Von Drogen, Dichtern, Päpsten und Piraten: Marion bei den Mexis, Teil 22

Dieser Artikel ist der 22. Teil einer persönlichen Serie über das Leben in Mexico und Mexico-City. Heute berichtet unsere Autorin von Problemen mit den Nachbarn und denkt über Papst, Parteien und den kürzlich verstorbenen mexikanischen Schriftsteller Carlos Fuentes nach. Wir wünschen viel Spaß beim Lesen.

¡Hola a todos!

Stell dir vor, du öffnest nachmittags deine Wohnungstür und davor liegt ein Brief. Du hebst ihn auf. Auf dem Umschlag steht „Dringender Warnruf an alle Bewohner dieses Hauses“ (handschriftlich), du öffnest den Umschlag und liest auf einem Blatt (wieder handschriftlich), dass die neue Nachbarin von der Wohnung gegenüber der Kopf eines Drogenkartells sei, die unter dem Deckmäntelchen einer Immobilienfirma agiert.

Die Sanchez-Schwestern hätten schon unzählige, unschuldige Menschenleben auf dem Gewissen und würden nun die Abstellkammern auf dem Flachdach für ihre Drogen nutzen. Was würdest du mit diesem anonymen Brief machen?
a) zur Polizei gehen
b) denken, das ist ja toll, dann brauche ich nicht einmal mehr das Haus verlassen, wenn ich mal was brauche
c) als Fake abtun

So ein Brief lag letzte Woche vor unserer Tür und wir sind damit erst einmal zu unserem Parkplatzpatron Agustin gegangen (Vorschlag a) ist in diesem Land eigentlich immer die schlechteste Idee). Denn wenn es in unserem Bekanntenkreis einen Experten für uns unverständlich mexikanisches Verhalten gibt, ist es Agustin.

Der war in den letzten Wochen damit beschäftigt seinen 23jährigen Sohn untertauchen zu lassen, da er im Internet Leute erpresst haben soll. Als wir sagten, dass das doch eine Unterstellung sei, blickte Agustin uns mit seinen langbewimperten Dackelaugen an und schüttelte fast unbemerkt seinen Kopf. Er merkte dazu an, dass daran nur die schwierige familiäre Situation zu Hause schuld sei. Ich dachte nur, der Typ ist 23, irgendwann ist doch auch mal Schluss mit der elterlichen Fürsorge.

Alles ruhig in Mexico City?
Wohnen in Mexico. (fotos: koerdt)

Racheakt und Rufmord?

Na ja, jedenfalls konnte Agustin den Brief zielgerecht einordnen: Scheint ein Racheakt zu sein. Typischer Rufmord. Entweder eine geschasste Muchacha oder jemand aus dem Haus.

Da Agustin meinte, es sei eine Frauenschrift, grenzte sich der Personenkreis im Haus sehr stark ein. Dann könnte es nur die Mutter von Flachdachkantatensänger Rodrigo sein. Wenn man daran glaubt, dass der Apfel nicht weit vom Stamm fällt, könnte das sogar passen. Denn ganz frisch wirken ja beide nicht auf mich.

Die neue Nachbarin ist mittlerweile eingezogen und mir sind noch keine weiteren Details aufgefallen, die darauf hinweisen könnten, dass sie eine Drogenbaronin sein könnte. Das Einzige, was auffällt, ist, dass sie wohl einige unglücklich verlaufene Liftings hinter sich und mindestens sechs Schlösser an ihre Wohnungstür angebracht hat.

Ansonsten ist sie nicht gerade die sympathischste Erscheinung: Während ihrer Wohnungsrenovierung hatten wir einige eher unerfreuliche Aufeinandertreffen (einmal hatten ihre Elektriker einfach unser Hauptstromkabel abgeknipst, einmal hatte der Installateur einfach die Wasserrohre mit Zeitungen zugestopft, so dass unsere Küche unter Wasser stand). Aber auf die Idee, die Alte könne eine Kartellchefin sein, wäre ich im Leben nicht gekommen.

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Carlos Fuentes ist tot – doch anstatt sich die ganzen Fotoreihen in den Zeitungen anzuschauen, sollte ich endlich einmal seine Bücher lesen.

Carlos Fuentes im Alter von 83 Jahren gestorben

Die sonstige Nachrichtenlage gibt leider auch sonst nicht viel Erfreuliches her:

Wieder mehrere Massaker im Norden, die letzten drei Senatoren des Bundesstaates Tamaulipas werden beschuldigt mit einigen Drogenkartellen gemeinsame Sache gemacht zu haben, zwei hochrangige Militärs sind mit dem gleichen Vorwurf in der letzten Woche festgenommen worden (was hier eine absolute Ausnahme darstellt) und dann ist am Dienstag auch noch Carlos Fuentes im Alter von 83 Jahren gestorben. Seitdem schaue ich mir in den Zeitungen eine Fotostrecke nach der anderen an, im Palacio Bellas Artes wurde der Schriftsteller aufgebahrt und alles, was Rang und Namen hat, war vor Ort.

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Hier im Palacio Bellas Artes im historischen Zentrum wurde am letzten Mittwoch Carlos Fuentes aufgebahrt. Zum Glück war der Sarg -im Gegensatz zur Aufbahrung Pius XII.- geschlossen

Ich jedenfalls muss nun seit Tagen schamvoll gestehen, dass ich (noch) nichts von ihm gelesen habe. Habe mir aber sagen lassen, dass „Aura“ ganz toll sein soll. Vergleiche sind ja immer schwierig, aber ich habe mir Herrn Fuentes als eine Art mexikanischer Günter Grass vorgestellt. Jedenfalls, was seine öffentliche Wirkung betrifft. Ob ich damit richtig liege? Man darf mich korrigieren.

