Eine große Liebende aus dem Sauerland
23. Dezember: Gedenktag an Maria (Angela) Autsch

Die ehemalige Finnentroper Textilverkäuferin Maria Autsch (1900-1944) hat als „Nonne von Auschwitz“ Zeugnis für ein wahres Leben gegeben. Ihr Ordensname war Angela Maria; am 23. Dezember 1944 kam sie bei einem Luftangriff ums Leben. (archivfoto via Peter Bürger)

„Ohne Angela hätte ich das KZ nicht überlebt“

(Ein Gastbeitrag von Peter Bürger)

Der von Maria (Sr. Angela) Autsch gewählte Orden mit Niederlassung im österreichischen Mötz wurde 1198 zur „größeren Ehre des Dreieinigen Gottes“ und mit dem Ziel des Loskaufes von Gefangenen gegründet. Seit dem 12. August 1940 ist Sr. Angela selbst in Gefangenschaft. Unter anderem wird ihr der Ausspruch „Der Hitler ist eine Geißel für ganz Europa“ vorgeworfen.

Im darauffolgenden September wird sie in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück bei Berlin verlegt – registriert unter der Häftlingsnummer 4651 und gekennzeichnet mit dem roten Winkel der politischen Gefangenen. Zunächst muss sie drei Wochen im Freien arbeiten, doch dann erfolgt die Einteilung zu der „ihr so angenehmen“ Arbeit im „Krankenrevier“ des Konzentrationslagers.

Im Lager interniert ist auch die schwangere Maria Rosenberger aus ihrer Heimat, eingestuft als sogenannter „Zigeunermischling“. Von Sr. Angela erfuhr diese junge Sauerländerin mütterlichen Zuspruch und Hilfe zum Überleben. Die Nonne hat ihrerseits aber auch einen Wunsch geäußert; sie wollte am Saum der Häftlingskleidung gerne eine angenähte kleine Tasche als Versteck für den Rosenkranz. Maria Rosenberger hat im Juni 1990 einen ausführlichen Bericht über die gemeinsame Zeit des Grauens in Ravensbrück diktiert, der hier wiedergegeben sei:

„In der Zeitung wurde über den Seligsprechungsprozeß von Maria Autsch berichtet. Ich habe sie sofort erkannt, als ich ihr Bild sah. Wir waren im KZ Ravensbrück zusammen. Ich wusste zwar, dass Maria das KZ nicht überlebt hat. Aber wie es ihr später in Auschwitz ergangen ist, das habe ich nicht gewusst. Ich habe Maria in bester Erinnerung. […] Sie hat mir geholfen, wann immer sie konnte. Ich war damals zwanzig Jahre alt. Sie war doppelt so alt. Sie war wie eine Mutter zu mir. Sie hat mir immer wieder Mut gemacht. ‚Maria, halt die Ohren steif!‘ sagte sie zu mir. ‚Lass dich nicht unterkriegen! Denk an was Schönes den Tag über, dann hältst du besser durch.‘ Wenn ich jammerte: ‚Ich habe Hunger‘, wie oft hat sie mir ein Stück Brot zugesteckt. Sie legte es an den Zaun oder versteckte es auf der Toilette. Es durfte keiner sehen. Es war verboten, jemand von seinem Essen etwas abzugeben. Und einer gönnte dem andern nichts. Und ehe man sich versah, war man bei der Aufseherin angezeigt, und es gab Schläge mit der Peitsche. Und manches Mal hat Maria Schläge eingesteckt.

Einige Aufseherinnen haben sie auch bewusst schikaniert, weil sie eine Nonne war. Aber das hat ihr nichts ausgemacht. Sie hatte ein besonderes Lächeln, und wie gern hat sie mit uns gelacht. Wenn sie mir morgens beim Appell heimlich zuwinkte – sie stand im Nachbarblock – freute ich mich den ganzen Tag. Maria war wie ein Sonnenstrahl in der Hölle. Ich fragte sie manchmal: ‚Wovon lebst du denn, wenn du dein Brot immer weggibst?‘ Sie antwortete: ‚Wenn ich Hunger habe, bete ich. Dann vergesse ich den Hunger.‘ Dabei sah sie mit ihren Bäckchen aus wie das blühende Leben, auch wenn sie hungerte. […]

„Eine große Liebende aus dem Sauerland

23. Dezember: Gedenktag an Maria (Angela) Autsch

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„Heimat“ setzt sich zur Wehr: gegen Nazis

Am 19. Juni 1941 beschlagnahmte ein Gestapo-Kommando das Olper Pallottiner-Kloster; vor dem Gebäude fanden sich immer mehr Frauen, Männer und Kinder zum Protest gegen die braune Räuberbande ein. (Repro: Stadtarchiv Olpe)

Im Juni 1941 lehrten die Bewohner der Kreisstadt Olpe ein Gestapo-Kommando das Fürchten. – Das Modell empfiehlt sich auch heute angesichts brauner Umtriebe.

(Ein Gastbeitrag von Peter Bürger. Mit freundlicher Genehmigung des Autors, aus: Telepolis, 3.12.2017)

Beim inflationären und zumeist inhaltslosen Gerede über sogenannte regionale „Identität“ wird gerne unterschlagen, dass kollektive „Identitäten“ immer etwas mit Konstruktionen, Bildmächtigkeit und Deutungshoheit zu tun haben. Alles entscheidet sich an der Frage, von welchen Geschichtserfahrungen, „Traditionen“, „Vor-Bildern“ und Visionen denn die Rede sein soll, wenn das magische Zauberwort „Heimat“ ins Spiel kommt.

