„Konzentration kann durch Training verbessert werden.“ (Buchcover)
Was verbessert die Konzentration beim Lernen? Ermahnungen wie „Nun pass aber mal auf!“ oder „Gestern hast du es doch noch gekonnt!“ helfen gar nichts. Konzentration ist nun mal keine reine Willenssache.
Die gute Nachricht ist: Konzentration kann durch Training verbessert werden.
„Konzentration – der Schlüssel zum Schulerfolg“ erklärt anschaulich und verständlich, was Konzentration ist, wie sie gefördert und beim Lernen ganz praktisch unterstützt werden kann.
Wie immer bei Sachbuchautor Detlef Träbert gibt es eine Fülle von Tipps, Übungen und Spielen. Dies alles verknüpft mit Fragebögen, anregenden Zitaten und wissenschaftlichen Erkenntnissen ergibt einen hilfreichen und leicht lesbaren Ratgeber.
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Detlef Träbert: Konzentration – der Schlüssel zum Schulerfolg, Dreieich (MEDU Verlag) 2020, 188 S., € 14,95
In den USA war ich nie und werde ich nie sein. Aber ich habe, neben meiner unrettbar USA-dominierten Musiksammlung, drei USA-Ecken in meinem Bücherschrank, die mir viel bedeuten. Zum einen die literarischen Realisten von Twain über Dos Passos und Lewis bis Faulkner, dann die frühen Comics von Feininger, Herriman und, ja, auch Disney, schließlich die Reiseberichte europäischer Intellektueller über ihre Wahrnehmungen im Land. Um letztere soll es hier gehen.
(Der Artikel von Christian Gotthardt ist im September zuerst im Harbuch erschienen.)
Arthur Holitscher: Amerika heute und morgen, Berlin 1912. Im Versandantiquariat zu haben für ca. 30 €, Neuauflagen teilweise deutlich günstiger.
Arthur Holitscher: Amerika heute und morgen
Ihn kennt heute kaum noch jemand. Von etwa 1900 bis in die 1920er und 1930er Jahre hinein war er dagegen einer der bekanntesten und erfolgreichsten „Reiseschriftsteller“.[1] Wie der muntere Kommunist Egon Erwin Kisch, aber eher von bürgerlich-liberaler Seite. Er brachte seinen Lesern das Alltagsleben der neuen großen Mächte nahe, der Sowjetunion und eben auch der USA. Lesern, die damals absehbar keine Chance hatten, jemals selbst dorthin zu gelangen. Es sei denn in Uniform.
Holitschers großes Talent waren die psychologische Einfühlung und der Wortschatz seiner Beschreibungen. Franz Kafka soll, nur auf Basis der Lektüre Holitschers, die grandiosen New York-Schauplätze in seinem Roman „Amerika“ gestaltet haben. Und das Lebensgefühl in dieser Stadt.
Der Autor geht, nach den im Übrigen von allen der hier erwähnten Autoren gewissenhaft absolvierten Stationen Ellis Island, Wolkenkratzer usw., ganz eigensinnige Wege. Seine sensiblen Beobachtungen über pädagogische Reformversuche, über die Multikulturalität Kanadas, über das brutale Leben in Chicago sind unbedingt lesenswert.
Als befremdlich stoßen Holitschers Bemerkungen zur sog. Rassenfrage auf. Er ist zwar um eine humane Sicht bemüht, kolportierte aber zahllose rassistische Stereotype. Dies ist lehrreich, zeigt es doch, wie wenig geübt auch offene, gebildete, liberale Europäer zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Umgang mit diesem Thema waren. Hier hatte der Kolonialismus offenbar ein Problem aufgeworfen, das aus dem Gefühls- und Kenntnishorizont des Alte-Welt-Establishments nicht zu lösen war. Wie ich in einem anderen Kontext lernen konnte: Erste, wirklich überzeugende antirassistische Positionen entstanden erstmals in den linksradikalen Seeleutegewerkschaften, die mit der kommunistischen Internationale kooperierten (so z.B. auf dem „Ersten Internationalen Kongress der Hafenarbeiter und Seeleute“ in Hamburg 1931).
Arthur Holitscher: Wiedersehen mit Amerika, Berlin 1930. Das Buch ist derzeit knapp und leider nur zu unangemessenen Preisen erhältlich. Abwarten…
Arthur Holitscher: Wiedersehen mit Amerika
18 Jahre später, der Versuch einer Fortsetzung des Bestsellers. Vielleicht aber auch, oder vor allem, eine Art Widerruf der ehedem eher euphorischen Sicht. Der Text ist weit weniger ausladend, abstrakter und sehr konzentriert und kritisch.
Simone de Beauvoir: Amerika Tag und Nacht, Hamburg 1950. Im Versandantiquariat zu haben für 2 bis 10 Euro.
Simone de Beauvoir: Amerika Tag und Nacht Hierbei handelt es sich um das Reisetagebuch einer USA-Vortragstournee vom 25. Januar bis zum 20. Mai 1947. De Beauvoir, in Frankreich bereits gefeierte Erzählerin und Essayistin, ließ sich auf Vermittlung des französischen Kulturministers an den amerikanischen Universitäten herumreichen und nahm an zahlreichen Diskussionsrunden teil. Im Vordergrund standen die großen Themen der Welt-Nachkriegsordnung, kulturelle Gemeinsamkeiten diesseits und jenseits des Atlantiks, das Verständnis von Nation und Demokratie usw. Die engagierte Diskutantin tagte, in dichtem Zigarettenqualm und mit stets gefülltem Wiskeyglas, mit ihren amerikanischen Gesprächspartnern aus Wissenschaft und Literaturbetrieb meist bis spät in die Nacht, wobei dann auch heiklere Themen wie Rassismus oder Sexismus zur Sprache kamen.
Was mir an diesem Buch gefällt, ist vielleicht in den Augen anderer sein größter Mangel: De Beauvoir geht mit einer stets störrisch aufgesetzten europäischen Schutzbrille an die USA heran, und setzt sie niemals ab. Genauer gesagt, einer französischen, humanistischen, laizistischen Schutzbrille. Sie mag einfach nicht akzeptieren, das Schlimmes in den USA passiert, weil es immer schon so passiert sei. Dies Argument lässt sie nicht gelten. Sie erinnert mich an einen von mir geschätzten Lehrer in meiner Schülerzeit. Als ich auf seine frustrierte Feststellung, die von der Schulleitung veranlasste Aufteilung der Pausenräume in Raucher und Nichtraucher würde nicht befolgt, antwortete, in dem einen Raum träfe sich die Junge Union und in dem anderen die Linken, und beide würden rauchen, sagte er: Wenn die Realität falsch ist, muss man sie ändern. Klassischer maoistischer Voluntarismus, aber manchmal ein fruchtbarer Denkanstoß. Selige 1970er Jahre.
Bei De Beauvoir beweist sich dies vor allem in der Darstellung ihrer Gespräche mit Literaten und Aktivisten im Umfeld der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, die sie konsequent suchte und ausführlich schildert.
Volkhard Brandes: Good bye, Uncle Sam, München 1971. Im Versandantiquariat zu haben für 3 bis 15 Euro.
Volkhard Brandes: Good bye, Uncle Sam
Dieses Buch habe ich 1974 gelesen, wir hatten es damals in unserer (vor dem Schulgelände verkauften) Schülerzeitung empfohlen. Es brachte meine in der Kindheit und beim Heranwachsen entstandenen USA-Wahrnehmungen auf einen plausiblen Nenner. Der meinen Blick bis heute prägt.
Meine Wahrnehmungen hatten viel mit dem Vietnam-Krieg zu tun. Ich erinnere mich an zwei Schlaglichter: Die legendäre Fotoserie des „Stern“ über die Ausbildung von Kommandoeinheiten der US-Marines, und die allsonntägliche Berichterstattung des ARD-Magazins „Weltspiegel“ über die Kampfhandlungen. Das war alles stark erklärungsbedürftig, und ich war dankbar, dass mein großer Bruder, als „68er“, da war, mir beim Verstehen zu helfen.
Bei Brandes lernte ich dann die Gesellschaft kennen, die hinter diesem Krieg stand. Er hatte Englisch und Amerikanistik studiert und war mehrfach durch die USA getrampt, hatte an Protesten gegen den Krieg teilgenommen und war auch abgeschoben worden. Sein Bericht ist nicht systematisch. Er gibt verstörende Snapshots preis, die vor allem deshalb verstörend sind, weil sie das, was wir geneigt sind für unsere europäischen Kulturstandards zu halten, massiv unterlaufen: Amerikanische Nazis, Slums in New York, Polizeikorruption und -gewalt, Truthahn-Wahnsinn der Mittelschicht bei Thanksgiving, Hire and Fire usw.