Wenn der Papst kommt und die Drogenkartelle halten Waffenstillstand von drei Tagen ein

Auch sonst ist in letzter Zeit einiges losgewesen: Der Papst war da. Zum Glück nicht in der Stadt, sondern 300 Kilometer weiter im Norden, in Guanajuato und Umgebung.

Mexiko-Stadt läge ihm zu hoch. Und dann noch die Befürchtung, er könne die Luft nicht vertragen. In diesem Punkt hat er sogar mein Verständnis, das sich ansonsten ziemlich in Grenzen hält.

Passend zum Papstbesuch habe ich eine Biographie Pius XII. (John Cornwell: Pius XII. – Der Papst, der geschwiegen hat, Verlag C.H. Beck, München 1999) gelesen. Falls jemand noch ein paar Gründe braucht, um aus der katholischen Kirche auszutreten, in diesem Buch wird er fündig.

Meine Lieblingsstelle ist übrigens die, wie geschildert wird, dass sich der windige Leibarzt nach dem Ableben des Papstes einer „neuen“ Methode bei der Einbalsamierung bedienen wollte und deswegen nicht die Organe entfernte. In der sommerlichen Hitze zerplatzten diese dann im Leichenwagen und bei der Aufbahrung im Petersdom verfärbte sich das Gesicht des toten Papstes von grün-gelb zu purpurrot. Zu guter Letzt verfärbte sich die Nase schwarz und fiel vor der Beisetzung ab.

Ach ja, die Drogenkartelle haben während des Papstbesuches ihre Kämpfe eingestellt und damit den Lösungsweg für das hiesige Dilemma aufgezeigt: Der Papst muss einfach den Vatikan nach Mexiko verlegen. Vielleicht würden dann diese Scheinheiligen auch länger als drei Tage das Morden sein lassen.

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Wie unschwer zu erkennen ist, war der Papst in Mexiko. Da wir uns nicht persönlich begegnet sind, muss ein Zeitungsfoto herhalten.

Piraten – Partei ohne Programm

Zwischenzeitlich überkam mich das Gefühl aus dem politischen Alltagsgeschäft Deutschlands raus zu sein. Vor kurzem war ein längerer Artikel über die Piraten in der Tageszeitung „La Jornada“, woraufhin mich mehrere mexikanische Bekannte fragten, was denn diese neue Partei in Deutschland wolle. Ich konnte daraufhin nur mit den Schultern zucken. Soweit ich weiß, hat sie noch nicht einmal ein Programm. Unglaubwürdiges Staunen bei meinen Gegenübern. Eine Partei ohne Programm und dann so erfolgreich, wie geht denn das? Vielleicht ist ja gerade das der Erfolg.

Aber ehrlich gesagt, konnte ich das Phänomen nicht erklären. Dass sie wohl ein Phänomen sein muss, sehe ich an den Wahlergebnissen zur NRW-Wahl. Selbst im Hochsauerlandkreis konnten die Piraten punkten. Und das will schon was heißen.

Präsidentschaftswahlkampf in Mexiko

Der hiesige Präsidentenwahlkampf hat auch begonnen. Doch mehr als ein tägliches Foto der Präsidentschaftskandidaten bei irgendwelchen Veranstaltungen in irgendwelchen Bundesstaaten in den Zeitungen ist mir noch nicht aufgefallen. Vielleicht ist es doch wie bei den Piraten, dass keiner der drei ernstzunehmenden Kandidaten ein Programm hat.

Es gibt auch noch einen vierten Kandidaten, Gabriel Quadri de la Torre von der „Partido Nueva Alianza“, die sich von der „Partido Revolucionario Institucional/ PRI“ („Institutionelle Partei der Revolution“) und der „Partido Verde“ („Grüne Partei“) abgespaltet hat. In Deutschland würde man seine Positionen wohl „grün“ nennen (Umweltschutz, Eintreten für die Homo-Ehe etc.). Aber da die Grünen hier u.a. für die Todesstrafe plädieren, hinkt jeder Vergleich zwischen den Grünen hier und in Deutschland.

Wie dem auch sei: Quadri erscheint eigentlich als Alternative, aber bei einer Wahlveranstaltung in der letzten Woche von Studierenden Hitlerismus (was soll das sein?) vorgeworfen. Habe ich nicht verstanden, vielleicht tritt er auch für Fleischverzicht ein und Hitler war ja Vegetarier.

Eindeutiger ist da wohl die bewegte Vergangenheit des PRI-Kandidaten Enrique Peña Nieto: Jedenfalls liegt zur Zeit in jeder Buchhandlung das Buch „Las mujeres de Peña Nieto“ („Die Frauen des Peña Nieto“ ) aus (aktuell ist er mit einer Schauspielerin verheiratet).

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Momentan kann man sich mit Büchern über die Präsidentsschaftskandidaten eindecken. Wobei die Bücher über den PRI-Kandidaten Enrique Pena Nieto wohl die meiste Unterhaltung bieten – – schließlich lauten die Titel u.a. „Die Frauen des Pena Nieto“ oder „Seine dunklen Seiten“.

Von „Merkel und ihren Männern“ habe ich zum Glück bislang nichts gehört. Aber wer weiß, welche Überraschungen uns noch vor der nächsten Bundestagswahl erwarten.

