Kommentar zum Artikel „Heute vor 75 Jahren: Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald bei Weimar“

Die Sicht von außen in das Lager Buchenwald (archivfoto: zoom)

Zum Beitrag „Heute vor 75 Jahren: Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald bei Weimar – Thüringer Erklärung“ vom 11. April habe ich folgenden Brief von Nadja Thelen-Khoder erhalten:

Vielen Dank für Ihren wunderbaren Artikel!

„Auch 75 Jahre nach der Befreiung sind uns Unmenschlichkeit und Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands bewusst. Wir ehren all jene, die sich widersetzten. Wir nehmen wachen Anteil an der Geschichte und dem Leid der Millionen Menschen, die von den Nationalsozialisten zunächst in Deutschland und dann in den vom ,Dritten Reich’ besetzten Ländern entrechtet, entwürdigt, ausgegrenzt, ausgeplündert und ermordet worden sind: allen voran die deutschen und europäischen Juden, aber auch Sinti und Roma, Kranke und Behinderte, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, sozial Diskriminierte und alle, die im besetzten Europa oder als Deportierte im Reichsgebiet Zwangsarbeit leisten mussten oder Opfer von Besatzungs- und Kriegsverbrechen wurden.“

Als ich diese Zeilen las, mußte ich wieder an Fritz Bauer (http://www.fritz-bauer-film.de) denken:

1. „Statt einer ,Bewältigung der Vergangenheit’, die auch damals aktuell und notwendig war und einen harten Willen zur Wahrheit erforderte, zog man den Betrug und Selbstbetrug eines angeblichen ,Dolchstoßes’ vor und suchte krampfhaft nach Sündenböcken. Man fand sie bald in den ,Marxisten’, bald in den Juden. Nach faulen Ausreden und nach einer Sicherheit im Aberglauben suchen immer die Kranken, Schwachen, Selbstunsicheren, die Rückschläge nicht vernünftig verarbeiten können.“

2. „Die Deutschen wurden zu einem Volk, das sich an dem Catch-as-catch-can einiger Massenredner gegen die zu Sündeböcken gemachten Juden und Slawen passiv beteiligte und das ständig die Illusion der ,Aktivität’ einer schreienden Zuschauermasse eines Fußballspiels empfand, wobei einige das Scheinprivileg genossen, den befohlenen Beifall zu organisieren.“

Beide Zitate sind aus seinem Büchlein „Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns“ von 1965, das ich einmal abgetippt habe, weil es ein halbes Jahrhundert lang nicht im Buchhandel zu erhalten war (http://upgr.bv-opfer-ns-militaerjustiz.de/uploads/Dateien/Vera-ab2019/NTK-AbschriftFB-Wurzelnfasch-u-natsozHdlns.pdf).

Und ich mußte an Nikolai Karpenko denken – den siebzehnjährigen „Ostarbeiter“ (eigene Nazi-Kategorie für Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion, die das „OST“-Kennzeichen tragen mußten) bei den „Warsteiner Eisenwerken“ (https://www.schiebener.net/wordpress/wp-content/uploads/2018/03/37.-Nikolai-Karpenko.pdf), gestorben laut ärztlicher Bescheinigung meines Großvaters (2.2.2.2 / 76773777, ITS Digital Archive, Bad Arolsen) am 13.12.1944 „im Lager Stillenberg Warstein“ an „Herzschwäche“, regulär beurkundet und mit Namen begraben, heute namenlos mit fünf weiteren „Ostarbeitern“ in Warstein liegend (https://www.schiebener.net/wordpress/wp-content/uploads/2019/06/160.-Zum-21.6.2019.-Offener-Brief-an-die-Warsteiner-B%C3%BCrger.pdf).