Hardcore-Nazis im Sauerland

Die Sache sei – auch aus aktuellem Anlass – anschaulich gemacht mit Ausführungen über Südwestfalen. Während in Altena der Bürgermeister Andreas Hollstein (CDU) eine Attacke erleidet, die von der Staatsanwaltschaft als „Tatverdacht des versuchten Mordes“ behandelt wird, und der Täter die menschenfreundliche und intelligente Flüchtlingspolitik Hollsteins angeprangert hat, wird in der weiteren Nachbarschaft die Kreisstadt Olpe samt Umland von braunen Umtrieben heimgesucht.

Noch im Jahr 1933 hatte der „schwarze Kreis Olpe“ eines der schlechtesten (sprich: vorbildlichsten) Stimmergebnisse für die NSDAP in ganz Deutschland aufzuweisen. Heute versucht die kleine Nazi-Kaderpartei „Der III. Weg“ ausgerechnet dort, einen von bundesweit rund 20 Stützpunkten im Zuge eines „kontinuierlichen Strukturaufbaus“ dauerhaft zu verankern. Schon 2016 wollten diese Anhänger der reinen Lehre des National-Sozialismus im Kreisgebiet mit einer Postkartenaktion gezielt solche Leute einschüchtern, die ihrem „nationalrevolutionären“ Heimatwahn entgegenarbeiten.

Unter der Parole „Volk und Vaterland“ sollen feierliche Mörder-Ehrungen, ein „arischer Sozialismus“ (für „gleichblütige nordische Menschen“), völkisch-germanische „Religion“ (statt christlicher Prägungen), Homophobie und „Bürgerwehr“-Spektakel (auf der Basis von erfundenen Horrormeldungen) beworben werden. In eindeutiger Absicht verbreiten Netzseiten der extremistischen Bewegung Nachrichten über Anschläge auf Mitmenschen, die als Flüchtlinge ins Land gekommen sind. Die Vertreter des „III. Weges“ sehen sich als Vollstrecker eines vermeintlichen Mehrheitswillens und skandieren: „Olpe setzt sich zur Wehr.“

Was sagt die Heimatgeschichte?

Diese Parole haben sich die Neonazis jedoch aus einem Kapitel der Heimatgeschichte geklaut, das für einen „kontinuierlichen Strukturaufbau“ der Braunen im „Heimatgebiet Olper Land“ ganz und gar nicht beansprucht werden kann. Die Sache führt uns zurück zum 19. Juni 1941:

Drei Tage vor dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion kommt ein Gestapo-Kommando nach Olpe, um das Pallottiner-Kloster am Ort zu besetzen und die Ordensleute aus ihrer Heimat zu vertreiben.

Die Nazi-Beamten haben jedoch nicht mit den Reaktionen der Bevölkerung auf ihren Raubzug gerechnet. An drei aufeinander folgenden Tagen ziehen mehrere hundert Frauen, Männer und Jugendliche zu Demonstrationen vor das Kloster in Olpe, singen Protestlieder gegen die braunen „Feinde Christi“, läuten Glocken und beschimpfen lautstark die Nazi-Bande. Weil die Gestapo-Männer Teilnehmer der Proteste verprügeln, bewaffnen sich einige Bauern sogar mit Eichenknüppeln.

Die „Laien“ am Ort hatten die Initiative zu diesem Aufruhr ergriffen, ohne die kirchliche Obrigkeit vorher um Erlaubnis zu fragen. Die Gestapo lernte daraufhin im südlichen Sauerland das Fürchten. Die Olper Demonstrationen wurden 1941 weit über die Grenzen des Sauerlandes hinaus bekannt und vom NS-Machtapparat in Berlin an höchster Stelle wahrgenommen.

Gegen einige Beteiligte ging man mit Gewalt, Repression und Gefängnishaft vor. Am Ende entschieden sich die Behörden des Nazi-Staates jedoch dazu, die Strafverfahren gegen Olper „Aufrührer“ (Arbeiter und Handwerker) nicht weiter zu betreiben. Man wollte die Erinnerung an das Aufbegehren der südsauerländischen Katholiken nicht wieder lebendig werden lassen.

Ein Buch zur richtigen Zeit …

Der Pallottiner Norbert Hannappel hat 1991 noch lebende Zeitzeugen befragt – gleichsam „in letzter Minute“. So entstand eine Sammlung von über 60 Berichten zum Olper Klostersturm, ergänzt durch Quellen aus dem Ordensarchiv und die Erinnerungen einer sehr wagemutigen „Laien-Agentin“ des Ordens. Eine soeben erschienene Neuedition des ursprünglich nur hektographierten Werkes „Menschen im Widerstand“ erschließt zahlreiche weitere Dokumente, auch zur amtlichen bzw. „parteiamtlichen“ Sicht der Olper Ereignisse von 1941.

Das im Buch auf breiter Quellenbasis dokumentierte Geschichtskapitel ist für die überregionale Forschung von Interesse. Angesichts der Umtriebe des „III. Weges“ im südlichsten Westfalen enthält es aber auch ein aktuelles Modell für geschichtsbewusste „Heimatpatrioten“: Olpe setzt sich zur Wehr – gegen Nazis.

Ein hochrangiger CDU-Politiker aus Westfalen hat mir soeben zur Mordattacke von Altena geschrieben: „Erst Hass und Hetze, dann folgt die Gewalt. Wir müssen Position bekennen. Wegducken gilt nicht.“ Das sei auch allen Christdemokraten ins Stammbuch geschrieben, die sich nicht schämen, bei den Blau-Braunen Anleihen zu machen und gleichzeitig die „eigenen Leute“ zu verhöhnen, wenn sie christlichen Grundsätzen treu bleiben.