Nur eins ist wohl gewiss: Röttgen wird wohl nichts mehr. Aber vielleicht überrascht er uns bald mit einem Buch: „Der Röttgen-Ratgeber- Wie zerstöre ich meine Karriere innerhalb einer Woche?“.

Ich hoffe, euch allen geht es gut!

Muchos saludos,
Marion

Der Papst fliegt nach Mexiko. Die Legende der Jungfrau von Guadelupe als genialer Schachzug der katholischen Kirche?

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Nuestra Señora de Guadalupe, mexikanische Maria zum Mitnehmen (foto: chris)

Heute besucht der Papst Mexiko, eine von zwei Stationen seiner Lateinamerika-Reise. Die mexikanische Maria ist die Jungfrau von Guadelupe, eine der bedeutendsten Marienheiligtümer überhaupt. Doch wie kam Maria nach Mexiko?

Nach der Eroberung der Aztekenstadt Tenochtitlán verehrten die spanischen Conquistadoren ihre Jungfrau Maria. Maria mit europäischen Antlitz. Tempel und Heiligtümer der erobten Azteken wurden zerstört, der Katholizismus sollte den sogenannten heidnischen Glauben ersetzen.

Am Morgen des 9. Dezember 1531 ereignete sich der Legende nach folgendes Wunder:

Der bereits getaufte 57-jähriger Landbesitzer Juan Diego (Geburtsname: Cuauhtlatoatzin), hatte eine Vision: eine dunkelhaarige, braunhäutige, indigene Frau erschien ihm und forderte ihn auf, eine Kirche zu errichten. Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, ließ die Jungfrau Rosen auf dem kargen Boden erblühen. Insgesamt erschien die mexikanische Maria fünf Mal und konnte schließlich auch den skeptischen Bischof von sich überzeugen.

Der Ort dieser Erscheinung, der Berg Tepeyac, war ebenfalls bedeutsam, hatte doch hier zunächst ein Aztekentempel gestanden, welchen die Spanier zerstörten. Dennoch pilgerten die nicht-katholischen Mexikaner weiterhin an diesen Ort. Da kam ein Wunder ganz gelegen, um die heidnische Götterverehrung zu beenden und dieser Stelle endlich ein katholisches Gepräge zu geben.

Sollten Menschen bei dieser Legendenbildung nachgeholfen haben, so war dies ein genialer Schachzug: Mit Hilfe der Jungfrau von Guadelupe gelang es der katholischen Kirche, einen Großteil der indigenen Bevölkerung Mexikos dauerhaft auf ihre Seite zu ziehen. Der Erfolg wird auch heute wieder während des Papstbesuchs zu bewundern sein.

‚Te gusta México?‘ Eine schwierige Frage: Gefällt mir dieses Land? Marion bei den Mexis, Teil 21

Dieser Artikel ist der 21. Teil einer persönlichen Serie über das Leben in Mexico und Mexico-City. Heute denkt unser Autorin darüber nach, ob ihr das Leben in Mexiko gefällt – und kommt dabei zu ganz widersprüchlichen Ergebnissen. Viel Spaß beim Lesen.

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DVD-Abteilung in einer christlichen Buchhandlung im Stadtteil
Coyoacán. Nach welchem System die Filme geordnet sind, ist nicht ganz
deutlich. Wenn Jesus Österreicher gewesen wäre, hätte das die Reihe
„Berühmte Österreicher“ gewesen sein können (fotos: koerdt)

Hola a todos!

„Gefällt Ihnen Mexiko?“ Ich weiß nicht, wie oft mir diese Frage in den letzten zwei Jahren gestellt worden ist. Gefühlt jeden Tag. Erst wieder vor zwei Tagen in einem Büroartikelgeschäft, als zu Hause mal wieder das Internet nicht ging und ich an den dortigen Terminals nach meinen Mails schauen wollte. Der Mann am Rechner neben mir wusste nicht, wie er eine bestimmte Einstellung in Word machen sollte und fragte mich. Kaum hatte ich ihm die Tastenkombination gezeigt, kam die Frage: „Te gusta México?“ Und dieses Mal war ich kurz davor mit der mir selbst zurechtgelegten Wahrheit rauszurücken:

Kollegin überfallen und ausgeraubt

Letzte Woche ist meine ehemalige mexikanische Kollegin aus der Schulbibliothek morgens auf dem Weg zur Arbeit überfallen worden. Sie hat sich ein Taxi heran gewunken. Kurz danach, als der Wagen an einer Ampel hielt, sprangen zwei Typen in den Wagen und keilten sie auf dem Rücksitz ein. Sie solle einfach die Augen zumachen und der Taxifahrer solle ihren Anweisungen folgen. Was dieser klugerweise auch tat, denn einer der Typen fuchelte mit einer Waffe herum. Dann musste sie, eine 24jährige Germanistikstudentin, ihr Konto leerräumen und ihnen ihr Handy überlassen. Nach einer halben Stunde war der Horror vorbei. Dass sie Todesangst hatte, ist mehr als verständlich, wenn ich hier in den Zeitungen fast jeden Tag lese, wie wenig ein Menschenleben wert sein kann.

Es geht nur ums Geld

Und wenn mir mein etwas dunkelhäutiger Bekannter Fernando erzählt, wie er aufgrund seiner Hautfarbe diskriminiert wird. Und er mir sagt, die Mexikaner kennen keine Solidarität. Für die meisten hier sei der einzige Wert Geld. Das würde auch erklären, warum eine 24jährige Studentin überfallen wird. Es ist einfach egal, wie viel zu holen ist. Hauptsache es wird geholt.