Vielleicht damals eine vorurteilsbedingte Wahrnehmung eines deutschen Linken? Aber wenn wir die derzeit vom Trump-Aufstieg in den USA bzw. AfD-Aufstieg in Deutschland ausgehenden Tabubrüche bedenken, vielleicht doch eher eine gespenstische Weissagung. The times they are a`changing.
24 Stunden nichts als Wasser, Wasser, Wasser. Da ist es kein Wunder, wenn sich die Nordlandreisenden auf der Fähre von Dänemark nach Island nach „Land in Sicht“ sehnen. Als die Shetland-Inseln zu sehen waren, kam es folglich auf der Backbordseite zu einem großen Auflauf.
(Der Artikel ist zuerst auf Harbuch.de erschienen. Text und Bilder: Angela Jansen. Informationen zur Autorin siehe unten.)
Alle wollten das beste Foto schießen, trotz verhangenen Himmels, Regens und Nebelschwaden – schließlich sollte sich die Investition in die dicke Kamera ja gelohnt haben oder die Lieben zuhause zeitnah eine whats-app-Nachricht erhalten.
Da ich mit meiner billigen Digitalkamera von diesem Motiv sowieso kein vernünftiges Foto machen konnte, richtete ich das Objektiv auf die Fotograf*innen. Nach den Fotos entstanden dann im Atelier Skizzen mit Tusche und Wasserfarben. Damit man auch weiß, wohin sie alle gucken bzw. was sie fotografieren, fügte ich Holzschnitte des begehrten Motivs hinzu.
Das Konzept der Ausstellung ist es, Kunst zu günstigen Preisen anzubieten, auf dass die Bilder weggehen „wie geschnitten Brot“. Jede Künstlerin und jeder Künstler hat einen Raum von 1 x 3 Meter zur Verfügung. Wer Kunst wie das tägliche Brot benötigt oder einfach mal in der Fülle der Kunstwerke schwelgen will, ist herzlich eingeladen nach Dortmund.
Die Ausstellung im kunstbetrieb ist geöffnet vom 31. August bis zum 28. September Montag bis Freitag 11–13 Uhr und 15 Uhr–18 Uhr, Samstag 11–13 Uhr.
Am 31. August findet in der Dortmunder Nordstadt der Hafenspaziergang statt, ein großes Quartiersfest. An diesem Samstag ist die Ausstellung von 14.00–22.00 Uhr geöffnet. Anlässlich der Offenen Nordstadtateliers am 28. und 29. September öffnet der kunstbetrieb am Samstag von 15–20 Uhr und am Sonntag von 11–18 Uhr.
Angela Jansen, Jahrgang 1958, geboren in Düsseldorf, aber zuhause im Norden (Witzwort und Harburg), ist Dipl.-Designerin und seit vielen Jahren Inhaberin der kleinen Werbeagentur fraujansen kommunikation. Nebenher malt und holzschneidet sie. Zu Harbuch.de hat sie ein enges familiäres Verhältnis. So erscheinen dort gelegentlich auch Artikel von ihr, z.B. über die Logos von Harburger Firmen oder über kleine bänke. e-Mail: aj@fraujansen.de
Ein neuer Sammelband beleuchtet die staatskirchliche Militärseelsorge und erschließt Vorbilder der Befreiung.
(Text: Peter Bürger)
Nach dem im Juli erschienenen Sammelband „Im Sold der Schlächter“ über die Militärseelsorge im Hitlerkrieg legen wir mit dem zweiten Titel „Die Seelen rüsten“ eine aktuelle Kritik der staatskirchlichen Militärseelsorge vor. Kooperationspartner ist wieder das Ökumenische Institut für Friedenstheologie. Dieses Buch enthält in erster Linie Beiträge aus christlicher Sicht, doch es kommen auch Vertreter einer antimilitaristischen, humanistischen und laizistischen Kritik zu Wort.
Im Zuge der Remilitarisierung wurde ab 1950 in Westdeutschland ein neues Militärkirchenwesen aufgebaut. Federführend beteiligt waren geistliche Assistenten des Hitlerkrieges aus beiden Konfessionen. Pazifistische Abweichler wurden in den Kirchen zum Teil kaltgestellt, während die militärfreundlichen Amtsträger der Regierung treu zu Diensten standen.
Die Militärpfarrer sind bis heute Beamte und dem Bundesministerium für das Militärressort zugeordnet, das sie aus Steuergeldern auch besoldet. „Auf dem Felde“, das heißt im Einsatz außer Haus oder im Ausland, tragen die Seelsorger sogar den Tarnanzug der Soldaten. Der staatskirchliche Charakter dieses Komplexes liegt offen zutage. Es spricht vieles dafür, ihn als unvereinbar mit den Anforderungen des Grundgesetzes zu betrachten.
Die Kirchen in der DDR blieben hingegen staatsfern und nahmen später einen entschiedenen Friedens-Standort ein, der sie allein an Jesus von Nazareth band. Ihre Seelsorge für Wehrpflichtige, Bausoldaten und Verweigerer vollzog sich unabhängig, als rein kirchliche Aufgabe. Nach der staatlichen Vereinigung wurden die Erfahrungsschätze der „DDR-Christenheit“ ignoriert. Kritik an der staatskirchlichen Verflechtung, wie sie Pfarrer Axel Noack (Kirchenprovinz Sachsen) 1990 vorgetragen hat, ist 2019 dringlicher denn je: „Mit dem Militärseelsorgevertrag geht die Kirche eine >Grundbindung< an die Armee ein, die der Freiheit ihrer Verkündigung gefährlich werden kann … (Es) hat die Kirche sich ohne Not in eine Bindung begeben, die die Klarheit ihres Zeugnisses verdunkeln muss … Im demokratischen Rechtsstaat … besteht nicht die Nötigung zu einem Militärseelsorgevertrag.“
Derzeit gibt es in vielen Kirchen der Christenheit einen Aufbruch hin zur biblischen „Doktrin“ der aktiven Gewaltfreiheit und zu einem entschiedenen Friedenszeugnis – mit klarem Standort im Sinne der Botschaft Jesu. Dass jüngst mehrere Bücher von hochrangigen Militärseelsorgern erschienen sind, die die staatliche Militärdoktrin stützen, wirkt da nicht mehr ganz zufällig.
Unser Sammelband vermittelt Orientierung, Impulse und Befreiungswege für die Debatte über das Militärkirchenwesen – mit Texten von: Ralf Becker, Wolfram Beyer, Peter Bürger, Gerhard Czermak, John Dear, Matthias-W. Engelke, Erasmus von Rotterdam, Hanna E. Fetköter, Albert Fuchs, Joachim Garstecki, Matthias Gürtler, Ullrich Hahn, Georg D. Heidingsfelder, Hartwig Hohnsbein, Uwe Koch, Victoria Kropp, Gerhard Loettel, Walter Mixa, Franz Nadler, Thomas Nauerth, Martin Niemöller, Leo Petersmann, Rainer Schmid, Tertullian, Reinhard J. Voß, Bernhard Willner, Bernd Winkelmann und Hans Dieter Zepf.
Das Buches enthält insgesamt 46 Beiträge, thematisch gegliedert nach zehn Abteilungen:
Jesus und das Konstantinische Kirchentum
Antimilitaristische, humanistische und laizistische Kritik der Militärseelsorge
Wiederbewaffnung und Neuaufbau des Militärkirchenwesens
Friedenszeugnis ohne staatskirchliche Verflechtung in der DDR – Durchsetzung des westdeutschen Modells
Stimmen aus dem Versöhnungsbund
Sakralisierung des Militärkomplexes
Ökumenische Initiativen zur Abschaffung der staatskirchlichen Militärseelsorge
Stimmen aus dem Kreis der katholischen Friedensbewegung
Wie staatstreu sind die Kirchen in der Friedensfrage?
Beistand für Soldaten, Infrastrukturen des Friedens und Vorbilder einer neuen Freiheit
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„Die Seelen rüsten“. Zur Kritik der staatskirchlichen Militärseelsorge. Herausgegeben von Rainer Schmid, Thomas Nauerth, Matthias-W. Engelke und Peter Bürger. (edition pace 8.) Norderstedt 2019. [ISBN: 9783749468041; Seitenzahl: 456; zahlreiche farbige Abbildungen; Preis 15,99 Euro].
https://www.bod.de/buchshop/die-seelen-ruesten-9783749468041
(Leseprobe mit Inhaltsverzeichnis oben links abrufbar). Mit einer Direktbestellung bei BoD fördern Sie die Friedensbibliothek der edition pace; das Werk ist auch überall vor Ort im Buchhandel bestellbar.