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Literaturhinweis:
Norbert Hannappel:
Der Gestapo-Angriff auf das Pallottinerkloster in Olpe.
19. Juni 1941: Menschen im Widerstand – Zeitzeugenberichte und Dokumente.
Norderstedt: BoD 2017.
(Paperback; 380 Seiten; 15,90 Euro; ISBN-13: 978-3-7460-3040-1)
https://www.bod.de/buchshop/der-gestapo-angriff-auf-das-pallottinerkloster-in-olpe-norbert-hannappel-9783746030401

Falken HSK: Kundgebung „Jugend braucht Freiräume“ in Brilon

Brilon. (falken_hsk) Am Samstag, dem 27. Mai, fand zwischen 14 und 18 Uhr in Brilon eine Kundgebung von Jugendlichen statt, die von den Falken HSK unterstützt wurde.

(Der Artikel ist zuerst auf der Website der Falken HSK erschienen.)

Die jungen Brilonerinnen und  Briloner setzen sich gegen sexistische und fremdenfeindliche Diskriminierung ein, wenden sich gegen Polizeimaßnahmen, die ihnen ungerechtfertigt erscheinen, vor allem aber wünschen sie sich in Brilon einen eigenen Jugendraum.

Kundgebung auf dem Marktplatz in Brilon. (foto: falken)

Mit der Kundgebung suchten die Jugendlichen den Dialog mit der Öffentlichkeit. In Gesprächen mit Erwachsenen und weiteren Jugendlichen fanden sie viel Verständnis für ihre Lage – und auch den einen oder anderen Vorschlag, der jetzt geprüft wird. Auch Bürgermeister Christoph Bartsch schaute vorbei und sagte der Gruppe Unterstützung zu, wenn er eine Möglichkeit fände.

Die Redebeiträge
(Die Texte der jugendlichen Sprecherinnen und Sprecher liegen noch nicht als Dateien vor.)

Räume
(M. Hermes)

Liebe Brilonerinnen und Briloner,
liebe Freundinnen und Freunde,

die Gruppe junger Menschen, die sich heute hier trifft, sucht einen Jugendraum, den sie selber gestalten können, der ihnen immer zur Verfügung steht und worin sie selber Verantwortung übernehmen können.

Ich bin Michael Hermes, ehrenamtlicher Vorsitzender des Jugendverbandes Die Falken Hochsauerlandkreis. Als anerkannter freier Träger der Jugendhilfe ist es unsere Aufgabe, Jugendliche zu unterstützen, die sich um Räume und gesellschaftliche Teilhabe bemühen.

In Meschede, wo wir die meisten Mitglieder haben, haben wir 1976 ebenfalls auf der Straße angefangen. Man konnte oder wollte uns zunächst auch dort keine Räume geben. Die Stadt Meschede (oder der Hochsauerlandkreis) hat dann aber eine – wie ich finde – sehr kluge Entscheidung getroffen: Es gab ein altes Schulgebäude und danach ein altes Behördenhaus im öffentlichen Eigentum, die später abgerissen werden sollten. Wir Falken und andere Gruppen konnten sie so lange noch kostenlos nutzen. Unsere Kinder- und Jugendgruppen und viele andere Initiativen haben sich darin getroffen und gesellschaftlich nützliche Arbeit geleistet.

Als wir nach zehn Jahren (und nachdem die Häuser abgerissen waren) immer noch da waren und immer noch laut „hier!“ gerufen haben, haben wir schließlich die ehemalige Fabrik Wiebelhaus in Meschede bekommen, die von der Stadt Meschede erworben und zum Initiativenhaus ausgebaut wurde. Darin sind wir bis heute.

Vielen Generationen von Jugendlichen, die sich von den bestehenden Angeboten der Jugendarbeit nicht angesprochen fühlten, und für die es sonst nur noch kommerzielle Spielhallen und Kneipen gegeben hätte, den Bahnhof oder den Karstadtplatz, konnten wir auf diese Weise einen schönen Treffpunkt anbieten.

Einen Treffpunkt, den sie selber einrichten und gestalten und in dem sie über das Programm mitbestimmen konnten. Einen Treffpunkt, wo sie bei Schwierigkeiten Hilfe kriegen konnten. Einen Treffpunkt, in dem sie ganz frei künstlerisch aktiv sein und sich politisch bilden konnten. Einen Treffpunkt, wo sich die Engagiertesten von ihnen zu Junghelfern und Gruppenleitern ausbilden lassen, Erfahrungen mit Gremienarbeit und Vorstandsverantwortung machen konnten und bis heute können.

Wir haben uns überlegt, bevor wir uns mit ähnlichen Ideen und Forderungen nach einem Haus an die Stadt Brilon und die Fördergeber wenden, zunächst den Dialog mit der Öffentlichkeit zu suchen. Vielleicht hat ja jemand von euch, vielleicht hat jemand von Ihnen einen Raum – eine leerstehende Wohnung oder Werkstatt, eine Kneipe oder einen Keller, einen Laden oder Lagerraum -, der zu schade zum Vergammeln ist und den man sich zu einem Jugendraum ausgestalten könnte. Wenn Ihr so etwas habt oder jemanden kennt, der so etwas hat, sprecht uns einfach an – wir würden uns freuen. Vielen Dank!