Die Polizei als Freund und Helfer – ein Witz

Ich fragte Fernando, ob das ein Armutsproblem sei. Er verneinte. Auch die Reichen würden raffen und rauben. Besonders die Politiker. Ob ich denn hier der Polizei vertrauen würde. Ich lächelte und schüttelte den Kopf. In Deutschland gebe es den Spruch „Die Polizei “ dein Freund und Helfer“, da musste Fernando lachen.

In neun Monaten 75 ermordete Journalisten

Fernando arbeitet mittlerweile als Spanischlehrer an der Uni. Zuvor war auch für kurze Zeit Zeitungsredakteur. Warum er denn aufgehört hätte? Er hätte auf Honorarbasis gearbeitet und sein Chef hat häufig seine Artikel nicht drucken wollen. Aus Angst, die Werbekunden würden sich beschweren. Nur die Werbekunden? Fernando zuckt die Schultern. Hier gebe es eine Zensur, die eben nicht nur den Werbekunden dient. Heute steht in „La Jornada“, dass zwischen September 2010 und Juni 2011 (also in neun Monaten) 75 Journalisten in Mexiko umgebracht worden sind. Fernando hat einen Sohn. Da ist es nur allzu verständlich, warum er sich eine andere Tätigkeit gesucht hat.

„Te gusta México?“ Nein, in solchen Fällen nicht.

„Te gusta México?“ Wenn die Menschen in Mexiko-Stadt dem Verkehrsirrsinn tagtäglich standhalten, wie gelassen sie auf chaotische Situationen reagieren und erst recht, wenn sie feiern. Dann mag ich Mexiko. Ich mag die phantastischen Landschaften, die kargen Plateaus, die beeindruckenden Vulkane. Und ich mich immer wieder frage, wie viel Mexiko kenne ich überhaupt und was verstehe ich überhaupt von dem, was ich sehe und erlebe. Dann mag ich Mexiko.

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Ein Land auf dem Eco-Tripp: Mit dem Fahrrad unterwegs

Und ich mag eben auch die Absurditäten, wenn versucht wird, Ideen zu kopieren. Seit geraumer Zeit ist ein Schlagwort ganz groß in Mode gekommen: Alles wird nun zu „Eco“ erklärt. So heißen die Leihfahrräder in den etwas besser gestellten Stadtteilen wie zum Beispiel La Condesa „Eco-Bici“ (Bici für Bicicleta, spanisch für Fahrrad). In dem Zusammenhang ergibt das ja noch einen Sinn. Auch wenn das Radfahren hier weniger unter ökologischen Gesichtspinkten betrachtet wird. Denn beim hiesigen Autoverkehr ist es beim Verlassen der ausgewiesenen Radrouten lebensgefährlich. So zeigt sich der hippe Condesa-Bewohner nun gerne mit Rad, um in sein Szene-Café zu gelangen.
Auch dass sich ein paar Nationalparks nun Öko-Parks nennen, erschließt sich mir noch. Aber warum nun in meinem Stadtteil Polanco das Parken zum Eco-Parq erklärt wird, erscheint mir doch der Gipfel der Absurdität.

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Ratlose Menschen vorm Parkautomaten. Zum Glück gibt es aber überall Rat.

Parkraumkonzepte: Ökoparken

Letzten Freitag wurden vor unserem Haus während einer Nacht-und Nebelaktion auf der Straße Parkflächen ausgewiesen und Parkautomaten aufgestellt. Ich erinnerte mich an Bilder von Lía Limón, wie sie bei der Einweihung dieser Parkautomaten etwas weiter südlich in unserem Viertel ihre gebleachten Zähne in Kameras lächelte.

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Das Ganze heißt jetzt Ökoparken und ist nichts anderes als zu bezahlender Parkraum. Dann flog ein Infozettel ins Haus, aus dem hervorging, dass Polanco bald nicht mehr automatenfrei sein wird. Aber nicht, wohin die Einnahmen überhaupt fließen sollen.

Und nunmehr ist Paco, Parkeinweiser vorm Haus und unser informeller Hausmeister, nicht bester Laune. Schließlich machte bislang ein Großteil seines Einkommens aus, dass er sich hier als Parkwächter generierte und die Leute ihm dafür ein paar Pesos in die Hand drückten. Wenn sie nun aber nur noch drei Stunden in der Straße parken dürfen und auch noch dafür zahlen müssen, wird wohl nicht mehr viel für Paco dabei abfallen. Vielleicht wird er bei den anderen Parkwächtern anheuern müssen, die nun ausstaffiert mit Leuchtweste, auf der dick ein P-Emblem gedruckt ist, durch das Viertel ziehen.

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Die Info-Box um Park um die Ecke. Der Andrang hält sich aber in Grenzen.

Im kleinen Park an der Straßenecke gibt es nun eine Eco-Parc-Info-Box. Und Information scheint wohl dringend erforderlich: Mehrere Tasten wollen gedrückt sein, bevor einem das ersehnte Ticket entgegen fliegt. Das Bild dieser Tage: Ratlose Menschen vor Automaten. Als ich heute einkaufen ging, kam mir eine Heerschar junger Leute entgegen, die alle ein P-Winkelement in den Händen hielt. Ich dachte allen Ernstes zuerst, dass seien Studenten, die gegen diesen Irrsinn protestieren. Doch dann sah ich, dass es eine weitere bezahlte Info-Kampagne war. Ich sollte mal meine Wahrnehmungen überdenken: Nicht alles, was knapp über 20 ist und mit einem Pappschild in einer Menschenmenge durch die Straße marschiert, ist zwingend ein demonstrierender Student.

