Ulrich Reitz kommt nicht unfallfrei nach Berlin

berlin1975
Brandenburger Tor mit Berliner Mauer in den 1970er Jahren (archiv: Klein)

Soll man dumme Kommentare kommentieren oder soll man sie mit Nichtachtung strafen?

Der aktuelle Kommentar des Chefredakteurs des Online-Portals des  Westens Ulrich Reitz hat mich erneut zum Widerspruch gereizt. Vor einiger Zeit enthüllte Herr Reitz anläßlich der Diskussion um die Frauenquote sein Frauenbild und heute offenbart er seine regierungstreue Haltung.

Der Titel lautet: Unfallfrei von Bonn nach Berlin – von Ulrich Reitz. Und dann assoziiert der wichtige Zeitungsmann ein merkwürdiges Zeug zusammen. Der Kommentator legt dem imaginären „Wir“ Argumente aus der Nationalstaatsdiskussion des 19.  und frühen 20. Jahrhunderts sowie Versatzstück der Debatte über die Wiedervereinigung in den Mund:

Deutschland wird wieder Nationalstaat. Wir sind wieder wer. Wir Deutschen werden nicht mehr zwanghaft Europas Vorbild sein und das mit unserem Scheckbuch teuer bezahlen. Nicht mehr länger uns künstlich klein halten gegenüber den Nachbarn, den Holländern etwa. Nicht mehr machen, was Frankreich sagt. Unser politisches Auftreten wird unserer wirtschaftlichen Stärke entsprechen; endlich, schließlich haben wir auch die schlagkräftigste Armee auf dem Kontinent. Und wir bekommen unsere starke Mark zurück, trennen uns endlich vom weichen Euro. Und müssen auch nicht mehr andere retten. Unter unsere Geschichte, insbesondere diese zwölf Jahre, ziehen wir einen Schlussstrich.

Herr Reitz behauptet, diese kollektiv und anonym vorgetragenen Äußerungen seien Projektionen während der Wiedervereinigung gewesen. Dass „wir“ diese Projektionen hatten, ist reine Spekulation, denn in der öffentlichen Diskussion spielten sie keine Rolle!

In der Zeit des Kalten Krieges beschwerten sich weder BRD noch DDR-Bürger darüber, machen zu müssen, „was Frankreich sagt“. Damals waren die USA und die UdSSR die Supermächte.
Die Konkurrenz mit den Holländern kann allenfalls in Grenzstädten eine Rolle gespielt haben, im  Rest der Republiken hatte sich dies Problem nicht herumgesprochen.
Und „unsere Mark zurück“ wollte damals auch keiner, denn die hatten wir ja noch.  Ergo wollte sich auch damals noch keiner vom Euro trennen, denn den gab es noch gar nicht.

Die oben genannten Projektionen hätten, so Ulrich Reitz,  für die Hauptstadt Berlin gestanden.  Und das vor 20 Jahren. Heute sei diese Diskussion der Jugend gar nicht mehr zu vermitteln und  Herr Reitz schließt seinen Kommentar mit den Worten:

Dieser Umzug von Bonn nach Berlin war nicht der befürchtete oder erhoffte Bruch mit der deutschen Nachkriegsgeschichte. Eine stabile, soziale Demokratie, fest eingebunden in Europa (auch wenn der Atom-Ausstieg ein deutscher Alleingang war), an der Seite Amerikas, auf gute Beziehungen erpicht mit Moskau, das ist heute die deutsche Realität. Trotz Berlin. Oder wegen Berlin?

Fazit: Die aufgeregte Debatte um die“Berliner Republik“ war gar nicht schlecht. Sie hat klar gemacht, was nicht gewünscht war: Eine Rückkehr Preußens. Bonns rheinische, weltoffene Gelassenheit lebt nun in der neuen Hauptstadt fort.

Auch hier wieder ein Sammelsurium von Gedanken, Behauptungen und Fehleinschätzungen. Wer genauer hinsieht, der bemerkt eine ganze Reihe von Brüchen mit der deutschen Nachkriegsgeschichte: Noch nie hat sich ein deutsche Regierung so wenig um das deutsch-französische Verhältnis bemüht. Die Nicht-Beteiligung am Libyen-Einsatz ist Beispiel eines weiteren Alleingangs der Bundesregierung – explizit auch ohne Frankreich. Unsere Demokratie ist so stabil, dass wir aufgrund der Nachlässigkeit der schwarz-gelben Regierung demnächst ohne verfassungsmäßiges Wahlrecht dastehen.