 

Rechtslage
(M. Hermes)

Die offene Jugendgruppe hat viel Zuspruch für ihr Engagement und ihre Öffentlichkeitsarbeit bekommen. Es gab aber auch einzelne missgünstige Kommentare wie „Mietet euch doch einen Raum!“ Ich wurde deshalb von den Jugendlichen gebeten, doch auch auf die Rechtslage hinzuweisen, auf deren Basis wir handeln und die offenbar manchen überhaupt nicht bekannt ist. 

Und nein, diese Jugendlichen müssen NICHT ihr Taschengeld zusammenkratzen und sich einen Raum mieten. Sie haben ein RECHT auf einen selbstgestalteten und selbstverantworteten Raum.

Grundlage ist das SGB VIII, das Kinder- und Jugendhilfegesetz. Darin heißt es unter § 11:

(Absatz 1) Jungen Menschen sind die zur Förderung ihrer Entwicklung erforderlichen Angebote der Jugendarbeit zur Verfügung zu stellen. Sie sollen an den Interessen junger Menschen anknüpfen und von ihnen mitbestimmt und mitgestaltet werden, sie zur Selbstbestimmung befähigen und zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und sozialem Engagement anregen und hinführen.
(…)
(Absatz 3) Zu den Schwerpunkten der Jugendarbeit gehören:1. außerschulische Jugendbildung mit allgemeiner politischer, sozialer, gesundheitlicher, kultureller, naturkundlicher und technischer Bildung

Unter § 12 heißt es:
(Absatz 1) Die eigenverantwortliche Tätigkeit der Jugendverbände und Jugendgruppen ist (…) zu fördern.
(Absatz 2) In Jugendverbänden und Jugendgruppen wird Jugendarbeit von jungen Menschen selbst organisiert, gemeinschaftlich gestaltet und mitverantwortet.

Und § 3 gebietet die Trägervielfalt, die sogenannte Pluralität in der Jugendarbeit:

(Absatz 1) Die Jugendhilfe ist gekennzeichnet durch die Vielfalt von Trägern unterschiedlicher Werteorientierungen.

Das, liebe Freundinnen und Freunde, ist nicht etwa ein Auszug aus einem utopischen Zukunftsroman; das ist heutiges, gutes, geltendes Recht. Auf dieser Grundlage arbeiten wir in unserem Jugendzentrum in Meschede seit mittlerweile 35 Jahren. Und auf dieses moderne, geltende Recht können auch junge Menschen in Brilon ihren Anspruch auf eigene Räume, auf Freiräume für die Jugend stützen.

„kleine bänke“ auf dem Harburger Friedhof
Freundlicher Hinweis auf eine aussterbende Art

(1) kleine bänke auf dem Harburger Friedhof: oft vom Zahn der Zeit gezeichnet (Bildnachweis: Alle Fotos und Illustrationen von Angela Jansen)

Ich bin eine eifrige Besucherin des Harburger Neuen Friedhofs. Bei einem Spaziergang über das Gelände entdeckte ich kleine bänke, die über den Friedhof verstreut zu finden sind. Die Friedhofsverwaltung ersetzt sie nach und nach durch plumpe, gewöhnliche Kunststoffbänke. kleine bänke sind also als Art akut vom Aussterben bedroht. Dieser Artikel soll helfen, sie zu retten.

(Der Artikel ist zuerst auf Harbuch.de erschienen. Text, Fotos und Illustrationen: Angela Jansen. Informationen zur Autorin siehe unten.)

Die schöne parkähnliche Anlage des Neuen Harburger Friedhofs mit seinen stattlichen Bäumen und der lebhaften Vogelwelt hat es mir angetan. Deshalb spaziere ich dort – nicht nur wegen der Familiengräber – immer wieder gerne hin.

Dabei sind mir irgendwann kleine bänke aufgefallen. Sie sind alle von einheitlicher Konstruktion: zwei im Boden verankerte, profilierte Betonpfeiler mit hölzerner Sitzfläche. Man findet sie in fast allen alten Friedhofsarealen.

(2) kleine bänke – ein typisches Exemplar

Nun packte mich die Neugier. Ich begann, kleine bänke zu suchen, zu fotografieren und nach und nach ihre Standorte auf dem Friedhof zu kartieren. Über 100 kleine bänke entdeckte ich. Und ich bin sicher, das sind noch nicht alle. Denn von manchen sind nur noch die Pfeiler übrig, ganz von Pflanzen überwuchert.

Andere sind offensichtlich von Privatleuten liebevoll restauriert: Da wurden Sitzflächen gestrichen – rot, blau, grün – oder auch ganz neu angebracht. kleine bänke sehen heute also ganz unterschiedlich aus. Sie sind so vielfältig, wie die toten Menschen, derer die Angehörigen hier gedenken. Und in verfallener oder überwucherter Form sind sie voll symbolischen Gehalts.