Ein neues Dokumentationsbuch beleuchtet die staatskirchliche Assistenz beim Vernichtungsfeldzug gen Osten – ein Angebot auch für Leser, die sich keine teure Fachliteratur leisten können
(Text: Peter Bürger)
Nahezu ausnahmslos standen die Kirchenleitungen der beiden großen Konfessionen 1939 bereit, um dem Staatswesen – wie schon 1914-1918 – erneute Kriegsbeihilfe zu leisten, und sie waren keineswegs unvorbereitet. Rückblickend wird der römisch-katholische Feldgeneralvikar der Wehrmacht – und nachmalige erste Militärgeneralvikar der Bundeswehr – Georg Werthmann dies noch in einer Notiz vom 23. Mai 1945 (!) stolz vermerken: „Es kann schon heute gesagt werden, dass die mobmässige [d.h.: im Zuge der Mobilmachung erfolgte, Anm.] Vorbereitung der Feldseelsorge in den Jahren von 1937 bis zum Beginn Kriegs besser und gründlicher durchgeführt wurde als in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Das Feldgesangbuch war gedruckt, die Kriegspfarrer namhaft gemacht.“
Die Kirchenleitungen unterstützten von Anfang an die Kriegsführung des nationalsozialistischen Führers, und 1941 erinnerten sie daran, dass sie ja schon lange einem christlichen Feldzug gegen den „gottlosen Bolschewismus“ das Wort geredet hätten. In vielen Aufsätzen taucht später die Behauptung auf, von einer eigentlichen Kriegsbegeisterung sei aber nichts zu spüren gewesen. Nach dem Studium der Primärquellen fragt man sich, was mit diesem Stereotyp eigentlich ausgesagt werden soll. Wie wären denn die Kriegsworte der Hirten – samt der Voten für „Lebensraum-Sicherung“ – im Fall von noch mehr „Begeisterung“ ausgefallen?
Hitlers Rasse- und Vernichtungskrieg begann nicht erst 1941, sondern schon im September 1939, als Einheiten der Wehrmacht Tausende von polnischen Katholiken und Juden, Zivilisten und Kriegsgefangene ermordeten. Hinsichtlich des Völkermordes an etwa 17 Millionen sowjetischen Zivilisten (und Zwangsarbeitern) und weit über vier Millionen kriegsgefangenen Sowjetsoldaten (Mord durch Waffen, Hungerregime, biologische Kriegsführung) im Verlauf des „Ostfeldzuges“ hat sich bis heute keine öffentliche Gedenkkultur in unserem Land entwickeln dürfen. Doch die seit Ende des Kalten Krieges in der Geschichtswissenschaft vollends vollzogene Revolution der Faktenermittlung ist wohl nicht mehr rückgängig zu machen, auch wenn die neuen Deutschnationalen im Parlament die Genozide von Wehrmacht und SS-Einheiten als „Vogelschiss“ in der Geschichte bewertet wissen wollen und ein „Recht“ einfordern, „stolz zu sein auf Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen“.
Das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) war sich 1941 voll bewusst, dass nicht etwa eine Bekämpfung der „bolschewistischen Weltanschauung“ das Kriegsziel war, sondern der Raub von Ressourcen und die Eroberung von neuem Lebensraum für die „arische Rasse“. Hierzu mussten die „slawischen Untermenschen“ diesen „Lebensraum“ unfreiwillig verlassen, was nur durch systematischen Völkermord erfolgen konnte. Von vornherein plante man bis zu 30 Millionen Hungertote ein, weil die Wehrmacht sich als berechtigt ansah, die eigene Versorgung über den Diebstahl der Lebensmittel der von ihr als lebensunwert betrachteten Bevölkerung in eroberten Gebieten zu organisieren (und z.B. Kinder als lebendige „Blutkonserven“ für deutsche Soldaten zu internieren). Die genozidale „Partisanenbekämpfung“ der Wehrmacht, bei der die wirkliche Zahl der bewaffneten Widerstandskämpfer gegen die Angreifer einfach per Definition verzehnfacht wurde, diente zur Rechtfertigung, die Bevölkerung Dorf für Dorf für Dorf … vollständig zu ermorden.
Ein sogenannter „Sühnebefehl“ vom 16.9.1941 bestimmte, für jeden vom Untergrund erschossenen Angehörigen der Wehrmacht 50 oder 100 Zivilisten hinzumetzeln. Die Vernichtung der Juden während des Ostfeldzugs wurde vorzugsweise von großen Hinrichtungskommandos „geleistet“, die Tag und Nacht im Schichtdienst ihr Massenmordhandwerk verrichteten. All dies war selbstredend nur zu bewerkstelligen, wenn man die eigenen Soldaten so zurichtete, dass vielen von ihnen das Abknallen, Quälen, Vergewaltigen und Rauben am Ende regelrecht Spaß bereitete und ungezählte Waffenträger innerlich starben, hernach auch als seelisch Tote aus dem Krieg heimkehrten …
Das Wissen um diese Potenzierung des modernen Kriegsgrauens, das so lange verschüttet war, macht es heute notwendig, die Kriegsaufzeichnungen aus dem militärkirchlichen Apparat des „Ostfeldzugs“ und die Nachkriegserinnerungen von beteiligten Militärgeistlichen mit ganz anderen Augen zu lesen. Die Priester und Pastoren in Soldatenuniform, erhoben in den Offiziersrang, waren nahe Zeugen der Verbrechen. Ihnen hatte man die Aufgabe zugewiesen, die Gewissen zu beruhigen, die Deserteure zum Schuldeingeständnis zu bewegen, den Verwundeten beizustehen und die Soldatengräber – bisweilen auch die Mordwaffen – einzusegnen.
Nach 1945 etablierten sich freilich zunächst Deutungsmuster, die jegliche Beunruhigung von vornherein abwehrten: Der Krieg gegen die Sowjetunion galt trotz allem irgendwie einer „richtigen Sache“. Die Wehrmacht war summa summarum – in „guter deutscher Militärtradition“ – „anständig“ geblieben, denn nur der Waffen-SS musste vorgeworfen werden, den Weg der Ritterlichkeit bisweilen verlassen zu haben. Die Soldaten hatten schier „Übermenschliches“ geleistet (die „Besten“ waren wie eh und je „gefallen“). Auch die – von Hitler ausdrücklich gebilligte, von der Partei aber zunehmend drangsalierte – Militärseelsorge hatte nach eigenem Bekunden im Verein mit dem traditionsbewussten Teil der Wehrmacht Unglaubliches unter schwierigsten Bedingungen vollbracht …
Man nehme nur das 1964 veröffentlichte Geschichts- und Geschichtenbuch des evangelischen Wehrmachtdekans a. D. Albrecht Schübel über „300 Jahre Evangelische Soldatenseelsorge“ zur Hand. Der Verfasser ist sich nicht sicher, ob Hitler überhaupt Krieg gewollt hat. Vieles, was uns ungeheuerlich erscheint, wird von ihm ganz unbefangen und stolz vorgetragen. Dieser hochrangige Feldgeistliche schätzt sich u.a. glücklich, vorzügliche Referenzen von Generälen der Wehrmacht über die Militärseelsorge im Zweiten Weltkrieg anonymisiert abdrucken zu können. Mit solch guten Zeugnissen versehen konnten viele Kriegstheologen im Zuge der Wiederbewaffnung problemlos ihre militärkirchliche Karriereplanung wieder aufnehmen.
Hitlers Kriegsapparat ist von deutschnationalen und NS-nahen Priestern, von bekennenden und deutschchristlichen Pastoren … und sogar von ausgesprochenen Regimegegnern in der Geistlichkeit gestützt worden. Die Apologeten übersehen einen entscheidenden Punkt: Für die Opfer sind die unterschiedlichen vaterländischen Ausrichtungen der Assistenten des Vernichtungskrieges nicht von Belang gewesen. So oder so waren Millionen Tode das Ergebnis.
