert. Die loyale – vormals schwarze, alsbald eingebräunte – „Sauerländer Zeitung“ bringt nur seine Rede im Wortlaut-Zitat folgendermaßen (im Netz auch ein vollständiger Text des ganzen Berichtes):

„Das neu geformte Deutschland feiert heute seinen ersten Nationalfeiertag. […] jung und kraftvoll wie die Scharen seiner jugendlichen Träger, so steht das neue Reich vor uns. Noch brausen die Stürme der nationalen Revolution über es hinweg, diese Frühlingsstürme, die allen Unrat hinwegfegten, die die Wolken verjagen, die uns bisher die Sonne rauben wollten. Dieser Sturm, der so manchen hart ankommen mag, er wird sich legen, nachdem er die Luft gereinigt hat, von allen giftigen Dünsten, die sich in Jahren mißverstandener Freiheit und ohnmächtiger Selbstzerfleischung angesammelt hatten.

Dann erst wird die schwerste Zeit beginnen, die harte, entsagungsschwerste Arbeit des endlichen Wiederaufstieges. Doch während bisher sich deutsche Kraft und deutsches Aufbaustreben zerspalten und verbluten am Parteigezänk und ewigen Führerwechsel [sic], ist es heute ein Wille, der uns eint, eine Kraft, die uns leitet, ein Führer, der uns ruft. Vergessend des Parteienhasses von gestern, hat das große Sammeln begonnen, die Einigung aller Deutschen, deutschen Blutes zur gemeinsamen Tat, deren Sinnbild der heutige Festtag ist. […]
Im Auftrag der National-Sozialistischen Deutschen Arbeiterpartei heiße ich Sie alle auf das herzlichste willkommen. Ich wünsche, daß Sie von aller Arbeit ruhend, ihr zur Ehre ein klassenversöhnendes, aufbaubereitendes Fest begehen. Ich fordere Sie alle auf, […] aufzustehen zur großen Tat, vereint mit Hand anzulegen an das große Befreiungswerk, zu dem wir alle aufgerufen sind, damit deutscher Arbeitswille wieder Raum, deutsche Arbeitsleistung wieder einen Boden findet. Ich bitte Sie sich zu erheben und mit mir einzustimmen in den Ruf: Das arbeitende deutsche Volk, sein ehrwürdiger Reichspräsident, die Verkörperung deutscher Treue, der Kanzler Hitler, sein tatgewordener Aufbauwille, sie leben hoch, hoch, hoch!“ [14]

Diese deutsche „Bluteinigungs-Rede“ wider die Weimarer Republik lässt sich nun wirklich durch nichts rechtfertigen oder beschönigen. Entsprechende frühe Versuche des Enkels [15] 2004 irritieren in höchstem Maße, auch wenn die taz damals einige Abgründe der dokumentierten Ansprache noch gar nicht erschlossen hatte.

Nur zu bald tritt ein, was Bürgermeister Sauvigny laut Sauerländer Zeitung versprochen hat: Der Kreis Brilon wird von dem befreit, was die Nationalsozialisten unter „Unrat“ und „giftigen Dünsten“ verstehen. Es geht um Menschen: Zuerst sollen die – vor Ort kaum doktrinär ausgerichteten, z.T. gar katholischen – Kommunisten und andere Linke ausgeschaltet werden. [16]

November 1933 wird man dann Schreie von Inhaftierten des Kreisgebietes aus dem Briloner Rathaus hören. An den Misshandlungen sind (angeblich auswärtige) SA-Leute und örtliche Nazis beteiligt. Im katholischen Milieu folgt auf das Quälen von Marxisten und deren KZ-Einweisung 1933 nur selten eine Solidarisierung. (Der Siegener Pfarrer Wilhelm Ochse [17], der im gleichen Jahr u.a. einen Kommunisten zur fotografischen Dokumentation seiner Folterspuren anhält, gehört zu den echten Ausnahmen.)

Die wirklichen Briloner Vorbilder

In den Jahren der Weimarer Republik war Brilon eine überregional bedeutsame Hochburg des Friedensbundes deutscher Katholiken (FdK) gewesen, was am besten Sigrid Blömeke in ihrer Studie „Nur Feiglinge weichen zurück“ [18] erhellt. Die entschiedenen katholischen Pazifisten erkannten früh die völkische, insbesondere antisemitische Gefahr, verließen aber z.T. auch die konfessionelle Einheitspartei nach deren Rechtsschwenk (nebst Aufrüstungspolitik).