(3) Ausschnitt aus meiner Kartierung: hier stehen überall kleine bänke (Stand Frühjahr 2017)

 

(4) kleine bänke – Beispiel eines Erfassungsbogens

kleine bänke haben einen ganz besonderen Charme:

  • Standort: Oft stehen sie an den Enden von Stichwegen, so dass man hier abseits der großen Wege mit Blick auf vier Gräber einen ruhigen Sitzplatz findet.
  • Dimensionen: Sie sind freundlich klein, so dass darauf nur eine Person oder zwei, dicht zusammengerückt, Platz nehmen können.
  • Erhaltungsgrad: Teilweise verfallen, überwuchert oder auch „sitzbereit“.
  • Individualität: Durch die private Pflege gleicht heute kaum mehr eine Bank der anderen.
(5) Nur noch zu ahnen: kleine bänke stehen auch an verwunschenen Standorten

Einige kleine bänke, die es mir besonders angetan hatten, setzte ich dann als Illustrationen um. Die Bilder haben das einheitliche Format 30 x 20 cm. Es gibt ca. 20 solcher Bilder. Hier drei Beispiele:

(6) hier sitzt schon lange niemand mehr…

 

(7) Trockener Stellplatz für zwei Gießkannen

 

(8) Sitzkissen nicht vergessen – hier bildet eine polierte Steinplatte die Sitzfläche

 

Neben den Bänken, die von der Friedhofsverwaltung aufgestellt wurden, gibt es auch individuelle Banklösungen, die zum Teil sehr originell ausfallen. Schön, dass die Friedhofsverwaltung solche Besonderheiten zulässt, wenn auch nicht alle Bänke ästhetisch gelungen sind.

(9) Auch von einem Betonfreund aufgestellt – dieses formschöne Modell mit regensicherer Lagerfläche für weitere Betonplatten (man kann nie wissen…).

 

(10) Modell „Friedhofstresor“

Der Harburger Friedhof feiert in diesem Jahr am 20. Mai sein 125-jähriges Jubiläum. In diesem Zusammenhang nahm ich Kontakt zur Friedhofsverwaltung auf und regte an, eine kleine bänke-Ausstellung zu machen – mit Fotos, Beschreibung und den Bildern. Die Verantwortlichen mochten aber nicht darauf einsteigen, auch nicht, als ich deutlich machte, dass ich kein finanzielles Interesse mit der Ausstellung verbinden würde. Meine Kontaktaufnahmen verliefen im Sande…

Über die Gründe kann ich nur spekulieren: Ein Friedhofsmitarbeiter äußerte sich mir gegenüber so, dass die Bänke seit ca. 1950 aufgestellt wurden, heute aber nicht mehr zeitgemäß seien, weil sie zuviel Unterhaltungsaufwand mit sich brächten. Die Betonpfeiler hielten zwar „eine Ewigkeit“, aber die Holzdecken seien aus Weichholz und müssten ca. alle zehn Jahre erneuert werden. Man sei sich des gestalterischen Werts durchaus bewusst, trotzdem würden kleine bänke nicht mehr renoviert und nach und nach durch Standard-Kunststoffbänke ersetzt. Dort, wo Privatpersonen die Bänke auffrischten, ließe man sie freilich stehen.

Es besteht also durchaus Grund zu der berechtigten Sorge, dass kleine bänke akut gefährdet sind. Überall, wo nur noch die Pfeiler stehen, muss man täglich damit rechnen, dass sie ausgebuddelt werden… und dann irgendwo in der Nähe eine fiese neue Kunststoffbank auftaucht.

Deshalb hier der Aufruf: Kümmert Euch um kleine bänke in Eurer „Nachbarschaft“. Streicht die Holzplanken, ersetzt morsche Sitzflächen, „adoptiert“ und pflegt sie. In der Hoffnung, dass die Pietät der Friedhofsverwaltung soweit reicht, dass „sitzsichere“ frisch renovierte Bänke nicht entfernt werden.

Und: erzählt diese Geschichte weiter. Denkbar sind auch gemeinschaftliche Renovierungsaktionen, z. B. durch Schulklassen in einer Projektwoche, um möglichst viele Bänke wieder „besetzbar“ zu machen.

Eine Schnitzeljagd mit Banksuche wäre vermutlich nicht „friedhofsgerecht“, oder?

Aber vielleicht könnte man Führungen machen zu besonders verwunschenen Bänken oder Standorten. Denn „Vergehen“ ist ja auch ein Friedhofsthema.

(11) Auch am Gotthardtschen Familiengrab findet sich eine kleine bank.

Bei Interesse biete ich gern einen kleine bänke-Rundgang an. Bitte über die Kontaktadresse (s.u.) melden.

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Angela Jansen, Jahrgang 1958, geboren in Düsseldorf, aber zuhause im Norden (Witzwort und Harburg), ist Dipl.-Designerin und seit vielen Jahren Inhaberin der kleinen Werbeagentur fraujansen kommunikation. Nebenher malt und holzschneidet sie. Zu Harbuch.de hat sie ein enges familiäres Verhältnis. So erscheinen dort gelegentlich auch Artikel von ihr, z.B. über die Logos von Harburger Firmen oder eben über kleine bänke. e-Mail: aj@fraujansen.de

Der grüne Kretschmann und der Adel: Tiefer können die Grünen nicht mehr sinken.

Geschichte vergeht nicht. Es gibt Texte, die man/frau mehr als einmal lesen sollte. (foto: zoom)

Der Adel hat die Bauernkriege gewonnen, blutig. Ich empfehle dazu Friedrich Engels. Der Adel hat den Dörfern das gemeinschaftliche Land geraubt, die Allmende. Er hat sich die Wälder, die einmal allen gehörten, mit Gewalt angeeignet.

(von Jutta Ditfurth (c) 2017)

Er hat mit Folter und Mord den Bauern und Bäuerinnen alle Rechte und Lebensperspektive genommen. Nur durch Gewalt hat der Adel, auch in Kriegen und anderen Raubzügen, die Besitztümer an sich gerafft, die er, vor allem auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik, oft heute noch hat. Gelegentlich kamen auch Pogrome hinzu, oftmals als eiskalt kalkuliertes Projekt der Entschuldung oder als Ventil bei sozialer Unruhe. Auch im satten, wohlhabenden Baden-Württemberg lief das nicht anders.