Jahrzehntelang wurden die Abgründe der staatskirchlichen Kriegsbeihilfe 1939-1945 verschleiert. Die neue, in Kooperation mit dem Ökumenischen Institut für Friedenstheologie herausgegebene Dokumentation erschließt auf 440 Seiten Forschungsbeiträge, Quellentexte, Interviews und Kommentare zur Militärseelsorge der beiden großen Kirchen in Hitlers Vernichtungsfeldzug. Die Richtlinien (24.5.1942) fielen denkbar eindeutig aus: „Die Feldseelsorge ist eine dienstliche Einrichtung der Wehrmacht. […] Der siegreiche Ausgang des nationalsozialistischen Freiheitskampfes entscheidet die Zukunft der deutschen Volksgemeinschaft und damit jedes einzelnen Deutschen. Die Wehrmachtseelsorge hat dieser Tatsache eindeutig Rechnung zu tragen.“
Durch die Vermittlung eines neuen Forschungsstandes wird deutlich, wie bereitwillig evangelische wie römisch-katholische Militärseelsorgekomplexe – nach Ablegung eines Treueids auf den „Führer“ – dieser Vorgabe zur Kollaboration beim Völkermord Folge geleistet haben. Nach Kriegsende warfen auch Soldaten den Militärgeistlichen vor, sie hätten als gutbezahlte Offiziere „im Solde derer gestanden, die uns zur Schlachtbank geführt haben“.
Das jetzt vorliegende Lesebuch enthält Beiträge von Christian Arndt, Holger Banse, Dieter Beese, Peter Bürger, Matthias-W. Engelke, Ulrich Finckh, Ulrike Heitmüller, Hartwig Hohnsbein, Herbert Koch, Dietrich Kuessner, Antonia Leugers, Heinrich Missalla (+), Kristian Stemmler, Erika Richter, Dieter Riesenberger und Martin Röw.
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Rainer Schmid / Thomas Nauerth / Matthias-W. Engelke / Peter Bürger (Hg.):
Im Sold der Schlächter – Texte zur Militärseelsorge im Hitlerkrieg.
(edition pace 6). Norderstedt 2019.
(ISBN 9783748101727; Seitenzahl: 440; fünfzehn farbige Abbildungen; Preis 14,99 Euro) https://www.bod.de/buchshop/im-sold-der-schlaechter-9783748101727
(Leseprobe mit Inhaltsverzeichnis oben links abrufbar)
Mit einer Direktbestellung bei BoD fördern Sie die Friedensbibliothek der edition pace; das Werk ist auch überall vor Ort im Buchhandel bestellbar.
Die erste Geburt (Von Unbekannt – http://www.wilnitsky.com/scripts/redgallery1.dll/details?No=17296, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3999688)
Vor knapp 250 Jahren konnte der Dichter Matthias Claudius (1740-1815) seine Leserschaft noch dazu ermuntern, täglich die Freude am eigenen Menschsein zu besingen: „Ich danke Gott, und freue mich / Wie ’s Kind zur Weihnachtsgabe, / Dass ich bin, bin! Und dass ich dich, / Schön menschlich Antlitz! habe“.
(Von Peter Bürger. Erstveröffentlichung leicht abweichend und unter anderer Überschrift im Online-Magazin telepolis, 07.04.2019; neu mit Genehmigung des Autors)
An die Schönheit der Gattung Mensch vermag heute ein Großteil des Publikums nicht mehr zu glauben. Zu offenkundig ist die Übermacht der zerstörerischen und selbstmörderischen Potenzen unserer Spezies geworden.
In einem seit langem kursierenden Witz, der gar nicht lustig ist, drückt sich Hilflosigkeit aus: Die Erde klagt auf einem Planetentreffen, sie sei von einer Krankheit mit Namen homo sapiens befallen. Sie wird von den anderen Planeten getröstet, diese Krankheit gehe gewiss bald vorüber.
Es scheint also schon ausgemacht zu sein, dass es kein „Happy End“ geben kann und der Mensch schlussendlich ob seiner Hässlichkeit abtreten muss: „Leben, dieses Wunder unseres Universums, entstand vor vier Milliarden Jahren. Der Mensch trat vor rund 200 Tausend Jahren auf. Und doch hat er es in dieser relativ kurzen Zeit geschafft, das Gleichgewicht der Natur zu gefährden.“ (Yann Arthus-Bertrand: Dokumentarfilm „Home“, 2009)
Angeblich soll zum Aufbegehren in unseren Tagen die grundlegende Theorie, „Erzählung“ oder Botschaft fehlen. Die radikale Fragestellung, die junge Menschen – trotz polizeistaatlicher Einschüchterungsmanöver und des ignoranten „Volkspartei“-Personals – zu Protesten im Hambacher Forst und anderswo oder zu Schulstreiks in Bewegung setzt, wird bei diesem Lamento von Politstrategen übersehen, gerade weil sie so grundlegend ist. Sie lautet: „Scheitert der homo sapiens?“ Eine politische Bewegung, die im 21. Jahrhundert die Gattungsfrage nicht stellt, kann weder ernstgenommen werden noch erfolgversprechend sein.
Das Drama des Menschen: Angst, nicht Stolz
An dieser Stelle gilt es jedoch, innezuhalten. Wenn wir nicht auf der Stelle treten wollen, ohne weiterzukommen, müssen wir zunächst das Drama des Menschen erhellen. Die Mythen der Völker wollen wissen, wir seien ursprünglich eingebettet gewesen in ein paradiesisches Lebensgefüge. Ernst Bloch spricht von einer „Heimat“, die „allen in die Kindheit scheint (und worin noch niemand war)“. Sobald wir erwachen und zu Bewusstsein kommen, ist es uns offenbar verwehrt, träumend, kinderselig und „unschuldig“ durch die Weltgeschichte zu gehen.
Folgenreich ist jene Deutung des Paradiesverlustes, die besonders nachdrücklich Augustinus von Hippo vorgelegt hat. Der erste Mensch, so wollte dieser Kirchenvater wissen, sei der Sünde des Hochmutes verfallen und habe sich in einem Zustand wirklicher Wahlfreiheit aus eigenen Stücken – ohne Zwang – für das Böse entschieden.
In dieser Linie wird man der „Erzählung vom bösen Menschen“ folgen, die Bestandteil jeder Herrschaftsideologie ist. Es bleibt dann nur noch die Möglichkeit, die Menschen durch Zwang vom Schändlichen abzuhalten oder auf dem Weg der Moralpredigt zum Guten zu bewegen. Noch immer glauben gerade auch viele Gutgesinnte, das Weltgeschick ließe sich durch moralische Verurteilungen und Appelle zum Besseren hinlenken.
Eine andere Sichtweise hat am überzeugendsten Eugen Drewermann eröffnet. Er bleibt nicht stehen an jener Oberfläche, an der sich die aufgeblähte Brust des angeblich hochmütigen Menschen zeigt. Nicht aus Stärke, Stolz und Bosheit kommt das Drama der menschlichen Spezies, sondern aus Zerbrechlichkeit und Angst. Das „Säugetier Homo sapiens“, ausgestattet mit einer zuvor in unserer Welt so nie gekannten Selbstbewusstheit, hat den Sprung in eine unerhörte Freiheit geschafft. Es kann sich schier grenzenlose geistige Welten und Handlungsmöglichkeiten erschließen.
Die Kehrseite dieses Erwachens besteht jedoch darin, dass der Mensch sich seiner großen Verwundbarkeit so intensiv bewusst wird, dass er sogar Bedrohungen, die noch gar nicht da sind, im Voraus zu fürchten lernt (und hierbei leicht das klare Denken verliert). Der Mensch weiß nicht nur intuitiv, dass er einst sterben muss. Bei diesem Wesen, das in reflektierter Weise „Ich“ sagt, steigert sich zugleich das Bedürfnis nach Geltung (Liebe) ins Uferlose.
Hinter der Anmaßung und Überhebung (Hybris) unserer Gattung steckt ein Minderwertigkeitskomplex sondergleichen, der durch die Endlichkeit unseres Daseins die ultimative Bestätigung erfährt. Wenn ich letztlich nur ein „Nichts“ bin, das mir nichts dir nichts von der Bildfläche verschwinden kann, muss ich ruhelos danach trachten, „Alles“ zu werden, der Mittelpunkt der Welt. Nicht ein freier Entscheid wider das „Gute“, sondern die Angst der Nichtigkeit macht den Menschen „böse“.
Aufrüstungen der Angst
Innerhalb dieser Betrachtungsweise kann man gleichwohl keine statischen Wesensbestimmungen postulieren, denen zufolge die Gattung Mensch „von Natur aus“ gut oder böse ist. Alles entscheidet sich daran, ob sich unsere Menschwerdung unter dem Vorzeichen der Angst und des „Ungeliebtseins“ vollzieht – oder in einem Raum des Vertrauens und der Annahme.
Das – individuelle wie kollektive – Drama des Menschen besteht darin, dass er der Angst, Ohnmacht und Nichtigkeit durch machtvolle Aufrüstungen, die im Kreis der Säugetiere nur ihm möglich sind, zu entkommen versucht, auf diese Weise aber geradewegs dem Tod in den Rachen läuft.