Geschönte Frauen im Wahlkampf

Nun bin ich gespannt, was als Nächstes zu Öko erklärt wird. Ich glaube die Obst- und Gemüseabteilung im Supermarkt hat da noch Nachholbedarf. Vielleicht ein weiterer Einsatz für Lía Limón. Mir konnte ja niemand von meinen mexikanischen Bekannten erklären, was diese Frau will, welche Funktion sie hat und woher sie überhaupt kommt.

Im Gegensatz zu Josefina Vázquez Mota. Von der hingen zum Glück bislang noch keine Plakate in meinem Viertel. Die Frau hat so viele scheinbar nicht ganz geglückte Schönheitsoperationen hinter sich, so dass ich bislang bei ihrem Anblick auf Zeitungsfotos immer zusammengezuckt bin. Wahrscheinlich der Kitzel, der einen auch beim Horrorfilmgucken erwischen kann. Aber wahrscheinlich ist das nur eine Frage der Zeit, bis die Plakate kommen. Schließlich ist sie Präsidentschaftskandidatin der regierenden, konservativen PAN. Ich bin gespannt, welche Losung sie wohl bei einem Wahlsieg herausgeben wird: Kostenlose Schönheitsoperationen für alle?

Papst im Anmarsch

Zur Abwahl steht leider nicht ein Mann, der in ein paar Tagen das Land besuchen wird. Und der mittlerweile die Berichterstattung beherrscht und die gesamte Stadt in Aufruhr versetzt: Der Papst kommt und die Mexis (zum Glück nicht alle) sind total aus dem Häuschen. Ob Benedikt XVI. es schaffen wird, die Popularität seines Vorgängers abzulösen bleibt abzuwarten. Noch bekommt fast ausschließlich Johannes Paul II.-Devotionalien. Aber vielleicht ist es auch geschickt, erst einmal zu versuchen den alten Schrott wegzubekommen. Wie es wird, davon dann vielleicht demnächst mehr. Momentan steht mir der Sinn eher danach, die Stadt zu verlassen.

Hoffe, euch allen geht es gut!
Muchos saludos,
Marion

„Quién es Wulff?“ und wo die Köpfe wirklich rollen: die Präsidentenwahlen in Mexico. Marion bei den Mexis, Teil 20.

Dieser Artikel ist der 20. Teil einer persönlichen Serie über das Leben in Mexico und Mexico-City. Heute erfahren wir unter anderem, wie fünf abgeschlagene Köpfe über eine Tanzfläche in Michaocán rollen. Trotzdem viel Spaß beim Lesen.

Mir hat sich nicht erschlossen, warum sich die grûne Partei in Mexiko fûr die Todesstrafe einsetzt. Jedenfalls wollen sie diese "anbieten". (fotos: koerdt)
Mir hat sich nicht erschlossen, warum sich die grûne Partei in Mexiko fûr die Todesstrafe einsetzt. Jedenfalls wollen sie diese „anbieten“. (fotos: koerdt)

Hola a todos!

Wegen „der Entdeckung korrupter Praktiken“ sei er zurückgetreten, so die mexikanische Tageszeitung „La Jornada“ am letzten Wochenende.

„Quién es Wulff?“ („Wer ist Wulff?“)
Immerhin hat er es auf die dritte Seite der internationalen Meldungen geschafft (nach Syrien und den USA) und hier hat sich wohl auch mancher verwundert die Augen gerieben: „Quién es Wulff?“ („Wer ist Wulff?“)

„Mörkel“ – la presidente
Schließlich wird vom mexikanischen Großteil angenommen, dass die „Mörkel“ „la presidente“ sei und somit bekam mancher Mexikaner nun eine Lektion ins politische System der Bundesrepublik Deutschland. Und es mangelt auch nicht an freundlicher Häme: Ja, auch die Politiker in Deutschland sind korrupt, nicht nur unsere.

Wenn einer nicht korrupt ist, ist er kein Politiker
Aber vielleicht mit einem feinen Unterschied: Wulff ist wohl eher von spießigen Kleinbürger-Wünschen angetrieben worden, in Mexiko geht es dann doch gleich immer um andere Dimensionen. Wie sagte mir ein Bekannter in der letzten Woche? Wenn einer nicht korrupt ist, ist er kein Politiker oder er wird von den anderen als beschränkt wahrgenommen.

Die Präsidentenwahlen stehen im Sommer an
Dieses Jahr wird es spannend in Mexiko: Die Präsidentenwahlen stehen im Sommer an. Und es ist bislang noch kein Präsident wegen Korruptionsvorwürfe zurückgetreten. So wird es wohl auch der stocksteife, konservative Felipe Calderón schaffen seine sechsjährige Amtszeit bis Juni ohne Straucheln über die Ziellinie zu bringen.

Calderóns Kampf gegen den Drogenterrorismus
Wie seine Bilanz aussehen wird, kann man vielleicht bereits jetzt schon an bestimmten Zahlen ablesen. Jeder Präsident gibt zu Beginn seiner Amtszeit eine Losung aus, die dann ohne Wenn und Aber verfolgt wird. Calderón hat sich dem Kampf gegen den Drogenterrorismus verschrieben. Somit wurde besonders im Norden des Landes Militär zur Bekämpfung eingesetzt. Dabei wurde aber auch einmal ausgeblendet, dass das mexikanische Militär gar nicht im Inlandseinsatz sein darf.