Und auch an Vida Levi, „Au. Häftl. Nr. 75035“, einer „der weibl. Häftlinge, die am 17.11.44 vom KL Auschwitz nach Lippstadt überstellt wurden“ (0.1 / 109331290, ITS Digital Archive, Bad Arolsen), „Eltern: Avram u. Flora, geb. Baru, Geburtsdatum: 27.5.1914, Ort: Sarajevo, 43 in Kocevje verhaftet. Lager: Lippstadt, Auschwitz, Buchenwald“ (0.1 / 53499481), „Blockbuch des KL Auschwitz-Birkenau (Block 22 B)“, „TD 937597“ mit Datumsstempeln vom 3.11.1972 und 19.12.90 (0.1 / 109331282), „Politisch-Jugoslawinnen, Jüdinnen“, „Auschwitz/ Birkenau Häftl.Transp. nach Buchenwald, Kdo. Lippstadt“ (0.1 / 109331283), „Bu.No. 25784”, „Slow.Sch.Jüdin”, auf der „Liste der von Auschwitz in Buchenwald/ Akdo. I Lippstadt eingetr. Häftl.” (0.1 / 109331284), „Bu,No. 25784 Polit.Jug.Jüdinnen”, „Polit. Abt. Buchenwald, Neuzugänge von Auschw. nach Akdo. Lippstadt”, Dated 4.1.45“ (0.1 / 109331285), „Häftl. Pers. Karte“, „Effektenkarte“, „Arbeitskarte“, „Dokumente: 8“ (0.1 / 109331286), in den „Nament. Aufstellungen von Häftlingen, deren Effekten und Wertsachen vom KL Auschwitz zum KL Buchenwald überstellt wurden“ (0.1 / 109331287), „09. Juli 1981“ (0.1 / 109331291).

Sie war der erste Mensch, der mir von den Transporten aus dem KZ-Auschwitz heraus über das KZ-Buchenwald zu den KZ-Außenlagern „Lippstadt I“ der „Lippstädter Eisen- und Metallwerke GmbH (LEM)“ (heute „Thyssen-Krupp Rothe Erde“) und „Lippstadt II“ der „Westfälischen Metall-Industrie AG (WMI)“ (heute „Hella KG Hueck und Co.“) erzählte, die schon in der Meldung der Stadtverwaltung Lippstatt vom 27.6.1949 (2.2.0.1 / 82413810, ITS Digital Archive, Bad Arolsen, Abschrift auch in „Der ,Franzosenfriedhof’ in Meschede“, Norderstedt 2018) aufgelistet sind (http://www.hpgrumpe.de/ns_verbrechen_an_zwangsarbeitern_suttrop,_warstein,_meschede/211_Lippstadt-Hospitalstra%C3%9Fe_46.pdf).

„Wir nehmen wachen Anteil …“

Nadja Thelen-Khoder
Jugend forscht im ITS
https://www.schiebener.net/wordpress/wp-content/uploads/2019/09/182.-ITS-ein-neuer-Name-und-eine-neue-alte-Bitte.pdf

Heute vor 51 Jahren starb Fritz Bauer: Nazi-Jäger, Kämpfer gegen das Vergessen

„Eichmann? Adolf Eichmann? Den Namen dieses Massenmörders habe er zuvor nie gehört, erklärte der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer im Juni 1960 seinem Gesprächspartner, dem israelischen Diplomaten Felix Shinnar. Dessen Landsleute, Agenten des Geheimdienstes Mossad, hatten den NS-Verbrecher gerade in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires festgenommen – um ihm in Jerusalem den Prozess machen zu können.“

Quelle: https://www.spiegel.de/einestages/nazi-jaeger-fritz-bauer-a-948218.html

Eichmann, so Georg Bönisch im Spiegel, habe ein Mann im Nacken gesessen, der wie kein zweiter in den Anfangsjahren der Bonner Republik die seltsam brach liegende Strafverfolgung von NS-Verbrechern gegen viele Widerstände energisch voranzutreiben suchte – Fritz Bauer, Generalstaatsanwalt in Hessen.