Der destruktive Zivilisationsprozess, der am Ende die Selbstauslöschung unserer Gattung möglich macht, geht auf Schritt und Tritt einher mit „Aufrüstungen der Angst“: An sich „legitime“ Bedürfnisse und Vorsorgehandlungen, die wir auch in lebensdienlichen Modellen der Menschheitsgeschichte antreffen, verselbstständigen sich und überschreiten jedes Maß.
Ohne Nahrungsbeschaffung können wir nicht leben. Die landwirtschaftliche Revolution vor über 10.000 Jahren ermöglichte es uns erstmals, mehr Lebensmittel bereitzustellen als wir zum jeweiligen Zeitpunkt brauchen. Im Zuge der industriellen Revolution, die ein schier grenzenloses Wachstum der Weltbevölkerung in Gang gesetzt hat, ist daraus schließlich ein Agrarkomplex geworden, der die Lebensbedingungen auf dem Planeten dramatisch verschlechtert.
Die Idee, Tauschgeschäfte über unverderbliche symbolische „Platzhalter“ zu tätigen, erscheint löblich. Wie konnte daraus ein virtueller Fetisch „Geld“ werden, der mit Systemen der Profitmaximierung und „Machttiteln“ einhergeht, die die ganze Weltgesellschaft lenken, ohne von dieser kontrolliert zu werden? Acht oder achtzig oder achthundert hyperreiche Milliardäre besitzen inzwischen so viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Unsere Spezies scheint jedoch unfähig zu sein, diesem irrationalen Spuk ein Ende zu bereiten.
Die Totmach-Industrie des Militärkomplexes als Visitenkarte des homo sapiens
Auf dem Boden der systematisch betriebenen Landwirtschaft konnten Städte und Großreiche entstehen. Die Imperien bauten nicht nur Schutzwälle, sondern vor allem Instrumentarien zur Welteroberung. Obwohl man Rüstungsgüter nicht essen kann, wurde ihre Produktion zu einem machtvollen Wirtschaftssektor.
Heute sollen uns moderne Dokumentationsmedien belehren, das „Programm Krieg“ sei ein maßgeblicher – unverzichtbarer – Fortschrittsmotor der menschlichen Zivilisationsgeschichte. Spätestens seit Zündung der ersten Atombombe kann aber jeder halbwegs gescheite Zeitgenosse erkennen, dass die militärischen Beherrschungswissenschaften aus dem Irrenhaus kommen, unserer Spezies jede Zukunft verbauen und in einen kollektiven Selbstmord münden.
Ein Großteil der geistigen und materiellen Ressourcen der Weltgesellschaft, die so dringlich benötigt würden zur Bewältigung der zivilisatorischen Herausforderungen, wird unverdrossen der industriellen Kriegsapparatur zugeführt. Mit jeder weiteren Maximierung von Zerstörung und Leiden fährt dieser staatlich erwünschte und subventionierte Komplex der Mordwaffenproduktion höhere Profite ein. Neue Kriege zu bewerben, das ist ein lohnendes Geschäft.
Betrachten wir allein die astronomischen Aufwendungen für den schier endlosen Militäreinsatz in Afghanistan, den auch in unserem Land nahezu alle Parteien mitgetragen haben. Die gigantische Gesamtsumme wäre bereits hinreichend, um auf dem Globus eine Überlebensoffensive zugunsten der nächsten Generation der menschlichen Familie zu finanzieren.
Damit im öffentlichen Diskurs nicht zur Sprache kommt, dass es einzig um die Gewinne der in den Militärministerien gut vernetzten Rüstungsindustrie und geostrategische Wahnideen geht, dürfen das Totalversagen der kriegsgläubigen „Verantwortungsträger“, die Sinnlosigkeit, das desaströse politische Ergebnis, das Morden im Namen der „westlichen Wertewelt“ und die seelischen Leiden der zurückkehrenden Soldaten öffentlich nicht ansichtig werden.
Eine veraltete Politikerkaste, die von der revoltierenden Schülergeneration hoffentlich bald abgewählt wird, findet all das ganz normal. Sie schämt sich z.B. nicht nach all den Abgründen der europäischen Geschichte, die wunderbare Idee einer deutsch-französischen Freundschaft zu militarisieren. Politiker wie Annegret Kramp-Karrenbauer oder Friedrich Merz, denen jede Vision von glaubwürdiger „Christ-Demokratie“ abhandengekommen ist, fordern ohne rot zu werden neue Milliarden-Investitionen in die Totmach-Industrie des Krieges. Frieden ist aber auch für die dahinsiechende SPD kein zentrales Thema – zum eigenen Schaden.
Kollektive Hyperventilation
Zurück zur historischen Betrachtung unserer Spezies: Die „Aufrüstungen der Angst“ erreichten erst im jüngsten, sehr kurzen Abschnitt der Geschichte des homo sapiens ein kritisches Stadium. Die systematische Ausbeutung der vor 100 Millionen Jahren entstandenen fossilen Energieressourcen hat gleichsam „gestern“ erst begonnen und ist doch heute schon absehbar an ihr Ende gekommen. Die nur einem Teil der menschlichen Familie dienliche petrochemische Revolution, maßgebliche Ursache des menschengemachten Klimawandels, setzte ein Zivilisationstempo frei, mit dem unsere Gattung nachweislich nicht mehr Schritt halten kann.
Die nachfolgende Revolution der elektronischen Datenverarbeitung, die Kriegskomplexe, Ökonomien, Sozialgefüge, „Öffentlichkeit“, politische Prozesse und sogar das biologische Leben (Gentechnologie) durchgreifend verändert, führt Beschleunigung geradewegs als Markenzeichen im Schilde.
Das Zivilisationsphänomen „tödliche Angstgier“ kann veranschaulicht werden durch die lebensbedrohliche Angstatmung eines Individuums, welche die Medizin Hyperventilation nennt. Am Anfang können eine hirnorganische Erkrankung oder ein psychischer Angstzustand stehen, bei denen einem der Atem wegbleibt. Die Angst, keine Luft mehr zu kriegen, führt zu einer hektisch-getriebenen Ein- und Ausatmung, zu einer notvollen – am Ende tödlichen – „Angst-Gier“. Unsere Zivilisation befindet sich in einer kollektiven Hyperventilation, die immer schneller wird, das klare Denken eintrübt und keine Atempause mehr findet, um durchgreifende Korrekturen vorzunehmen.
Zur Therapie bei Hyperventilation gehört unbedingt eine vertrauensvolle Beruhigung des Patienten (im Einzelfall allerdings auch die weniger sanfte Eindämmung der gierigen Sauerstoffzufuhr z.B. mittels vorgehaltener Tüte). Wir benötigen also zum Überleben ein gesellschaftliches, kulturelles und zivilisatorisches Klima des Vertrauens. Hierzu bedarf es keiner leeren Versprechungen und Placebos. Da es an wissenschaftlicher Expertise und den nötigen technologischen Ressourcen keineswegs fehlt, gibt es ja wirklich Handlungsoptionen!
Ein öffentliches Gefüge, das den kritischen zivilisatorischen Ernstfall nicht verleugnet oder verdrängt, kann Menschen befähigen, in den Abgrund zu sehen und doch nicht irre zu werden. Es gibt Anzeichen dafür, dass immer mehr Menschen Klartext wünschen: „Wir müssen uns bewusst werden, dass unsere eigene Würde auf dem Spiel steht. Wir sind die Ersten, die daran interessiert sind, der Menschheit, die nach uns kommen wird, einen bewohnbaren Planeten zu hinterlassen. Das ist ein Drama für uns selbst, denn dies beleuchtet kritisch den Sinn unseres eigenen Lebensweges auf dieser Erde.“ (Franziskus, Bischof von Rom)
Während nun der Papst und Wissenschaftler auf dem ganzen Globus die Klimaproteste der Schüler loben, ziehen es sogenannte Spitzenpolitiker aus CDU & Co. vor, sich mit „blauen Spießerbriefen“ vor der jungen Generation zu blamieren.
Angst ist der Hauptmotor des selbstmörderischen Zivilisationsprozesses. Zu widerstehen ist einerseits den Betäubungsmitteln, die von den genannten Spitzenpolitikern favorisiert werden, aber noch mehr der großen Versuchung, im politischen Gefüge eigene Angstparolen und Weltuntergangspredigten an die Stelle der herkömmlichen Angstpropaganda zu setzen.