50 000 Toten in den letzten sechs Jahren
Zahlreiche Polizisten haben ihr Leben gelassen oder die Seiten gewechselt, die Kartelle sind nach wie vor stark, die Waffen schaffen immer wieder ihren Weg über die Grenze im Norden des Landes. Man spricht von 50 000 Toten in den letzten sechs Jahren, deren Tod im Zusammenhang mit Narco stand. Wie viele es wirklich sind, wird wohl nie herausgefunden werden. Täglich werden neue Leichen entdeckt.

Damit hier kein Missverständnis entsteht: Das Drogenproblem gab es auch schon vor Calderón. Doch die Situation hat sich in den letzten Jahren zugespitzt.

Auch Calderón soll seinen Lieblings-Capo haben. Ausgerechnet seit 2006 taucht ein Kartell verstärkt auf der nationalen Bühne auf: La Familia aus dem Bundesstaat Michaocán, Calderóns Heimat. Ein Schelm, der dabei Böses denkt. Mittlerweile soll das Kartell La Familia, das sich wohl vom berüchtigten Golf-Kartell abgespalten haben soll, bis zu 4000 Mitgliedern haben und in allen 113 Gemeinden des Bundesstaates präsent sein.

Eine x-beliebige Zufahrt an einem x-beliebigen Tag an der Reforma. Sicher ist: Allein ist man nie.
Eine x-beliebige Zufahrt an einem x-beliebigen Tag an der Reforma. Sicher ist: Allein ist man nie.

In Michaocán rollten fünf abgeschlagene Köpfe über die Tanzfläche
Die Bezahlung der „Angestellten“ soll für mexikanische Verhältnisse mehr als sehr gut sein: Zwischen 1500 und 2000 US-Dollar soll es monatlich geben. Mit quasi-religiösen Botschaften geht La Familia an die Öffentlichkeit, um –wie sie in einer Zeitungsanzeige selbst klargemacht haben- „die Ordnung wiederherzustellen“. Und das kann auch mal wie in einer Kleinstadt in Michaocán aussehen: Dort rollten fünf abgeschlagene Köpfe über die Tanzfläche.

In zahlreichen Schulen fehlt es an jeder Grundausstattung
Manchmal überkommt einen dabei das Gefühl, dass die gesamte Politik derartig auf diese Terrorbekämpfung ausgerichtet ist, so dass andere Bereiche völlig ausgeblendet worden ist. In zahlreichen Schulen fehlt es an jeder Grundausstattung – und damit sind nicht Computer, sondern zum Beispiel Stühle gemeint. Mal sehen, ob der nächste Präsident mal wieder ein Herz für Bildung hat. Oder in welchem Bundesstaat das nächste Kartell erstarkt.

Vermutung der Wahlfälschung
Der Auftakt für Wahlveranstaltungen jeglicher Art ist bereits getan. Im vergangenen November gab es eine kleine Überraschung, als nicht der regierende Bürgermeister von Mexiko-Stadt, Marcelo Ebrard, für die linksliberale PRD (Partei der Demokratischen Revolution) seinen Hut in den Ring warf, sondern der bereits vor sechs Jahren gescheiterte Präsidentschaftskandidat Andrés Manuel López Obrador. Der hatte die letzte Wahl dermaßen knapp verloren (mit einer Differenz von 0,58% der abgegebenen Stimmen), so dass die Vermutung der Wahlfälschung vielen Mexikanern sehr schnell kam.

Politischer Fehler: zentrale Verkehrsader der Stadt verstopft
López Obrador sah sich als moralischen Sieger und genoss mit seinen anfänglichen Protesten auf dem zentralen Platz Zócalo auch die Sympathien der Bevölkerung. Die verspielte er allerdings, als er dann knappe eineinhalb Monate den Prachtboulevard Reforma besetzte und damit eine zentrale Verkehrsader der Stadt verstopfte.

Illustre Persönlichkeiten: Lía Limón
Aber auch auf lokaler Ebene gibt es illustre Persönlichkeiten: So hingen in den letzten Wochen in meinem Viertel Polanco überall Plakate von Lía Limón. Ihr Name weckte bei mir die Assoziation, sie könne eine Freundin von Emily Erdbeer sein (die hier Rosita Fresita, also Röschen Erdbeerchen, heißt) sein. Aber sie ist wohl Stadtabgeordnete von Polanco.

Mexikanische Koch-Mehrin: dieses gebleachte Lächeln kam mir in den letzten Wochen an jeder Straßenseite entgegen. Grusel...
Mexikanische Koch-Mehrin: dieses gebleachte Lächeln kam mir in den letzten Wochen an jeder Straßenseite entgegen. Grusel…

Inhaltsleere „100% a tu lado“, also 100% an deiner Seite
Weder auf den Plakaten noch auf ihrer Internetseite konnte ich herausfinden, in welcher Partei sie ist, geschweige für welche Positionen sie steht. Sie stehe „100% a tu lado“, also „100% an deiner Seite“ das war die einzige Aussage auf dem Plakat und das klingt schon fast mehr wie eine Drohung. Dafür gibt es auf ihrer Seite schöne Bilderreihen, auf denen sie mich manchmal an Super-Nanny Katharina Saalfrank erinnert. Dabei bewundert sie unter anderem die neu aufgestellten Parkautomaten im Viertel, die bei den hiesigen Anwohnern einen regelrechten Aufstand ausgelöst haben. Ich halte es aber für sehr unwahrscheinlich, dass Frau Saalfrank nach der Absetzung ihrer Sendung in die mexikanische Lokalpolitik eingestiegen ist.