Es lohnt sich immer wieder auf den lange vergessenen Fritz Bauer zurückzugreifen.

Schriften, Filme – alles ist auch heute (wieder) von gespenstischer Aktualität.

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https://de.wikipedia.org/wiki/Fritz_Bauer

Hier im Blog:

https://www.schiebener.net/wordpress/?s=%22Fritz+Bauer%22

Für Fritz Bauer und Ilona Ziok. Zum „Dreher-Gesetz“ von 1968

„Fritz Bauer. Tod auf Raten“ heißt das Meisterwerk von Ilona Ziok von  2010. (Filmplakat CV Films)

Am 14. April 2019 hieß ein Beitrag in „Titel Thesen Temperamente“ der ARD „Thriller um einen deutschen Justizskandal. ,Der Fall Collini’ nach Ferdinand von Schirach im Kino“. Zur Sendung steht geschrieben:

„1968 wurde das sogenannte Dreher-Gesetz vom Deutschen Bundestag beschlossen. Eduard Dreher, zur Nazizeit als Staatsanwalt tätig, hatte als hoher Ministerialbeamter ein Gesetz verfasst, das zahlreiche Kriegsverbrechen als Totschlag und nicht als Mord bewertete – wodurch viele Taten von Nazi-Tätern auf einmal als verjährt galten und straffrei blieben. Ein Justizskandal, der Pate für die Verfilmung dieser Geschichte stand.“

Dem „Filmtipp“ („Der Fall Collini. Drama, Thriller, Deutschland 2019, Regie: Marco Kreuzpaintner, mit Elyas M’Barek, Alexandra Maria Lara, Heiner Lauterbach und anderen, FSK: 12 Jahre, ab 18. April im Kino) will ich einen weiteren hinzufügen.

Den Filmen „Der Staat gegen Fritz Bauer“, „Die Akte General“ und „Im Labyrinth des Schweigens“ ging ein Film voraus: „Fritz Bauer. Tod auf Raten“ heißt das Meisterwerk von Ilona Ziok von 2010. Der international hoch gerühmte Film (2), den man in Deutschland nicht „normal“ kaufen kann (3), beinhaltet die Kapitel „Adolf Eichmann“, „Der Remer-Prozess“ und „Ernst Achenbach“; über den Coup von Eduard Dreher wird ausführlich berichtet. Auf den Seiten zum Film (4) läßt sich vieles nachlesen.

Und ich werde nicht müde, die kleine aber feine Schrift des hessischen Generalstaatsanwaltes Fritz Bauer zu bewerben, dem wir unter anderen die Gerichtsverhandlung gegen Adolf Eichmann (und damit Hannah Arendts Wort von der „Banalität des Bösen“) und den Auschwitz-Prozeß zu verdanken haben (und so vieles Andere mehr):

Fritz Bauer: „Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns“, Frankfurt am Main 1965.

Auch dieses Büchlein war ein halbes Jahrhundert lang nicht „normal“ im Buchhandel zu kaufen, ist aber inzwischen neu bei der Europäischen Verlagsanstalt erschienen.

Dies ist eine Liebeserklärung an Fritz Bauer und Hannah Arendt und an das Filmteam: Buch und Regie Ilona Ziok, Schnitt Pawel Kocambasi, Schnittassistenz Olmo Pini und Carolin Mader, Kamera Jacek Blawut, Ton Manuel Göttsching, Mischung Hansi Jüngling, Produktionsleitung Myriam Abeillon, Dokumentation Dr. Thymian Bussemer, Redaktion SR Dr. Michael Meyer und Andrea Etspüler (Der Film ist eine CV Films Produktion in Koproduktion mit dem Saarländischen Rundfunk), Produzenten Manuel Göttsching und Ilona Ziok.