Der Kult der Apokalypse und die Kulte der Bereicherung und des Krieges werden ja in den gleichen mächtigen Bilderfabriken produziert. Irrationalismus, Ausweglosigkeit und Ohnmacht gehen aus diesem Komplex hervor, nie jedoch ein Aufbruch hin zu neuen Wegen.
Aufklärung und Eros
In vielen Diskursen wird übersehen, dass Aufklärung und Eros nur als gemeinsames „Projekt“ erfolgreich sein können. Nur ein Tabak-Raucher, der das Leben bejaht und sich nicht schon aufgegeben hat, wird auf den objektiven Nachweis eines beginnenden Lungenemphysems mit einer Veränderung seiner Lebensführung reagieren. Rationale und emotional-energetische Prozesse gehen Hand in Hand.
Die – ökonomischen, militärischen und politischen – Götzen und Kulte des Todes sind Erzeugnisse unserer eigenen Aufrüstungen wider die Angst, auch wenn sie uns wie etwas „Allmächtiges“ gegenüberstehen. Die aufklärerische Botschaft lautet: Wir haben es bei den Komplexen, die die Weltgesellschaft scheinbar handlungsunfähig machen, nicht mit außerirdischen Dämonen oder ewigen Naturtatsachen zu tun, sondern „nur“ mit etwas Menschengemachtes.
Die emotional-energetische Seite besteht darin, dass lustvolle Verlästerungen und vor allem Liebeserklärungen an das Leben einen wichtigen Beitrag leisten, um die todbringenden Götzen vom Thron zu stürzen. Der linke Musiker „Klaus der Geiger“, der beides meisterhaft betreibt, überwindet auf der Bühne die Schwerkraft, wenn er singt: „Das Leben ist schön! Hat man je was Schöneres gesehn?“
Zivilisatorische Revolution
Die neuen Deutschnationalen (AFD & Co) leugnen den Klimawandel, huldigen dem Kapitalismus und verbreiten das Lügenmärchen, man könne mit hohen Mauern so etwas wie selige „Heimat-Inseln“ bauen. Auf solchen dumpfen, zumeist bierseligen Hirngespinsten will die gegenwärtige Schülergeneration ihre Zukunft nicht bauen. Das „Heimatgebilde“ der Rechten ist ein Sarg. Glaubwürdige Beheimatung erweist sich hingegen stets in einem weiten Horizont.
Es liegt auf der Hand, dass nur ein die ganze Spezies verbindendes Kooperationsgefüge den kommenden Generationen die Möglichkeit eröffnet, das gemeinsame Menschsein wieder mit „Stolz“ oder besser: mit Freude – statt mit bodenloser Scham – zu betrachten. Entweder finden alle auf dem Globus einen gemeinsamen neuen Weg oder es gehen alle – ohne Ausnahme – dem Abgrund entgegen.
Die Überwindung von Nationalismus und Rassismus, die glaubwürdige Verwirklichung des Konzeptes von „Vereinten Nationen“ (ohne imperiale Zentren der Bevormundung), die Entwicklung einer dialogischen und gerechteren Weltgesellschaft (als Gegenkraft zur aggressiven, ökonomisch angetriebenen Globalisierung im Dienste von Konzernen), die Gewinnung eines global-lokalen Horizontes für unser Denken und Gestalten … all das sind rationale Erfordernisse einer „Weltinnenpolitik“ um des Überlebens willen. In Bewegung gerät die Weltgeschichte jedoch erst, wenn sich die vernünftigen Einsichten mit Vision und Festlichkeit verbinden.
Dass Individuen unter bestimmten Bedingungen lernfähig sind, wissen wir. Doch die Zeit drängt und die Überwindung der – gierig machenden – Angst betrifft nicht nur das Lebensglück von Individuen, sondern das Geschick der ganzen menschlichen Gattung. Wir können nicht auf therapeutische Einzelbegleitung und biographische Wandlungen von Milliarden einzelnen Menschen warten. Nur im Zusammenhang mit einem sozialen, kulturellen, ja zivilisatorischen Geschehen wird es möglich sein, dem Rad in die Speichen zu fallen. Nichts weniger als eine menschheitliche Revolte tut Not.
Eine spannende Zeit – jetzt
Die sogenannten „Anderen“, die wir ja immer auch selbst sind, und die noch nicht Geborenen gehören zu „unseren Leuten“, für die wir gerne einstehen wollen. Der Blick auf die ungeteilte „Eine Menschheit“ (One human family) birgt jenes kraftvolle Bild, das kulturelle Energien für einen neuen Zivilisationskurs freisetzt und zusammenführt. Die attraktive Botschaft kann nur von einer international orientierten Bewegung ausgehen, die das Leben liebt und unserer Spezies noch Überraschungen zutraut: „Es ist nicht zu spät für eine glückliche Jugend des homo sapiens.“
Den Fatalisten, Machtpragmatikern und ignoranten Langeweilern das Ruder aus der Hand zu nehmen, das wird freilich nur durch einen intelligenten, also gewaltfreien Widerstand mit langem Atem gelingen. Wir leben in einer spannenden Zeit. Die Menschwerdung steht noch aus. Sie vollzieht sich erst da, wo unsere Gattung davon ablassen kann, das Kriegshandwerk des Tötens auszuüben und die Erde zu zerstören.
(Erstveröffentlichung leicht abweichend und unter anderer Überschrift im Online-Magazin telepolis, 07.04.2019; neu mit Genehmigung des Autors)
Vorweg dies: Der heiße Sommer 2018 trieb mich (und treibt mich noch) an die Küsten der Nord- und Ostsee, und auch hier zumeist in den kühleren Schatten. Dabei entdeckte ich eine Leidenschaft wieder, das freie Lesen. Das auch vor dicken Schwarten nicht zurückschreckt, wenn der Hunger erst einmal geweckt ist.
Wenn allein die Spürnase und der Magen des Trüffelschweins regieren. Eine Freundin nannte das einst treffend „entpragmatisiertes Lesen“, Lesen ohne Zeit und Raum, ohne Zwecksetzung eigener oder äußerer Herkunft. Von Erlebnissen, die dabei entstehen, soll diese neue Rubrik der Website nun hin und wieder berichten.
Jaroslav Hašek: Die Abenteuer des braven Soldats Schwejk. 2 Bände, zusammen rund 730 Seiten, geschrieben 1921 bis 1923. In Versandantiquariaten zu haben für 4-5 Euro.
Eigentlich sollte dieses Werk ja jeder längst gelesen haben, und eine Empfehlung wäre demnach Unsinn. Es mag die Schuld Fritz Muliars (und seiner Drehbuchautoren, Regisseure und Produzenten) gewesen sein, dass dem vermutlich nicht so ist. Muliar hatte in den 1970er Jahren in einer ZDF-Serie einen wachsweichen Schwejk gegeben, kauzig, verschmitzt, aber doof. Ich jedenfalls habe den Kasten damals ausgeschaltet und das Werk nicht angefasst.
Nun doch. Und siehe da: Nach 100 Seiten Eingewöhnung merkte ich, dieser Text bietet keine ermüdenden Schelmen-Geschichten a la Muliar, sondern eine knallharte, aufrüttelnde, oft blutige Kritik der österreichischen Gesellschaft zur Zeit der KuK-Monarchie. Hašek wusste, worüber er schrieb. Er war 1914, da seine Heimat Böhmen damals zu Österreich gehörte, in dessen Armee eingezogen worden und kam an die Ostfront. Dort lief er zu den Russen über, kämpfte als Soldat der Tschechischen Legion auf der Seite der Entente gegen die Mittelmächte Deutschland und Österreich. 1918 ging er in die Rote Armee, wurde Mitglied der KP Russlands und Politkommissar. 1920 kehrte er nach Prag zurück.
Hašek schildert die schreiende Inhumanität des österreichischen Militärs, zugleich ihre Unfähigkeit im selben Ausmaß. Konkrete Verbrechen, die historisch belegbar sind, zum Beispiel Massaker an der serbischen Bevölkerung in der Anfangsphase des Krieges. Das alles gestaltet in der Sprache eines „kleinen Mannes“, der gewiss keine Mitschuld trägt. Der nämlich Widerstand leistet, und sogar Solidarität mit Leidensgenossen beweist, in den seltenen Momenten, in denen dies in einem repressiven Staat überhaupt möglich ist. Brecht hat diesen Text geliebt, ich verstehe jetzt warum.
Der Text ist die bewegende Studie einer korrupten Gesellschaft. Er zeigt, dass die Flucht einer solchen Gesellschaft in den Krieg nur der letzte Akt des Niedergangs ist. Was für Niederlagen! Eine Wiederholung des Desasters von Louis Bonapartes Feldzug 1870 gegen Deutschland: In den Krieg ziehen und nach kurzer Zeit untergehen.