Warten auf die Sündenbockverbrennung
Und während in der letzten Woche im Rheinland mit dem Nubbel sämtliche Sünden der Karnevalszeit in Rauch aufgegangen sind (ich habe gehört, mittlerweile soll dieser Brauch auch im Sauerland angekommen sein), müssen die Mexikaner noch ein paar Wochen mit ihrer Sündenbockverbrennung warten.

„Judasverbrennung“ im Stadtteil Tepito
Zu Ostern gibt es eine „Judasverbrennung“ im Stadtteil Tepito. Da werden aus Pappmaschee und Zuckerrohrstangen gebastelte Figuren nach einer Prozession an einer Laterne aufgehängt und für ihre Untaten zum Tode durch Feuer verurteilt. Auffällig häufig tragen diese Figuren Politikergesichter und diese Verbrennungen erfreuen sich einer unglaublichen Beliebtheit bei der Bevölkerung. Ob ein diesjähriger Nubbel auch das Wullfsche Konterfeit trug, ist nicht zu mir durchgedrungen.

Hoffe, euch allen geht es gut!

Muchos saludos,
Marion

Internationale Buchmesse Guadalajara: Deutschland ist zu Gast. Marion ist bei den Mexis, Teil 19.

Ganz Deutschland ist ein verschneiter Märchenwald. Jedenfalls präsentiert sich so der deutsche Pavillon auf der Buchmesse. Seltsamerweise wurde dort auch die Klimaanlage etwas weiter runter gedreht. Wahrscheinlich denkt der Mexikaner, dass es der Deutsche lieber etwas kühl mag.
Ganz Deutschland ist ein verschneiter Märchenwald. Jedenfalls präsentiert sich so der deutsche Pavillon auf der Buchmesse. Seltsamerweise wurde dort auch die Klimaanlage etwas weiter runter gedreht. Wahrscheinlich denkt der Mexikaner, dass es der Deutsche lieber etwas kühl mag. (fotos: koerdt)

Dieser Artikel ist der 19. Teil einer persönlichen Serie über das Leben in Mexico und Mexico-City. Heute erfahren wir etwas über die Buchmesse in Guadalajara, Herta Müller und Vargas Llosa, sowie die notorischen Morde in der Mitte der mexikanischen Gesellschaft. Viel Spaß beim Lesen.

Hola a todos!

Ganz Mexiko sinniert dieser Tage über den Geist „Alemanias“ (da wird aus „corazon“ auch schon einmal ein „Hertz“ und Peter Handke und Thomas Bernhard werden auch einmal ganz schnell eingebürgert) – ganz Mexiko? Wohl nicht ganz, obwohl die hiesigen Feuilletonisten uns das weismachen wollen.

Zum 25. Mal findet in diesen Tagen in Guadalajara die internationale Buchmesse statt und Gastland ist dieses Jahr die Bundesrepublik Deutschland. Deswegen findet man in den Zeitungen immer mal wieder Essays über dieses Land in Europa, das die meisten hier mit Volkswagen in Verbindung bringen. Oder überhaupt mit wirtschaftlicher Stärke. Das ist eben auch das Land der Dichter und Denker ist, ist hier zwar nicht gänzlich unbekannt, geht aber wohl im alltäglichen Überlebenskampf der meisten Mexikaner unter.

Morde in der Nähe der Messe
Diesen alltäglichen Überlebenskampf haben am letzten Donnerstag 26 junge Männer nicht überstanden. Sie wurden in drei Lieferwagen auf einer Schnellstraße gefunden – 600 Meter von der Expo Guadajalara entfernt. Genau dort, wo die Buchmesse stattfindet. Bekannt haben sich zu der Tat die Zetas, einer der vorherrschenden Narcotrafico-Gruppe Mexikos. Ob es einen Zusammenhang zwischen der Veranstaltung und der Tat gibt? Noch wird mit den Schultern gezuckt.

Jedenfalls hat Guadajalara es damit geschafft landesweit ins Zentrum des Interesses zu rücken. Die örtlichen Feuilletonisten fragen auch schon bang: sind wir nach Ciudad de Juarez, Veracruz und Acapulco die nächsten?

Die Messe mit berühmten Namen
Aber erst einmal wird das Buch hochgelobt und mit ihm seine Autoren. Und hier vor Ort sind auch Namen, die sich sehen lassen können.

Lektion in Körpersprache, Teil 1: Sehen so Menschen aus, die sich etwas zu sagen haben? - Die beiden Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa und Herta Müller auf dem Podium. (fotos: koerdt)
Lektion in Körpersprache, Teil 1: Sehen so Menschen aus, die sich etwas zu sagen haben? - Die beiden Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa und Herta Müller auf dem Podium. (fotos: koerdt)

Der vorläufige Höhepunkt sollte am Sonntag ein Gespräch zwischen den beiden Nobelpreisträgern Herta Müller (Deutschland) und Mario Vargas Llosa (Peru) sein. Warum auch Moderator Juan Cruz mit auf dem Podium saß, bleibt schleierhaft. Denn das Publikum erlebte ein völlig moderationsfreies Gespräch, in dem die beiden Gesprächspartner sich eigentlich nichts zu sagen hatten.