Schon 1931/32 terrorisierten sauerländische Nazis insbesondere die Leitgestalt Josef Rüther [19] mit Morddrohungen, Brandsätzen und Gewehrmunition. Als der Großvater von Friedrich Merz 1933 in Brilon seine „deutsche Bluteinigungsrede“ für die neue „Volksgemeinschaft“ hält, ist Rüthers Verfolgung schon zur Staatssache geworden. Der zuvor beamtete Gymnasiallehrer erhält nach Bespitzelung durch Schüler direkt Anfang 1933 Berufsverbot und lebt während der NS-Zeit in dauernder Angst (zuletzt versteckt in einer Waldhütte). Sein Bruder Theodor, Priester und vormals Zentrumsvorsitzender von Brilon, wird als Lehrer zwangspensioniert.

Andere Friedensbund-Katholiken sind ebenso Repressalien ausgesetzt. Zentrumsmann und Schneidermeister Wilhelm Schieferecke, der seine Werkstatt mit einem jüdischen Handwerkerkollegen teilt, wird Anfang 1933 aus der Stadtverordnetenversammlung ausgeschlossen. (Das ist ein anderes Schicksal als das des Bürgermeisters.)

Sein Bruder Anton Schieferecke (1882-1962), während der Weimarer Republik nach Zentrums-Austritt u.a. auch Briloner Ortsvorsitzender des demokratischen Reichsbanners, sabotiert 1933 die von Sauvigny geleitete Mai-Volkseinheitsfeier und verliert seinen Sitz im Sparkassenvorstand. Neun Männer der SA, welche den Bürgermeister Sauvigny bald auch zu den Ihrigen zählen wird (s.u.), zerren ihn aus dem Sitzungssaal des Rathauses.

Der Schreinermeisters wird als „Judenbannerführerhäuptling“ gebrandmarkt und sein Geschäft boykottiert, was zu einem schweren Ringen um die Existenz der Familie führt: „Er beteiligte sich während der NS-Zeit an keiner Wahl, grüßte nicht mit deutschem Gruß, flaggte nicht oder wenn, dann nur Schwarz-Rot-Gold […] oder Weiß-Gelb (Fahne des Papstes).“ Aufgrund seines antifaschistischen Verhaltens „wurde Anton Schieferecke wie sein Bruder Wilhelm und wie auch Josef Rüther nach dem gescheiterten Umsturzversuch am 20. Juli 1944 für kurze Zeit inhaftiert.“ [20]

Die Beispiele sind keineswegs erschöpfend. Im weiteren Briloner Kreisgebiet musste z.B. auch der FdK-Mann Franz Butterwege (1881-1956) als erklärter „Judenfreund“ anlässlich der Pogrome 1938 zusammen mit seiner Frau Angriffe, wegen öffentlichen Streits mit Nazis sodann auch drei Monate lang Gefängnishaft erleiden.

Erst im Kontrastvergleich mit diesen und anderen drangsalierten Katholiken am Ort und im Wissen um frühe Folteropfer auch unter den Mitgliedern der deutschen Zentrumspartei kann man das Exempel des am Aufbau des NS-Staates beteiligten Briloner Bürgermeistes (Ex-Zentrum) mit gleichem Taufschein sachgerecht bewerten. Die Verfolgungsschicksale sind untrennbar mit dessen Weg des kommunalpolitischen Machterhaltes verbunden.

Abschied von der Macht im Jahr 1937

Eine geschichtswissenschaftliche Forschungsarbeit zu Josef Paul Sauvigny liegt noch nicht vor. Ihn entlastende und rühmliche Taten aus der NS-Zeit (1933-1945) im Sinne einer durch Quellen belegten „Widerständigkeit“ sind m.W. bislang nicht vorgetragen worden. Wir wissen lediglich, dass ihn die Nazis laut familiärer Überlieferung „angekotzt“ haben sollen (was nach 1945 nahezu alle Sauerländer von sich beteuerten).