Nein, „wir“, die Bürger der Bundesrepublik Deutschland, sind keinesfalls unfallfrei von Bonn nach Berlin gekommen, auch wenn wir heute nicht in Preußen leben. Einer Kanzlerin, die Spaniern, Griechen und Portugiesen nahelegt,  fleißiger zu arbeiten, fehlt es an Weltoffenheit. Ebensowenig ist militärisches Engagement deutscher Soldaten in der Welt  das Zeichen einer kosmopolitischen Haltung. Allenfalls die im Kommentar genannte  Gelassenheit, die schon fast an Apathie grenzt, die lasse ich als Merkmal dieser Regierung gelten.

Umleitung: Mondfinsternis, Meinung statt Fakten, Merkel in Afganistan, Lebenskundeunterricht, Bodo Zapp, mieser Journalismus zur Schulpolitik und mehr.

Heute Abend: der Mond über Winterberg (foto: zoom)
Heute Abend: der Mond über Winterberg (foto: zoom)

Mondfinsternis zur Wintersonnenwende: NASA to Help Guide Public Through Lunar Eclipse … parabolicarc

Meinung statt Fakten: In den USA verändert sich Journalismus: Im Mutterland der objektiven Nachricht boomt die Meinung – je radikaler, desto besser … evangelisch

Berliner Schulen: jeder sechste Schüler im Lebenskundeunterricht … hpd

Merkel in Afghanistan: wie im Krieg … nachdenkseiten

Original und Übersetzung – „celebrating Mahavishnu“: „John Mc Laughlin, der die meisten dieser Stücke geschrieben hat, war zu diesem Zeitpunkt bereits wieder von den meisten Drogen runter.“ … ruhrbarone

Was kommt nach Bodo Zapp? Diskussion um Ausrichtung der Westfalenpost. Nichts Genaues weiß man nicht, aber das, was man weiß, ist anscheinend nicht erfreulich. Das Gras wachsen hören kann man bei  … medienmoral und medienmoral

Museums- und Kulturforum Südwestfalen: 12 Mio Euro verbuddeln? … sbl

WAZ Redakteur Goebels baut Popanz* auf und fragt: Maulkorb für kritische Lehrer in Arnsberg? … DerWesten

* der verlinkte Artikel ist journalistisch miserabel. Goebels gibt lediglich die Einflüsterungen des sogenannten Schulexperten der CDU wieder. Er hat es nicht geschafft, zum Telefonhörer zu greifen und die „andere Seite“ zu befragen, nämlich die Landesregierung. Im übrigen ist es ein Euphemismus, Klaus Kaiser als Schulexperten anzuführen. Ich habe ihn in Olsberg als eher inkompetent in Fragen der Gemeinschafts- und Verbundschule erlebt – und das auf einer CDU Veranstaltung.

Kongress „Öffentlichkeit und Demokratie“: 1. – 3. Oktober in Berlin

Kongress Öffentlichkeit und Demokratie: 1.-3.10.2010 Berlin

Aus der Ankündigung:

Unter welchen Bedingungen wird in der Bundesrepublik öffentlich über Politik verhandelt? Wer und was kommt zur Sprache, was bleibt im Dunkeln? Welche Möglichkeiten zum Eingreifen haben wir? Und wie sollte eine politische Öffentlichkeit aussehen, die demokratische Teilhabe ermöglicht? Um solche Fragen geht es auf dem Kongress „Öffentlichkeit und Demokratie“ im Herbst 2010 in Berlin.

Der Zustand der politischen Öffentlichkeit löst ein Unbehagen aus, das Oskar Negts These der „unterschlagenen Wirklichkeit“ gut beschreibt. Die veröffentlichte Meinung wird nach wie vor von großen Parteien und Verbänden beherrscht. Dass diese Dominanz nicht in Frage gestellt wird, liegt auch an der Krise der Massenmedien als „vierte Gewalt“ und an der Krise des kritischen Journalismus.

Der Konzentrationsprozess der Medien ist so weit vorangeschritten, dass in vielen Regionen Pressemonopole bestehen. Der Druck von Anzeigenkunden auf die Redaktionen steigt. Teilweise schränken Sparmaßnahmen und repressiver gewordene Produktionsbedingungen die innere Pressefreiheit ein. Die etablierte Öffentlichkeit und insbesondere die kommerziell ausgerichteten Massenmedien tragen eher zur Apathie als zur Aktivierung bei. Öffentlich-rechtliche Medien passen sich der privaten Konkurrenz an. Den Beschränkungen der „vierten Macht“ steht das subtile oder auch offene Wirken von Spin doctors und PR-StrategInnen gegenüber, die sich rühmen, beliebige politische Inhalte in den Massenmedien unterbringen zu können.