Der kritische, aufgeklärte Citoyen braucht den Adel nicht. Aber Aufsteiger*innen und selbstwertbeschädigte Kleinbürger*innen suhlen sich gern im Glanz von … ja, was eigentlich?

Ich hielt es zuerst für eine Meldung des Postillon, für Satire. Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann, dem auch zu seinen radikalsten Zeiten beim KBW (Kommunistischen Bund Westdeutschland) mental weder die Flucht aus dem deutschen Schützenverein noch aus der katholischen Kirche gelang, lädt 80 großgrundbesitzende Adlige zum Empfang.

Um nichts falsch zu machen ließ er sich dabei von der Adelsvereinigung (!) und dem Hauptstaatsarchiv beraten. Zur Beschaffung und Lektüre der heute noch antidemokratischen und republikfeindlichen Satzungen und Statuten der Adelsvereinigung sowie der einzelnen Adelshäuser hat der Einfluss des grünen Ministerpräsidenten vermutlich nicht gereicht.

Worum geht’s (offiziell)? Der grüne Kretschmann will den baden-württembergischen Adel für Erhalt und Pflege von Schlössern und Wäldern loben. Womit wir wieder bei den Bauern wären, der nieder- und ausgepressten Landbevölkerung im eigenen Land und in den Landstrichen Europas, in denen auf Befehl des deutschen Adels, geraubt, geplündert, massakriert und erschlagen wurde bis ins 20. Jahrhundert.

In Adelskreisen gibt es einen Witz: Welches Lebewesen ist dem Menschen am nächsten?

Antwort: Der Bürger.

Tiefer können die Grünen nicht mehr sinken.

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Torfabrik Meschede steigt in die heiße Phase des Wahlkampfs ein: Fußballkunst und Fortschritt

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!

Nun steigt auch die Torfabrik Meschede in die heiße Phase des Wahlkampfs ein. Entscheiden Sie sich am Samstag, den 13. Mai 2017 für Fußballkunst und Fortschritt. Wir brauchen jede Stimme!

Ergreifen Sie Partei für die Torfabrik und feuern Sie unsere Mannschaft im heimischen Dünnefeldstadion lautstark an. Beim 1. Spieltag der Regionalliga Westfalen kommt es auf Ihre Stimme an.

Unsere Wahlkampfversprechen lauten:

  • Freier Eintritt für alle!
  • Schöne Tore für die ganze Familie!
  • Voller Einsatz in allen Mannschaftsteilen!
  • Die Verpflegung ist sicher!
  • Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten!

Weitere Informationen auf der Website der Torfabrik: www.torfabrikmeschede.de

JAHRBUCH für PÄDAGOGIK 2015 – Inklusion als Ideologie?

Titelseite der GE-W163 – Zeitung für alle Beschäftigten an Schulen in Gelsenkirchen und Gladbeck. (screenshot)

Seit einigen Jahren beherrscht das Thema Inklusion Land auf – Land ab die bildungspolitische Diskussion in der Gewerkschaft, in den Parteien, in den Lehrerzimmern. Kritik, die in diesen Diskussionen laut wird, richtet sich zumeist gegen die fehlenden Ressourcen.

(Unser Autor Karl-Heinz Mrosek hat den Artikel zuerst in „GE-W163 – Zeitung für alle Beschäftigten an Schulen in Gelsenkirchen und Gladbeck“ veröffentlicht.)

Da beklagen sich Kommunen, dass sie die zusätzlichen Kosten nicht schultern können, da melden sich Lehrerinnen und Lehrer zu Wort, die auf die große Belastung im Unterricht hinweisen, die sie nun zusätzlich zu leisten haben.

Dabei gerät die wissenschaftliche Diskussion zu dieser Frage in den Hintergrund. Ich hatte in unserer GEW-Zeitung zuletzt im August 2013 (dort S. 5-7) auf den Aufsatz von Professor R. Dollase „Grenzen der Inklusion“ hingewiesen.

JAHRBUCH für PÄDAGOGIK 2015

Nun fiel mir das JAHRBUCH für PÄDAGOGIK 2015 in die Hände.

Titel: Inklusion als Ideologie. Auf 351 Seiten finden wir eine Sammlung von Aufsätzen, die sich aus wissenschaftlicher Sicht kritisch mit der „Inklusionsbewegung“ auseinandersetzt.

So schreiben die Herausgeber Sven Kluge, Andrea Liesner und Edgar Weiß im Editioral:

  •  …„nichts desto weniger lässt die aktuelle Inklusionsrhetorik vermuten, dass durch sie die Umsetzung emanzipatorischer Anliegen de facto erschwert wird, …“
  •  …„die inklusionspädagogischen Konzepte weisen Widersprüche auf, die durch die offizielle Inklusionsrhetorik allenfalls vernebelt werden. Die für die Inklusionspädagogik charakteristischen Forderungen nach ‚Individualisierung‘ und ‚Heterogenitätssensibilität‘ werden vor dem Hintergrund gleichzeitiger Standardisierung und der uneingeschränkten Akzeptanz der Selektionsfunktion der Schule faktisch zur Farce.“
  •  „Die Tatsache, dass sich Inklusion hervorragend zum neoliberalen Sparmodell eignet, bzw. die Einebnung spezifischer Fördereinrichtungen und die umstandslose Überantwortung deren vormaliger Aufgaben an die Regelschulen kostensparend ist, ist geeignet, die humanitären Ansprüche der Inklusionspädagogik als fragwürdig erscheinen zu lassen.“ Die Inklusionsdebatte stilisiert die Inklusion und problematisiert sie im Sinne einer Allumfassungs-Illusion und zum vermeintlichen Wert an sich.
  •  „Die Debatte über Inklusion (würde) im Mainstream auf wenig mehr hinauslaufen, als die Einpassung in das bestehende System bis an die Grenze der Zumutbarkeit für alle Beteiligten.