Gewaltsam aus dem Amt gejagt und um seine Beamtenpension betrogen wurde der Briloner Bürgermeister jedenfalls nicht. Er war im Zeitraum von 100 Jahren erst das zweite Stadtoberhaupt, dem mehr als nur eine Amtszeit zukam. Im Zeitungsbericht zur Verabschiedung in den Ruhestand am 2. Juli 1937 wird das Grußwort des von den Nationalsozialisten eingesetzten Landrats Peter Schramm [21] (NSDAP ab 1932, SS ab 1933) so wiedergegeben:

Bürgermeister J.P. Sauvigny habe „nach den schwierigen Zeiten […] auch den Aufstieg noch miterleben dürfen. Nach der Machtübernahme habe er sich trotz seines vorgerückten Alters, entsprechend seiner nationalen Gesinnung sofort eingeschaltet und sein Amt stets im nationalsozialistischen Geiste verwaltet. Das sei sowohl von der Aufsichtsbehörde wie auch von der politischen Leitung durchaus anerkannt worden. Er spreche ihm dafür den Dank dieser Stellen aus und wünsche ihm noch einen langen Lebensabend in Brilon, als deren [sic] Mitbürger er sich auch ferner am öffentlichen Leben betätigen werde.“ [22]

Bedroht war der Bezug seiner Beamtenpension, so die seit 17 Jahren im Netz zugänglichen (also nicht weggeklagten) Pressemeldungen, erst im Zuge der beiden „Entnazifizierungsverfahren“ nach Niederwerfung des deutschen Faschismus. Deren Akten (Hauptstaatsarchiv Düsseldorf) ließ die taz 2004 ablichten [23]: 1946 gibt J.P. Sauvigny im Fragebogen der Militärregierung an, er sei am 1. Juli 1933 (!) der SA beigetreten, und am 10.12.1947 vermerkt er selbst sein Amt als „Oberscharführer der SA Res[erve]“. Weitere Mitgliedschaften: Nationalsozialistische Volkswohlfahrt, NS-Reichskriegerbund und NS-Rechtswahrerbund (ein Unrechtswahrer-Bund).

Als Parteizugehöriger der NSDAP selbst, so weiß Sauvigny noch anzugeben, wird er erst ab 1938 – schon nicht mehr als Stadtoberhaupt – eingeschrieben. Das spricht nun – unabhängig vom Eintrittsprozedere – nicht gerade dafür, dass er im Juli 1937 aus seinem Briloner Bürgermeisteramt irgendwie im Streit mit eben dieser NSDAP ausgeschieden ist.

Die folgenden Wikipedia-Eintragungen [24] zu Ergebnissen der Entnazifizierungs-Verfahren fassen die Angaben aus den in diesem Beitrag angeführten Zeitungs-Recherchen (taz u.a.) so zusammen:

1947 „in die Kategorie 3 eingestuft. Wegen dieser Einstufung bekam er nur noch 60 % seiner Pension, und es wurde ihm verboten, öffentliche Ämter zu übernehmen. Er selbst nannte dies ein ‚schreiendes Unrecht‘; er sagte: ‚Eine persönliche Schuld kommt bei mir nicht in Frage‘. Er berief sich darauf, dass die Nazis ihn zwangspensioniert hätten. Er sei daher ein Nazigeschädigter.“

Dass NS-Kollaborateure aller Grade sich nach Kriegsende als Opfer vorstellen, ist der Regelfall. Speziell zum Briloner Bürgermeister teilt Pascal Beucker noch mit: „Sauvigny hatte Erfolg mit seiner Rechtfertigungslyrik. In der Berufung wurde er 1948 als ‚Mitläufer‘ in die Kategorie vier hinabgestuft, er erhielt wieder seine volle Pension.“ [25]

Als historisches Vergleichsmaterial sei auf phantastische Exempel der „verbesserten Entnazifizierung“ eines antisemitischen Musikpolizisten [26] und einer ebenfalls judenfeindlichen Nazi-Literatin [27] aus dem Sauerland verwiesen. Der zweite Weißwaschgang der Entnazifizierung in Eigenregie zeitigte fast immer erstaunliche Ergebnisse.

Für seinen Großvater kann Friedrich Merz nicht sprechen oder gar haften. Aber er kann unzweideutig feststellen, dass dieser kein Vorbild war, sondern mit seinem öffentlichen Wirken ein abstoßendes Beispiel der Kollaboration mit der menschenfeindlichen, sodann massenmörderischen Rechten geboten hat – ein Mann also, in dessen politische Fußstapfen kein Briloner je wieder treten darf.