Die demokratische Öffentlichkeit ist aber auch an anderer Stelle in Gefahr. Trotz informationellen Selbstbestimmungsrechts und Informationsfreiheitsgesetzen werden Geheimbereiche ausgeweitet, während die BürgerInnen der Datensammelwut von Unternehmen und staatlichen Organen ausgeliefert sind. Auf lokaler Ebene kämpfen kritische Initiativen häufig mit Ignoranz. Sie haben Probleme, öffentliche Diskussionen und die Selbstermächtigung der BürgerInnen anzustoßen. In einigen Kommunen haben gar Rechtsradikale die Meinungsführerschaft übernommen und offen menschenfeindliche Positionen bleiben unwidersprochen. Gerade an der damit verbundenen Praxis ließe sich eine Verlustgeschichte an Publizität bei einer zugleich wachsenden Informationsflut aufzeigen.Wenngleich insgesamt zu Optimismus wenig Anlass zu besteht, so deutet doch nicht alles in Richtung eines Zerfallsgeschichte politischer Öffentlichkeit. … alles und mehr hier lesen

In seiner eigenen Schreibe: Wolfgang Thierse zum Protest gegen den Aufmarsch der Neonazis am 1. Mai in Prenzlauer Berg

Ein medialer Sturm fegt seit gestern über den Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse hinweg. Thierse hatte am 1. Mai in Berlin an einer Sitzblockade gegen den Aufmarsch von Neonazis teilgenommen. Wir dokumentieren hier die Position von Thierse so wie er sie auf seiner Website veröffentlicht hat.

Dass Neonazis mitten durch Berlin und unseren Stadtteil Prenzlauer Berg marschieren, können Demokraten nicht schweigend hinnehmen, denn Schweigen wird allzu oft als Zustimmung missverstanden. Deshalb haben sich am 1. Mai rund 10.000 Berliner versammelt, um den Aufmarsch der Rechtsextremen zu verhindern.

Als der Demonstrationszug der Neonazis begann, gingen wir (der Bezirksbürgermeister von Pankow, Matthias Köhne, der Integrationsbeauftragte des Berliner Senats, Günter Piening, der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Wieland und ich) im Einvernehmen mit der Polizei vor dem Demonstrationszug der Neonazis her und trugen Plakate mit der Aufschrift „Berlin gegen Nazis“. Schließlich haben wir uns den marschierenden Neonazis in den Weg gesetzt.

Unser Protest war friedlich, fröhlich und gewaltfrei. Nachdem die Polizei mehrfach dazu aufgefordert hatte und ein Einsatzleiter der Polizei mich im persönlichen Gespräch bat, die Sitzblockade aufzuheben, verließ ich mit seiner Hilfe widerstandslos die Fahrbahn. Denn unser Protest richtete sich nicht gegen die Polizei, sondern gegen die Nazis. „Die Beamten erfüllen ihre polizeiliche Pflicht und wir Demonstranten tun unsere staatsbürgerliche Pflicht.“

Ich bin froh, dass an diesem Tag 10.000 Berliner die Courage hatten, sich den Nazis in den Weg zu stellen, um ihre Straßen und Plätze zu verteidigen und den Missbrauch des 1. Mai durch Rechtsextreme zu verhindern. „Man muss seine Wut und seine Ablehnung gegen Neonazis auch ausdrücken dürfen!“

Berlin mit dem Rad ist ein Traum, meint eine Engländerin.

Helen Pidd begeistert sich im Fahrrad-Blog des Guardian für das Radeln in Berlin. Wir begeistern uns heute über den Artikel von Helen. Denn sie hat recht:

Having found myself enjoying an unexpectedly long sojourn in Berlin this past week – courtesy of the Iceland volcano – I decided to make the most of it by hiring a bike to pootle around one of my favourite places in the whole world.

Berlin is not, on the surface of it, a classic cycling city. The public transport system actually works, so you don’t need to saddle up to be sure of reaching your destination on time. A portmanteau of two capitals, it is also huge, and so getting from one side of it to the other by bike can really test your legs. Plus there are cobbles all over the shop. Despite all this, it is a really marvellous place to cycle. Here are 10 completely subjective reasons why.

1. The streets are crazily wide

Thanks to a combination of Allied bombing and the Communists‘ insatiable appetite for tearing down lovely old buildings and replacing them with brutal new ones, many of Berlin’s streets are incredibly wide. Yesterday I pedalled from Alexanderplatz (site of the 1989 protests) down Karl Marx Allee, the archetypal example of East German roadbuilding. Constructed to show off Communist town planning after WWII, this imposing boulevard is almost 90m wide. Even the pavements are broad enough for tanks to drive down two abreast.