Alfred Döblin, November 1918, 4 Bände. Zusammen rund 2200 Seiten, geschrieben 1938 bis 1942 im Exil in Frankreich und in den USA. Die in der DDR von Rütten und Loening hervorragend besorgte gebundene Ausgabe von 1981 ist in Versandantiquariaten ab 50 Euro zu haben, die dtv-Taschenbuchausgabe von 1978, die ich in den 1980ern für 15,- DM geschossen habe, im Moment gar nicht mehr. Wegen des anstehenden Jubiläums?
Ja, Döblin, ich hatte immer schon eine Leidenschaft für ihn. Wegen Franz Biberkopf sowieso, und dann wegen seines lebenslangen Bekenntnisses zum Berliner Osten, zum Proletariat, zu den Armen. Er war dort Jahrzehnte Armenarzt wie mein Vater im Harburger Phoenixviertel. Döblins Berliner Kiez – Kreuzberg-Neukölln, zwischen Urban Krankenhaus am Landwehrkanal im Norden, Mehringdamm im Westen und Karl Marx Allee im Süden – kenne ich gut. Da habe ich mal gewohnt. Und mich sauwohl gefühlt, als Harburger. Denn das Quartier war im Grunde nichts anderes als Harburg hoch 2.
Aber diese Revolutionstetralogie, diese unendlich vielen Seiten, wo ich doch als Historiker sowieso eine kräftige Abneigung habe gegen historische Romane. Und alles sowieso besser weiß. Das lag wie Blei im Bücherregal, oft angeblättert, und immer wieder weggestellt.
Jetzt endlich gelesen und – Plop! – gefangen. Döblin ist eben Döblin, ein magischer Erzähler. Allein die Idee, den Roman in der Provinz, im Elsass beginnen zu lassen, im Mikrokosmos eines Militärlazaretts, er hatte dort seinen Kriegsdienst abgeleistet und kannte sich aus, darin die Gewalt der Niederlage Deutschlands zu schildern, genial. Dann der Sprung nach Berlin, die Einfühlung in die Würstchen Ebert, Scheidemann, Noske, die wirklich finale Abrechnung mit dem Verrat der deutschen Sozialdemokratie.
Und mehr noch: eine ebenso kundige Schilderung der Revolutionäre, vor allem ihres Führungspersonals, Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg. Sie waren Zauderer aus Döblins Sicht, Liebknecht als Idealist und Dandy, Luxemburg als Dogmatikerin. Wie sich in einer tatsächlichen Revolution verhalten? Lenin scheint als Alternative durch, ohne dass Döblin sich zu ihm bekennt. Nun, die deutsche Revolution war eben auch kraftloser als alle zuvor, die französischen und die russischen allemal. Insgesamt ein sehr realistischer, zugleich sehr offener Text. Der einlädt zum Prüfen konservierter Einschätzungen und zum Lernen neuer Sichtweisen. Seine erzählerische Einfühlung in die Psyche der herausragenden Akteure wie ebenso in die der Massen bestätigten und klärten viele der Gedanken, die mir beim Studium der Revolutionszeit in den letzten Jahren in den Kopf kamen.
Manches aber will man nicht lernen. Die Vollendung des Manuskripts „November 1918“ fiel zusammen mit der Konversion des Ehepaares Döblin zum Katholizismus. Den Hintergrund bildete ein Erweckungserlebnis Alfreds im französischen Exil. Resultat war, wie sein Freund Ludwig Marcuse urteilte, dass sich zu den großartigen Passagen des Romans solche auf dem Niveau religiöser Traktätchen mengten. Beschäftige sich damit, wer es mag, ich habe diese Passagen überblättert.
Brecht, Döblins Nachbar in Los Angeles damals, äußerte sich dazu verständnisvoll: Sorge um zwei der vier Söhne, verschollen in Frankreich, Krankheit und Verzweiflung auf der Flucht, eine zuweilen bedrückende Ehe (aus BB Sicht). Doch er hat sich auch fremdgeschämt für diese Konversion, in erheblichem Maße. Wir verdanken dieser Episode Brechts treffendes Wort von der „Verletzung der irreligiösen Gefühle“ seiner Freunde und Gefährten, die Döblin damit begangen habe.
Kurzum und trotzdem: Ein Riesenwerk, überwältigend, Stoff für langes Verdauen.
Dazu, als historisches Nebenwerk zum Nachlesen der Ereignisgeschichte und zum tieferen Verständnis der Gestaltungsweise Döblins, sei das seit kurzem bei der Bundeszentrale für politische Bildung erhältliche Buch von Mark Jones: Am Anfang war Gewalt, Bonn 2017, empfohlen (432 Seiten, 4,50 Euro). Es ist exakt der gleichen Zeitspanne gewidmet wie Döblins Kernerzählung: den Wochen von Anfang November 1918 bis Ende März 1919 in Berlin. Stone folgt darin einem sehr engen, politologisch eingehegten Gewaltbegriff, den ich nicht teile. Aber er arbeitet, wie bei britischen Historikern üblich, sehr souverän und bietet aussagekräftige Quellen in reichhaltiger Darbietung. Und er zerlegt meisterhaft (vielleicht ohne es zu wollen) die sozialdemokratische Revolutionslegende, die wir alle schlucken mussten als Schüler und auch späterhin: dass Ebert damals einen Spartakusputsch bekämpfen musste, und dass er damit die Demokratie gerettet habe. Nein, es war kein Spartakusputsch, und nein, Ebert hat nicht die Demokratie gerettet, sondern die Macht des preußischen Militarismus und damit die Basis des deutschen Faschismus. Das genau war auch Döblins Sicht.
Lustig aktuell: Die SPD löst ihre historische Kommission auf. Die wollte eigentlich Ende 2018 eine dicke Konferenz zur Revolution 1918 machen. Was der Parteivorstand wohl kapiert hat: Wenn man schon eine Scheißgeschichte hat, dann besser nicht drüber reden.
Zum Schluss noch ein kurzer Hinweis auf eine Autobiographie, die sich wie eine Fortsetzung des Döblinschen Romans lesen lässt: Franz Jung, Der Torpedokäfer, Neuwied und Berlin 1972 (499 Seiten, antiquarisch erhältlich inzwischen für rund 20 Euro. Alternativ sind textgleiche Ausgaben unter dem ursprünglichen Titel „Der Weg nach unten“ für 9 bis 15 Euro zu haben). Der Schriftsteller und Journalist Jung, bei den Berliner Kämpfen Anfang 1919 selbst beteiligt, schildert die revolutionären Nachfolge-Aktionen der Jahre bis 1922 aus Sicht der von ihm mitgegründeten „Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands“ KAPD, einer linken Abspaltung der KPD mit zeitweilig erheblichem Massenanhang.
Bildnachweis
Die Titelphotographie von J. Hašek entstammt Wikipedia und ist gemeinfrei, alle übrigen Aufnahmen Archiv Gotthardt.
Am Anfang standen .derkunstbetrieb. und seine Einladung zu einem gemeinsamen Ausstellungsprojekt. Zum Thema „der himmel ist blau“ konnten bis zu drei Werke im Format 50 x 50 cm eingereicht werden. So entstanden die beiden Holzschnitte „der himmel ist blau über opfern und tätern“.
(Der Artikel ist zuerst auf Harbuch.de erschienen. Text und Bilder: Angela Jansen. Informationen zur Autorin siehe unten.)
Das Projekt
So beschrieb kunstbetriebs-Macherin Sabine Spieckermann die Projektidee:
Das Gedicht „Andererseits“ von Alfred Andersch
Die Umsetzung
Sofort beim Lesen des Andersch-Gedichtes kam mir die Idee, Holzschnitte nach zwei Fotos zu machen, die in meinem Familienarchiv vorhanden sind. Der Titel stand auch gleich fest: der himmel ist blau über opfern und tätern.
Das Schneiden war eine Herausforderung – sowohl darstellerisch, als auch technisch.
Zur Darstellung: Ich wollte ganz nah bei der Fotorealität bleiben. Denn da beide Situationen mir nur als Foto überliefert wurden, konnte ich nur das wiedergeben, was dort zu sehen war. Das bedeutete bei der Darstellung des Kriegsgefangenen, die Würde der Person trotz ihrer Nacktheit zu transportieren und die Lagersituation anzudeuten. Beim Nachkriegsurlauber Schmitt erlaubte ich mir größere Freiheiten, indem ich z.B. das Meer und die Dünen frei nachempfunden habe.