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Anmerkungen

[1] Vgl. erst jetzt ohne Kürzungen: „Hitler, sein tatgewordener Aufbauwille, sie leben hoch, hoch, hoch!“ Textdokumentation:
Wie sich 1933 in Brilon unter Propagandaworten des katholischen Bürgermeisters die sogenannte „Volksgemeinschaft“ formierte. Blogbeitrag, 08.01.2021. https://www.schiebener.net/wordpress/hitler-sein-tatgewordener-aufbauwille-sie-lebenhoch-hoch-hoch/

[2] Vgl. Martin Teigeler: Merz bejubelt rechten Großvater. In: taz, 16.01.2004. https://taz.de/Merz-bejubelt-rechtenGrossvater/!806584/ / Patrik Schwarz: Der seltsame Stolz des Friedrich Merz. In: taz, 19.01.2004. https://taz.de/!805458/ / Toralf Staud: „Opa war okay“. In: Zeit Online, 22.01.2004. https://www.zeit.de/2004/05/Glosse_Seite_2 / Patrik Schwarz: Merz‘ Großvater SA- und NSDAP-Mitglied. In: taz, 22.01.2004. https://taz.de/!803355/ / PAT: Friedrich Merz verteidigt Großvaters Ehre. In: taz, 22.01.2004. https://taz.de/Friedrich-Merz-verteidigt-Grossvaters-Ehre/!803973/ / Pascal Beucker: Der Vormerz. In: Jungle World, 28.01.2004. https://jungle.world/artikel/2004/05/der-vormerz

[3] P. Bürger: Sauerländische Friedensboten. (=Friedensarbeiter, Antifaschisten und Märtyrer des kurkölnischen Sauerlandes.
Erster Band.) Norderstedt: BoD 2016. – Vorstellung: https://www.lebenshaus-alb.de/magazin/010277.html

[4] P. Bürger: Sauerländische Lebenszeugen. (=Friedensarbeiter, Antifaschisten und Märtyrer des kurkölnischen Sauerlandes.
Zweiter Band.) Norderstedt: BoD 2018. – Geleitwort im Netz: https://www.lebenshaus-alb.de/magazin/011357.html

[5] Dieser Adelige später allerdings voller Reue; vgl. ein Kurzbiogramm:
https://de.wikipedia.org/wiki/Ferdinand_von_L%C3%BCninck_(Oberpr%C3%A4sident)

[6] Vgl. ein Kurzbiogramm: https://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_von_L%C3%BCninck

[7] „Siedlinghauser Kreis“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Siedlinghauser_Kreis).

[8] Abgebildet im Netz auf dieser Seite: https://oskarstillich.de/2020/03/26/die-deutschen-aus-unbekannter-sicht/

[9] Nachweise u.a. im Buch P. Bürger: Friedenslandschaft Sauerland. Antimilitarismus und Pazifismus in einer katholischen Region. Norderstedt: BoD 2016. Dazu ein Internetdossier: http://www.sauerlandmundart.de/pdfs/daunlots%2077.pdf

[10] Vgl. zu ihm auch meinen Aufsatz in „daunlots nr. 78“, S. 167-176:
http://www.sauerlandmundart.de/pdfs/daunlots%2078.pdf

[11] Zuerst Hans-Günther Bracht: Zur Problematik von Straßenbenennungen. Dargestellt am Beispiel der Pöggelerstraße in Rüthen. In: Heimatblätter – Beilage zum „Patriot“ und zur Geseker Zeitung 95. Jg. (Lippstadt 2015), Folge 4, S. 25-32.
Kurzbericht dazu: https://www.derwesten.de/staedte/nachrichten-aus-soest-lippstadt-moehnesee-und-ruethen/anwohnerwuenschen-umbenennung-der-poeggelerstrasse-id10429216.html

[12] Angabe nach O. Knepper-Babilon (Zitat nach: Stadtarchiv Brilon C 593). – Vgl. zu Savigny und seine Familie auch Alfred Bruns: Brilon 18-16-1918. Brilon: Weyers Verlag 1988. (s. Namenregister)

[13] Ottilie Knepper-Babilon / Hanneli Kaiser-Löffler: Widerstand gegen die Nationalsozialisten im Sauerland. (= Hochsauerland Schriftenreihe Band IV). Brilon: Podszun 2003, S. 104-105, 114-115.