Institutionen kann man nicht lieben, aber ihnen danken. Als Partner werden auf der Internetseite genannt: Informations- und Presseamt der BRD, Friedrich Ebert Stiftung, Otto Brenner Stiftung, Hessische Filmförderung, Filmstiftung und Saarländischer Rundfunk.

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Anmerkungen:

(1) https://www.daserste.de/information/wissen-kultur/ttt/sendung/schirach-fall-collini-100.html
(2) https://www.berlinale.de/external/de/filmarchiv/doku_pdf/20106770.pdf
(3) zu bestellen bei CV Films, Postfach 330152, 14171 Berlin, 030 / 23627167, cvfilmsberlin[at]aol.com
(4) http://www.fritz-bauer-film.de/ge/index.htm

Anmerkungen zu Luther: Aus Fritz Bauers „Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns“, Frankfurt am Main 1965

Ein kleines, aber wichtiges Werk (bild: thelen-khoder)

Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer[1] hat sich zu Martin Luther geäußert. Im Folgenden ein kleiner Text zur Kölner Luther-Ausstellung. Siehe auch hier im Blog.

„Ganz im Gegensatz zu den angelsächsischen Ländern war der deutsche Protestantismus im Zeichen eines Bündnisses von Thron und Altar dem Thron gehorsam. Luther hat einen berühmten Bibeltext – abweichend von dem, was in England und Frankreich geschah – mit den Worten übersetzt: ,Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat; denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott, wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet; wer sich der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Ordnung.’ (Römer 13, 1ff.) Das ist die Weltanschauung und politische Sittenlehre, die man die Deutschen seit dem 16. Jahrhundert bis zum Nazismus gelehrt hat. Höchstes Gut der Erdenkinder ist die Obrigkeit.

Ganz ähnlich wie Luther dachten unsere Philosophen. …“

Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, über den Ilona Ziok ihren Film „Fritz Bauer. Tod auf Raten“ drehte – das Meisterwerk, das an alle Schulen gehört, ebenso wie Fritz Bauers kleines 37seitiges Büchlein „Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns“ – sagte:

„Das, was die Leute nicht hören wollen: daß es in unserem Leben eine Grenze gibt, wo wir nicht mehr mitmachen dürfen.“

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[1] „Fritz Bauer. Tod auf Raten“ – Ein Film von Ilona Ziok

 

„Fritz Bauer. Tod auf Raten“ – Ein Film von Ilona Ziok

By Dontworry [CC BY-SA 3.0 ], from Wikimedia Commons
„Fritz Bauer war der wohl profilierteste Staatsanwalt, den die Bundesrepublik je hatte. Er war engagierter Geburtshelfer der Demokratie, als sie sich aus den Abgründen der Diktatur erhob: In dem von ihm 1952 geführten Remer- Prozess erklärt ein deutsches Gericht den NS-Staat erstmalig zum Unrechts-Staat.

Mit derselben Zielgerichtetheit hat er die Aufhellung und Ahndung der NS-Verbrechen in Gang gesetzt. Als hessischer Generalstaatsanwalt war er der Initiator des Frankfurter Auschwitz-Prozesses, als Verdrängung und Beschweigung noch an der Tagesordnung waren. Da er Zweifel hegte, dass die deutsche Justiz nachdrücklich genug die Auslieferung Adolf Eichmanns fordern und ihn wegen Mordes in vielen tausend Fällen anklagen würde, verriet er den Aufenthaltsort des berüchtigten ,Buchhalters der Endlösung’ an den israelischen Geheimdienst. Dadurch konnte Eichmann in Jerusalem vor Gericht gestellt werden.“

So bewarb die Urania den Film „Fritz Bauer – Tod auf Raten“ von Ilona Ziok auf Ihrer Internetseite.