Auch Karl-Heinz Dammer ist mit einem Aufsatz vertreten:

„Gegensätze ziehen sich an – Gemeinsamkeiten zwischen Inklusion und Neoliberalismus“

Einen Absatz überschreibt er mit „Das Hochamt des Individuums“.

Er spricht von der „neuen Lernkultur“ und formuliert dann wie folgt, dass dieser Erziehungsversuch – sei es schulisch oder durch flächendeckende Propaganda – Früchte trägt belegt u. a. die „Optimized-Self“-Bewegung derer, die ihren Lebenswandel in möglichst jeder Hinsicht selbst digital kontrollieren, um „optimal aufgestellt“ zu sein.

Unabhängig davon, wie bunt Inklusion ihre rhetorischen Girlanden um das Individuum flechten mag, ist sie im Rahmen „neuer Lernkultur“, vorsichtig formuliert, dazu angetan, eben dieses Individuum auf Linie zu bringen.

Sie leistet damit für die Formierung des „unternehmerischen Selbst“ mindestens genauso viel, wenn nicht mehr, als die standardisierte Kompetenzmessung, denn diese kann nur den Grad der Erfüllung bestimmter Vorgaben zu Protokoll geben, während die „neue Lernkultur“ bei der Veränderung der Individuen selbst ansetzt.

PISA dient dazu, von außen künstliche Wettbewerbe (vgl. Binswanger 2010) zu inszenieren und damit das Bildungssystem als Ganzes im Sinne neoliberaler Dauerreform zu mobilisieren, dies kann aber langfristig nur dann gelingen, wenn gleichzeitig auch die einzelnen Menschen durch Erziehung zur Selbststeuerung mobilisiert werden. Knapp gesagt: Die von Foucault vorgedachte und von Deleuze so bezeichnete „Kontrollgesellschaft “, in der Fremdbestimmung sich als Selbstbestimmung artikuliert, braucht Inklusion, was vielleicht auch erklären mag, warum ein theoretisch so schwach begründeter Begriff wie „Inklusion“ in, verglichen mit früheren Bildungsreformprozessen, atemberaubender Geschwindigkeit und Betriebsamkeit in die Praxis umgesetzt wird.

Zum Schluss noch eine Leseprobe aus dem Aufsatz von Edgar Weiß:

Inklusionsideologie und pädagogische Realität.

Vor allem aber ist es für die Inklusionspädagogik kennzeichnend, dass sie die Einsicht: „Die Gesellschaft , die Ausgrenzung bewirkt, muss selbst verändert werden, wenn denn Ausgrenzung überwunden werden soll“ (Kronauer 2010, S. 134) unbeachtet lässt.

Der Umstand, dass soziale Asymmetrien, damit immer auch Formen sozialer Exklusion, dem Kapitalismus wesensgemäß sind und dass sozialstrukturell bzw. klassen- und schichtenbedingte Ungleichheiten nicht durch inklusionspädagogische Innovationen überwunden werden, bleibt zugunsten idealistischer Appelle unreflektiert. Unreflektiert bleibt damit zugleich, dass idealistische Inklusionspädagogik mit den kapitalistischen Bedingungen nicht nur kompatibel bleibt (vgl. Dammer 2011, S. 27; Bernhard 2012, S. 344 ff .), sondern für deren Verschleierung geradezu in Dienst genommen werden kann.

Es ist kein Zufall, dass der neoliberale Kapitalismus sich die „Heterogenität als Chance“-Konjunktur im Zuge von „Management Diversity“ zunutze macht (vgl. Stroot 2007), der Bertelsmann-Konzern „Inklusion“ „zu seinem Anliegen“ erhoben hat (Bernhard 2012, S. 346) und die Vereinbarkeit der Inklusionspädagogik mit der schulischen Selektionsfunktion betont wird, die eben zum „marktwirtschaftlich-demokratischen System“ gehöre, „das in partiell hierarchische Organisationen strukturiert ist“ (Prengel 2011, S. 38).

Darauf, dass die populär gewordene Inklusionsrhetorik unter dem Anspruch der Menschenfreundlichkeit eine wenig menschenfreundlich beschaffene Realität ideologisch kaschiert, verweisen verschiedene Fakten.

Angesichts des Umstandes, dass die bestmögliche Förderung besonders Förderbedürftiger durch inklusive Schulen deren – sich faktisch keineswegs abzeichnende – bessere Ausstattung mit den erforderlichen Ressourcen erforderte, lässt sich der bildungspolitisch verfügte Inklusionszwang als Versuch begreifen, „die Austeritätspolitik im Bildungsbereich unter einem humanen Deckmantel fortzuführen“ (Bernhard 2012, S. 348).

Mithin verschleiert die inklusionskonstitutive Individualisierungs-Euphorie die Tatsache, dass sich das ihr zugrunde liegende Begriffsverständnis einer bestimmten semantischen Zurichtung bedient.

Individualisierung ist insoweit ein „widersprüchlicher Prozeß der Vergesellschaftung“, als sie nicht nur den emanzipatorischen Auf- und Ausbruch aus traditionellen Gegebenheiten bedeuten kann, sondern auch den Umstand benennt, dass Menschen heute „verstärkt auf sich selbst und ihr individuelles Arbeitsmarktschicksal mit allen Risiken, Chancen und Widersprüchen verwiesen“ sind (Beck 1986, S. 119, 116).