[14] Das Volksfest der nationalen Arbeit in Brilon. In: Sauerländer Zeitung (Unsere Sauerländische Heimat), Brilon den 3. Mai 1933. [Volltextdokumentation erfasst von Peter Bürger; nach einem Scan der Zeitungsseite aus dem Stadtarchiv Brilon.
https://www.schiebener.net/wordpress/hitler-sein-tatgewordener-aufbauwille-sie-leben-hoch-hoch-hoch/ ]

[15] Patrik Schwarz: Merz‘ Großvater SA- und NSDAP-Mitglied. In: taz, 22.01.2004. https://taz.de/!803355/

[16] Ottilie Knepper-Babilon / Hanneli Kaiser-Löffler: Widerstand gegen die Nationalsozialisten im Sauerland. (= Hochsauerland Schriftenreihe Band IV). Brilon: Podszun 2003. (Kapitel zum Altkreis Brilon.)

[17] Vgl. zu ihm Ulrich Wagner: Glaubenszeugnis und Widerstand. Pfarrer Wilhelm Ochse (1878-1969). Siegen: Vorländer 1990. – Im Netz auch: https://www.vielfalt-mediathek.de/data/hellwig_raimund__siegen_unter_dem_hakenkreuz.pdf

[18] Sigrid Blömeke: Nur Feiglinge weichen zurück. Josef Rüther (1881-1972). Eine biographische Studie zur Geschichte des Linkskatholizismus. Brilon 1992.

[19] Vgl. zum ihm auch den Sonderband „daunlots“ Nr. 61 (mit Abbildung eines drastischen Drohbriefes):
http://www.sauerlandmundart.de/pdfs/daunlots%2061.pdf

[20] Vgl. Ottilie Knepper-Babilon / Hanneli Kaiser-Löffler: Widerstand gegen die Nationalsozialisten im Sauerland. Brilon 2003, S. 118-119, 135-137.

[21] Knappe Übersicht zu ihm: https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Schramm_(Verwaltungsjurist)

[22] „Brilon, den 2. Juli 1937. Bürgermeister Sauvigny nahm Abschied“. In: Sauerländer Zeitung (Brilon), 02.07.1937.
[Volltextdokumentation erfasst von Peter Bürger; nach einem Scan der Zeitungsseite aus dem Stadtarchiv Brilon.
https://www.schiebener.net/wordpress/hitler-sein-tatgewordener-aufbauwille-sie-leben-hoch-hoch-hoch/ ]

[23] Patrik Schwarz: Merz‘ Großvater SA- und NSDAP-Mitglied. In: taz, 22.01.2004. https://taz.de/!803355/

[24] https://de.wikipedia.org/wiki/Josef_Paul_Sauvigny (Abruf zuletzt 11.01.2021).

[25] Pascal Beucker: Der Vormerz. In: Jungle World, 28.01.2004. https://jungle.world/artikel/2004/05/der-vormerz

[26] Georg Nellius (1891-1952). Völkisches und nationalsozialistisches Kulturschaffen, antisemitische Musikpolitik, Entnazifizierung. – Darstellung und Dokumentation im Rahmen der aktuellen Straßennamendebatte. Vorgelegt von Peter Bürger und Werner Neuhaus in Zusammenarbeit mit Michael Gosmann / Stadtarchiv Arnsberg. (= daunlots. internetbeiträge des christine-koch-mundartarchivs am museum eslohe. nr. 69). Eslohe 2014. – Im Internet auch:
https://www.heise.de/tp/features/Juden-und-Thomas-Mann-Todfeind-3502577.html

[27] Josefa Berens-Totenohl (1891-1969), nationalsozialistische Erfolgsautorin aus dem Sauerland. – Forschungsbeiträge von Peter Bürger, Reinhard Kiefer, Monika Löcken, Ortrun Niethammer, Ulrich Friedrich Opfermann und Friedrich Schroeder.
Herausgegeben vom Christine Koch-Mundartarchiv in Zusammenarbeit mit dem Kreisheimatbund Olpe. (= daunlots. internetbeiträge des christine-koch-mundartarchivs am museum eslohe. nr. 70). Eslohe 2014.
http://www.sauerlandmundart.de/pdfs/daunlots%2070.pdf

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