Filmplakat (Copyright CV Films)

Ilona Zioks Film kann man nicht einfach kaufen, sondern muss ihn bei „CV Films“ direkt bestellen. Wann wird er in unseren Schulen als selbstverständliches Unterrichtsmaterial gezeigt und zusammen gelesen mit Fritz Bauers Text, dem „größte(n) lebende(n) Zeuge(n) … für ein besseres Deutschland“, dem „größte(n) Botschafter, den die Bundesrepublik hatte“, wie Robert Kempner, stellvertretender Hauptankläger der USA beim Nürnberger Prozeß, Fritz Bauer nannte.

Immer noch lesenswert: Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns (bild: thelen-khoder)

Wenn ein so großer Mensch seine Gedanken so knapp zusammenfasst, fällt es schwer, etwas herauszugreifen. Und so bitte ich Fritz Bauer um Entschuldigung, wenn ich ihn so zu Wort kommen lasse:

1. Zum „Heiligen Römischen Reich (Deutscher Nation)“
Unter VII. auf S. 17: „Tendenzen, die Freiheit abzuschaffen, gab es vor allem in Italien, in Deutschland, in Russland, in Spanien und in Portugal … Diese fünf Länder sind ehemalige Weltreiche, die aber den Anschluß an den modernen Imperialismus nicht gefunden oder verloren haben. Man könnte also ihren Rückgriff auf archaische Weltreichvorstellungen als Ersatz für das Scheitern ihrer imperialen Bestrebungen in der Neuzeit verstehen, als eine Art Cäsarentum, das sie dem modernen Kolonialismus der anderen Staaten entgegensetzten. Die faschisierten Länder West- und Osteuropas sind genau diejenigen, die sich als Erben des römischen Cäsarentums und berufen fühlten, das Weltreich der Cäsaren fortzusetzen.
In Westeuropa bestimmte während des ganzen Mittelalters die Idee des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation die große Politik. Die Deutschen glaubten, eine Mission zu haben, das römische Kaiserreich zu erhalten und fortzusetzen. Ähnliches finden wir in Osteuropa, in Rußland. Das römische Weltreich war zum Schluß geteilt; es gab einen westlichen Teil, dessen Mittelpunkt Rom war, und einen östlichen, dessen Zentrum sich in Byzanz befand. Das byzantinisch-römische Erbe wurde von den russischen Zaren übernommen. Ein guter Teil des russischen Nationalismus und der Vorstellung der Weltmission des Russentums hat hier seine Quelle. Auch Spanien und Portugals Geschichte stand im Bannkreis solcher Ideen, und Mussolini ist nie müde geworden, an das alte Rom zu erinnern.
Das alte Rom war cäsarisch, nicht demokratisch …“.

2. Zu „Ordnungssinn“ und „Sachlichkeit“
Unter X. auf S. 26f: „Die Deutschen wurden auf ihre sachliche Arbeit ausgerichtet. Dem Anspruch des Staates auf Machtentfaltung nach außen und innen entsprach die Forderung nach fragloser, mechanischer Disziplin des Untertanen. Hier galt die Ideologie ,Gesetz ist Gesetz’ und ,Befehl ist Befehl’, sie sicherte Präzision. Weltanschaulicher, moralischer und humanitärer Ballast machten nach der herrschenden Auffassung einen Staat schwach und anfällig. Theorie und Praxis einer doppelten Moral überwucherte – wo sie sich erst einmal breit gemacht hatte – zwangsläufig die zum privaten Gebrauch degradierte Ethik des einzelnen und machte die Bürger zu gefügigen Staatsbürgern, die, indem sie kritiklos den Machtapparat stützten, zu ihrer eigenen Entmachtung beitrugen. Das Gebot der Sachlichkeit schuf ausgezeichnete Beamte, ausgezeichnete Offiziere und ausgezeichnete Handwerker und Arbeiter. Sie funktionierten besser, reibungsloser und widerstandsloser als die Beamten, Offiziere, Handwerker und Arbeiter anderer Länder. Die Präzision, die roboterartige Tüchtigkeit geschah aber auf Kosten des Menschlichen. Das Moralische wurde hintangestellt. Man tat seine Pflicht. Nun ist zwar Pflichterfüllung etwas Schönes und Großes, aber es gibt nicht nur eine Verpflichtung gegenüber der Sachaufgabe, die gestellt ist, sondern auch gegenüber den Menschen.
Es gab einen Dichter in Deutschland, der schon vor über einem Jahrhundert bitter darüber geklagt hat. Hölderlin litt und zerbrach. In seinem Hyperion lesen wir:

,Handwerker siehst du, aber keine Menschen,
Denker, aber keine Menschen,
Priester, aber keine Menschen,
Herren und Knechte, aber keine Menschen.’

Der Deutsche fühlte sich stets verantwortlich für seine Arbeit, er ging in ihr auf, aber die öffentlichen Dinge, das Politische im weitesten Sinne, das alles Zusammenleben zu Hause und mit den Menschen jenseits der Grenzen umfaßt, waren ihm ,ein garstiges Lied’, in das einzustimmen er ablehnte. Er folgte nicht nur im Sinne handwerklicher Tüchtigkeit der Maxime ,Schuster bleib bei deinem Leisten’. Im Dritten Reich haben wir erlebt, daß die Generäle groteskerweise zu erklären pflegten, sie seien Generäle und Offiziere, aber keine Politiker. Die Politik überließen sie Hitler. Für sie, sagten sie, trügen sie keine Verantwortung. Das waren Generäle, aber keine Menschen.
Man hat oft zwei Typen europäischer Menschen unterschieden; der eine Typus denkt vorzugsweise an Ordnung, der andere an Freiheit. Der Rechtsphilosoph Gustav Radbruch, Justizminister der Weimarer Republik, …, schrieb einmal, dem Menschen mit Ordnungssinn verdankten wir Großes; er könne aber zuzeiten zu kulturbedrohender Übertreibung neigen. …“

Ernst Klees „Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945“ führt sehr viele deutsche Juristen auf – Fritz Bauer aber nicht. Er war es vor 1933 und nach 1945, aber während des häufig immer noch mit dem Propagandawort der Nazis bezeichneten „Dritten Reiches“ war der Hessische Generalstaatsanwalt eben „nichts“, war ein Flüchtling.

Weil er wusste, vertrat, lebte, vorlebte und uns allen ins Stammbuch schrieb, „dass es in unserem Leben eine Grenze gibt, wo wir nicht mehr mitmachen dürfen.“

Fritz Bauer:

„Eine Politik im Dienste des Rechts eines jeden auf Glück wird aber nicht nur in politischen Zirkeln, durch Diskussionen und Wahlen getrieben. Jede Stunde des Alltags gibt allen Gelegenheit dazu, zu Hause, bei der Arbeit, auf der Straße, im Umgang und in Zusammenarbeit mit den Menschen aller Stände, Rassen und Weltanschauungen. Goethe hat einmal gesagt: ,Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst.’ Leben meint Leben und Lebenlassen, heißt das Leben und alle Menschen lieben. Das ist, gerade weil es mitunter recht schwerfällt, jedenfalls heroischer, als die Menschen zu quälen, zu plagen und totzuschlagen.“

Zum 115. Geburtstag von Fritz Bauer stellt „CV Films“ ihren Film „Fritz Bauer. Tod auf Raten“ von Ilona Ziok (Weltpremiere 2010 auf der Berlinale, mehrfach ausgestrahlt von 3SAT, PHOENIX und dem SWR in Deutschland und auf vielen internationalen Festivals und TV-Sendern, bis zur kommenden Sonntagnacht kostenlos auf YouTube ein.

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„Bitte klicken Sie dazu den folgenden Link:
https://www.youtube.com/channel/UC1t3kuGEnXBFdgbwvr-v3ag?feature=em-share_video_user“, heißt es in einer Nachricht der Produktionsfirma. Nähere Informationen zum Film findet man unter www.fritz-bauer-film.de.