Zur Technik: Ich hatte noch nie so einen großen Holzschnitt gemacht und als Handabzug gedruckt. Das bedeutete, den Druckstock einzufärben, das Papier darauf zu legen und dann manuell mit dem Rücken eines Holzlöffels die Farbe auf das Papier zu übertragen. Das musste fix gehen, denn bei der Druckstockgröße drohte die Farbe in den zuletzt durchgeriebenen Bereichen schon zu trocknen.
Bis zuletzt war ich nicht entschieden, was die Farbe Blau in den Bildern anging. Sollte ich für den blauen Himmel eine zweite Druckform anlegen? Die vielleicht in beiden Bildern identisch wäre? Letztendlich entschied ich mich dagegen, weil die Bilder durch den grellen Lichteinfall und die klaren Schatten eindeutig auf Sonnenlicht – und damit auch auf blauen Himmel – verweisen. Und die Aussage in schwarz-weiß klarer und direkter ist.
angela jansen
der himmel ist blau über opfern und tätern (1) Rotarmist im Kriegsgefangenenlager Zeithain/Sachsen, 1942
Holzschnitt nach einem Foto von Karl Schmitt
Karl Schmitt war 1941–1943 im Auftrag von Wehrmacht und deutscher Industrie verantwortlich für den Einsatz sowjetischer Kriegsgefangener im belgischen Steinkohlebergbau. Im Sommer 1942 reiste er nach Zeithain. Aus dem dortigen „Russenlager“ wurden im September des Jahres ca. 10.000 sowjetische Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter in belgische Bergwerke verschleppt. Mehr zum Thema auf unserer harbuch-Website in dem Artikel: Onkel Karl und die gefangenen Rotarmisten.
angela jansen
der himmel ist blau über opfern und tätern (2) Mein Großonkel Karl Schmitt im Urlaub auf Sylt, 1950
Holzschnitt nach einem Foto von Lulu Schmitt
1946 wurde Karl Schmitt verhaftet und in Belgien angeklagt wegen der Deportation belgischer Zwangsarbeiter in deutsche Konzentrationslager. Im Frühjahr 1948 kam er frei und arbeitete wieder für den Bergbau, zunächst als Schriftleiter der bergmännischen Zeitschrift „Glückauf“ in Essen.
Die Ausstellung
Am Samstag, dem 1. September 2018, wurde im Rahmen des Hafenspaziergangs die Ausstellung „der himmel ist blau.“ im kunstbetrieb eröffnet. In die Ausstellung führte ein Simone Rikeit, Kunsthistorikerin aus Dortmund.
Sabine Spieckermann: „der himmel ist blau. Ob als Empörung gemeint – wie bei dem Schriftsteller Alfred Andersch – oder als bloße Feststellung, als Begeisterung oder als Aufforderung, sich mit der Farbe Blau auseinanderzusetzen, der Blick richtet sich bei diesem Kunstprojekt auf die Vielfalt der Reaktionen und der dabei zum Ausdruck gebrachten Auffassungen und Deutungen. 21 Künstlerinnen und Künstler aus den Bereichen Malerei, Grafik, Bildhauerei, Installation, Film und Urbanart stellen aus.“
Die beteiligten Künstlerinnen und Künstler sind: Almut Rybarsch-Tarry, Ana Maria Aviles Toro, Angela Jansen, Anke Droste, Annelie Sonntag, Artur Aleksander Wojtczak, Brigitte Siebrecht, Egon Huneke, Hendrik Müller, Horst Herz, Kirian, Klaus Pfeiffer, Mathes Schweinberger, Mohammad Taghi Ghorbanali, Paola Manzur, Susanne Grytzka, Suse Solbach, Udo Unkel, Ute Brüggemann, Vanessa von Wendt und Wolfgang Kienast
Dauer der Ausstellung: 1. September 2018 bis 6. Oktober 2018
Ein Katalog erscheint im Rahmen der Ausstellung.
(1) Alfred Andersch, empört euch, der himmel ist blau, Zürich 1977, S. 103 ff.
Angela Jansen, Jahrgang 1958, geboren in Düsseldorf, aber zuhause im Norden (Witzwort und Harburg), ist Dipl.-Designerin und seit vielen Jahren Inhaberin der kleinen Werbeagentur fraujansen kommunikation. Nebenher malt und holzschneidet sie. Zu Harbuch.de hat sie ein enges familiäres Verhältnis. So erscheinen dort gelegentlich auch Artikel von ihr, z.B. über die Logos von Harburger Firmen oder über kleine bänke. e-Mail: aj@fraujansen.de
Die ehemalige Finnentroper Textilverkäuferin Maria Autsch (1900-1944) hat als „Nonne von Auschwitz“ Zeugnis für ein wahres Leben gegeben. Ihr Ordensname war Angela Maria; am 23. Dezember 1944 kam sie bei einem Luftangriff ums Leben. (Repro Archiv Peter Bürger)
Die ehemalige Finnentroper Modeverkäuferin Maria Autsch ist in der katholischen Kirche als „verehrungswürdige Dienerin Gottes“ (venerabilis Dei serva) anerkannt. Das hat Papst Franziskus zu Pfingsten der Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungen in Rom bestätigt.
Die Sauerländerin wurde 1900 als Kind einer katholischen Arbeiterfamilie in Rölleken bei Attendorn geboren, lebte nach einem Stellenwechsel des Vaters in Bamenohl und meldete sich später von Heinsberg aus zum Eintritt in das kleine Trinitarierinnen-Kloster im österreichischen Mötz. Sie erhielt 1934 den Ordensnamen „Angela Maria vom Heiligsten Herzen Jesu“.
Aufgrund von Konflikten mit dem nationalsozialistischen Regime wurde die Nonne in die Konzentrationslager Ravensbrück und Auschwitz verschleppt.
Das Besondere ihres christlichen Lebenszeugnisses wird durchaus unterschiedlich betrachtet. In dem Anfang der 1990er Jahre eingeleiteten Verfahren zur Seligsprechung legte man noch viel Wert darauf, dass Schwester Angela in der Zeit der Ordensverfolgung das Kloster ihrer Gemeinschaft auf kluge Weise geschützt hat, wodurch sie sich Feinde gemacht habe. Die Ablehnung der Nazis war stark ausgeprägt. Sie soll Hitler sogar vor Zuhörern als Plage für ganz Europa bezeichnet haben.
Aus heutiger Sicht ist der mutige Einsatz der Sauerländerin für ihre Mithäftlinge und die große Ausstrahlung ihrer Liebe selbst auf Atheistinnen wohl noch bedeutsamer als die Verteidigung des Ordens. Schwester Angela ermutigte andere Frauen im KZ zum Weiterleben und wurde als „Engel von Auschwitz“ betrachtet. In vielem entspricht sie einer neuen Sichtweise des gegenwärtigen Papstes, der die Nächstenliebe in seinem Verständnis von „Heiligkeit“ sehr hoch gewichtet.
Durch die Zuschreibung des sogenannten „heroischen Tugendgrades“ ist jetzt grundsätzlich der Weg frei für eine Seligsprechung. Da die Ordensfrau aus dem Sauerland jedoch kurz vor Weihnachten 1944 bei einem Bombenangriff auf das KZ umgekommen ist, wird ihr Tod nicht als Martyrium im strengen Sinn gewertet. Es müsste deshalb noch ein Wunder, das ihrer Fürsprache zugeschrieben wird, anerkannt werden. Traditionell denkt man hier an ein gleichsam „naturwissenschaftlich“ untersuchtes Heilungswunder. Im Licht der neueren Theologie könnte man jedoch auch an ein Wunder der Liebe, der Versöhnung oder der Gewinnung von neuem Lebensmut in scheinbar auswegloser Lage denken.
Erfolglos hatte in der Vergangenheit eine Finnentroper Ratsfraktion schon beantragt, eine Straße nach dieser Nonne zu benennen. In der diesjährigen Osterzeit ist das Buch „Sauerländische Lebenszeugen“ über Friedensarbeiter, NS-Verfolgte und Märtyrer aus Südwestfalen erschienen. Es enthält ein ausführliches Kapitel über Angela Maria Autsch. Dass wenige Wochen später ihre Würdigung in Rom erfolgen würde, war bei Erscheinen dieser Publikationen freilich noch völlig unbekannt.
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Literaturhinweis:
Peter Bürger: Sauerländische Lebenszeugen. Friedensarbeiter, Antifaschisten und Märtyrer des kurkölnischen Sauerlandes. Zweiter Band. Norderstedt 2018, S. 51-74. (ISBN: 9783746096834) – Das Buch kann überall vor Ort im Buchhandel bestellt werden.
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