2. You can cycle on the pavement

Well, you usually, can, anyway. All but the narrowest pavements have bike paths built into them.

3. No one tells you off for not wearing a helmet

Helmet use is on the up in Berlin. When I was a student here seven years ago, I don’t remember anyone wearing a helmet, but I’ve noticed the odd one this past few days. At least once a week in London a friend or colleague will ask: „Where’s your helmet?“ Not here.

Alle zehn Gründe kann man hier nachlesen.

Umleitung: Feuerbach, Demoprügel, Schützenwesen und KanzlerInnenduell

Ludwig Feuerbach: Zwiespalt zwischen Diesseits und Jenseits aufheben … hpd

Opportunismus nach Links: Matussek driftet … nachdenkseiten

Polizei I: schlägt Demonstranten zusammen … ruhrbarone

Polizei II: noch ein Link mit noch mehr Links… fefes

freiheit statt angst / freedom not fear – demo 12.09.2009 from Gerd Eist on Vimeo.

Bildung im HSK: Schulausschusssitzung beantragt … sbl

Heimatzeitung: Vier neue Stadtschützenkönige … wpBrilon

Steinmeier und Merkel: SPD veranstaltet Public Viewing … nrwspd

Blick nach Berlin: Lobby-Szene interaktiv

Die Reichstagskuppel (photo: zoom - as usual)
Die Reichstagskuppel (foto: zoom – [as usual])

Frontal21 (ZDF) hat LobbyControl bei einer Stadtführung in Berlin begleitet und eine interaktive Karte der Berliner Lobby-Szene erstellt. Mit einem Klick auf die markierten Adressen lassen sich kleine Informationsfilme über die dort residierenden Lobbygruppen aufrufen. Ein nettes Gadget 😉

Michael Wolffsohn: Die Mauer ist weg – Brückenschlag zwischen Nationen, Religionen und Generationen, aber auch schichtenübergreifend. Das ist alternativlos, notwendig – und möglich

Nachdem ich gestern den Artikel über Gastarbeiter, Islamismus und die aufgeklärten Deutschen bei den ruhrbaronen gelesen und verlinkt hatte, fiel mir etwas später ein Interview mit Michael Wolffsohn ein, welches ich vor einiger Zeit gelesen, aber noch nicht verdaut hatte.

Wolffsohns Artikel habe ich immer mit Interesse gelesen, obwohl mir manche seiner Gedanken „querlagen“. Aber wir lesen ja nicht nur, um in unserer Meinung bestätigt zu werden 😉

Der Historiker Michael Wolffsohn spricht in dem Interview vom März diesen Jahres über sein Gartenstadtprojekt in Berlin, den Umgang der jüdischen Gemeinschaft mit nichtjüdischen Ehepartnern, das «Eiserne Kreuz» und eine damals aktuelle Papst-Ausstellung.

Herr Wolffsohn, Sie sind Eigentümer der «Gartenstadt Atlantic», einem deutschjüdisch- türkischen sozial und integrationspolitischen Wohnprojekt mit 50 Häusern im Berliner Stadtteil Wedding. Was beabsichtigen Sie mit diesem kulturellen Konzept einer Gartenstadt?

Den Brückenschlag zwischen Nationen, Religionen und Generationen, aber auch schichtenübergreifend. Das ist alternativlos, notwendig – und möglich. Kultur ist dabei unser Integrationsinstrument. Ihr Verlag sollte sich hieran ideell und materiell beteiligen. Meine «Knete» als deutscher Professor – und mehr habe ich nicht – reicht bei weitem nicht aus, um das nachhaltig fortzuführen.

Am 12. März veranstalten Sie in Ihrer Gartenstadt mit der Bundeskanzlerin Merkel, jüdischen und türkischen Vertretern einen großen Empfang unter dem Motto «Muslime und Juden feiern gemeinsam: 60 Jahre Israel – 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland ». Inwieweit ist die Veranstaltung auch so etwas wie ein Erfolgsbeweis ihres Wohnmodells?

Das ist der Erfolg schlechthin, zumal die Initiative hierzu von meinen muslimischen Freunden Mehmet Daimagüler und Özcan Mutlu (MdA, Bündnis 90/Die Grünen) kam. Eine schönere Belohnung kann ich mir nicht denken. Das Interesse an der Veranstaltung ist enorm. Das ist ein gutes Zeichen. Dieses Wohnmodell ist eben mehr: Es ist ein Gesellschaftsmodell.

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