Individualisierung heißt insofern, dass Systemprobleme „in persönliches Versagen abgewandelt“ werden (ebd., S. 118).

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Das Buch ist erschienen bei PETER LANG, Edition. Es kostet 20,00 €, die sich lohnen. Für Studenten und Referendare besteht auch die Möglichkeit, dieses Buch beim Stadtverband Gelsenkirchen der GEW auszuleihen.
Das Jahrbuch ist erschienen bei PETER LANG, Edition. Es kostet 20,00 €, die sich lohnen. Für Studenten und Referendare besteht die Möglichkeit, das Buch beim Stadtverband Gelsenkirchen der GEW auszuleihen.

Sonntagsfrage Januar 2017: Rechtstrend ungebrochen. Ist die GroKo alternativlos?

Umfragewerte der Parteien im Januar 2017 (grafik: jurga)

17. Januar 2017. Nach einiger Zeit mal wieder ein Blick auf die Umfragewerte der Parteien. Hier die arithmetischen Mittel aus den – recht aktuellen – Resultaten aller Meinungsforschungsinstitute (außer Allensbach, das in diesem Jahr noch nichts vorgelegt hat).

(Ein Gastbeitrag von Dr. Werner Jurga, zuerst erschienen hier auf jurga.de)

Im Vergleich zu September haben sich durchaus Veränderungen ergeben. Während sowohl SPD als auch Grüne Einbußen hinnehmen mussten, konnten die Unionsparteien zulegen – in beträchtlichem Maße: von 32,5 % auf 36 %.

Das ist erstaunlich. Schließlich weiß der Unionswähler ja gar nicht, ob sein Kreuzchen für Merkels Politik der Mitte gewertet wird. Oder für den konservativen Kurs der CDU oder für die rechtspopulistischen Töne der CSU.

Aber vielleicht ist gerade die enorme Bandbreite des inhaltlichen Spektrums das Geheimnis des Erfolgs der Union in den Umfragen. Wer weiß? Wer es nicht so gut meint mit den Schwarzen, mag sich damit trösten, dass die jetzt gemessenen 36 % noch ein ganzes Stück von den 41,5 % bei der letzten Bundestagswahl entfernt sind.

Wer allerdings darauf hofft, Merkel könne bei der Wahl im September von einer rot-rot-grünen Koalition abgewählt werden, muss schon mit einem äußerst starken Hang zum Optimismus ausgestattet sein.

Gegenwärtig schaffen alle drei Parteien links von der Mitte zusammen nicht einmal 40 %. Vor diesem Hintergrund verliert die programmatische Frage, ob denn Rot-Rot-Grün überhaupt funktionieren könne, spürbar an Bedeutung.

Auf der anderen Seite reicht es auch nicht für Schwarz-Grün, obgleich hier die Ausgangslage freilich ungleich günstiger (45,5 %) ist als für R2G (39,5 %). Nichtsdestotrotz erscheint ein schwarz-grünes Bündnis auf Bundesebene sehr unwahrscheinlich. Für die CSU ist es ausgeschlossen, ein Jahr vor der Landtagswahl in Bayern eine Koalition mit den Grünen einzugehen.

Ja, es hat durchaus Veränderungen in den Meinungsumfragen gegeben. Durchaus beträchtliche. Doch letztlich, also machtpolitisch, spielen sie überhaupt keine Rolle.

Solange eine nationalchauvinistische Kraft wie die AfD mit deutlich mehr als zehn Prozent in den Bundestag einzieht, ist der demokratische Wechselmechanismus zwischen Rechts und Links gestört. Es geht unter diesen Umständen halt nur die GroKo, die wegen der chronischen Schwäche der Sozialdemokraten nicht mehr ganz so groß ist.

Ich weise regelmäßig darauf hin, dass jede Bildung einer Großen Koalition Wasser auf die Mühlen der rechtsradikalen Propaganda ist, derzufolge „die da oben“ alle unter einer Decke steckten.

Das ist ein Dilemma, scheinbar ein Perpetuum mobile der rechten Demokratiefeinde. Dumme Sache, keine Frage. Und doch: hier liegt der Kern des Problems nicht.

Wir beobachten dieses Dilemma zwar überall, wo es ein Verhältniswahlrecht gibt. Doch nationalchauvinistische Kräfte sind auch dort im Aufwind, wo es das nicht gibt oder schlicht nicht so eine herausragende Rolle spielt.

Die rechte Welle rollt, weil die vermeintlichen oder tatsächlichen Verlierer die Rechten wählen, und nicht wegen eines koalitionspolitischen Dilemmas.

Wer glaubt, mit einer schwarz-grünen Koalition sei der AfD-Spuk erledigt, warte die Landtagswahl im Herbst 2018 in Hessen ab. Oder die in Baden-Württemberg ein halbes Jahr später.

Ich befürchte, die Rechtsradikalen werden auch dann gewählt, wenn keine Große Koalition am Ruder ist. Die koalitionspolitischen Dilemmata sind nicht die Ursache für die Wahlerfolge der AfD. Umgekehrt stimmt es jedoch schon: die AfD im Bundestag garantiert die GroKo.

So wie die Dinge liegen, wird die schwarz-rote Bundesregierung in die Verlängerung gehen. Das ist nicht schön. Noch unschöner sind Rechtsradikale im Parlament.

Werner Jurga, 17.01.2017