Diese Moderationsfreiheit wurde auch durch die Aussage Herta Müllers unterstützt: „Ich mache lange Antworten, um mich zu schützen.“ Eben um sich vor den teils sinnlosen Fragen zu schützen. Was ihr auch in weiten Strecken gelang. Sie konnte so ausführen, dass Lesen die Beschäftigung war, die ihr in ihrem Leben in der Diktatur in Rumänien Halt gab. Dass das Lesen für sie existentiell sei.

Vargas Llosa hingegen sah im Akt des Lesens etwas, das stimuliert, erfreut und Vergnügen verbreitet.

Auch das Schreiben wird bei Herta Müller etwas Existentielles. Vor dem Hintergrund in einem totalitären Systems zu leben, hat sie sich oft gefragt, ob sie dazu legitimiert sei, zu lesen und zu schreiben, wenn um sie herum die Menschen bedroht und vernichtet werden. Hätte sie nicht lieber ihre Kraft darauf verwenden müssen, Widerstand zu leisten. Fragen, die offenbar die Autorin auch 22 Jahre nach dem Ende der CeauÈ™escu –Diktatur bewegen und nicht loslassen.

Auch hier betrachtet Vargas Llosa die Bedeutung des Schreibens vom anderen Ende des Standpunktes: Schreiben soll das Leben zum Besseren verändern. Schreiben sei keine luxuriöse Aktivität. Es helfe zu verstehen, was z.B. Ungerechtigkeit sei.

Müller und Llosa: zwei Menschen – kein Dialog
Als Zuschauer beschlich einen so langsam das Gefühl, dass dort zwei Menschen sitzen, die nicht in einen Dialog treten können, da ihr Blick auf die Welt nicht aufeinander gerichtet ist. Da das Gespräch thematisch nicht gelenkt wurde, kam es auch immer wieder in keinem Zusammenhang stehenden Gedankensprüngen: Herta Müller sprach von der Funktion der Erinnerung und verwies auf die Autoren Celan und Semprún, Vargas Llosa sprach in seinem darauffolgenden Beitrag vom Rassismus und Vorurteilen in Lateinamerika, woraufhin Herta Müller das Stichwort Rassismus auffing und von der nationalsozialistischen Untergrundszene in Deutschland berichtete. Über Ostdeutschland kam sie dann auf das Thema Emigration.

Nichtiges
Ab diesem Punkt hätte es wieder interessant werden können. Besonders wenn man in einem Land wie Mexiko ist. Doch hier versagte der Moderator völlig und fragte, was der im Juni verstorbene Autor Jorge Semprún den beiden Nobelpreisträgern bedeutet. Jedenfalls hier fanden sie sich wieder: beide schätzen den verstorbenen Spanier sehr.

Sieht so moderne Künstlerhaltung aus? - Der Spoken Word-Performer Bas Böttcher in seiner Textbox. Der Tokio Hotel-Fanclub aus Jalisco war jedenfalls total begeistert.
Sieht so moderne Künstlerhaltung aus? - Der Spoken Word-Performer Bas Böttcher in seiner Textbox. Der Tokio Hotel-Fanclub aus Jalisco war jedenfalls total begeistert.

Mexikanischer wurde dann wenigstens die Folgeveranstaltung. Da trat nämlich Marcelo Ebrard, Regierungschef des Bundesdistrikts Mexiko-Stadt, auf, der in der letzten Woche mit seiner Präsidentschaftskandidatur gescheitert ist. Ein Lehrstück der Rhetorik im Caudillo-Stil – warum der Saal tobte und applaudierte, erschloss sich dem ausländischen Beobachter nicht ganz. Schließlich sind die letzten Schlagzeilen, die im Kopf hängengeblieben sind folgende:

Ausbau der Stadtautobahn durch eine zweite Etage (was zur Folge hat, dass morgens der Berufsverkehr nun regelmäßig zusammenbricht und nicht nur das: vor einigen Wochen brach auch ein Teilstück des Brückenaufsatzes ab und knallte auf die untere Fahrbahn/ zum Glück geschah dies nachts um 4 Uhr, so dass es keine Personenschäden gab) und seine Hochzeit mit der ehemaligen Botschafterin Honduras in Mexiko (bei der man sich vor allen Dingen zwei Fragen stellt: wie wird man mit 31 Jahren Botschafterin eines Landes und warum lässt man sich eine so grotesk große Oberweite basteln, die in keiner Relation zum Rest des Körpers steht?).

Mexiko hat viele Probleme
Man erschrak kurz, denn Ebrard sprach eine Wahrheit aus (was dem Mexikaner allgemeinhin ja nicht so oft passiert): Mexiko hat viele Probleme. Um dann „ach nee“ zu denken. Ja, und nun? Ebrard wusste die Wunderformel: wir brauchen mehr Erziehung und Bildung. Danke und tschüss.

Auch in Mexiko: Bildung schlecht
Woher dieses „mehr“ kommen soll, ließ er offen. Vor zwei Wochen wurde eine Studie veröffentlicht, wonach die Mathematikkenntnisse der mexikanischen Schüler weltweit zu den schlechtesten gehören. Auch andere Dinge lassen einen staunen: so müssen Grundschüler die Namen der wichtigsten Knochen auswendig lernen, kennen aber nicht die Himmelsrichtungen. So steht es schon seit ewigen Zeiten in den Lehrplänen. Etwas, das ich zunächst nicht glauben konnte, was ich aber selbst erfahren habe, als ich in dem Deutschkurs, den ich gab, so schöne Fragen wie „Wo liegt Mexiko-Stadt in Mexiko? Im Norden oder Süden?“ stellte und mich 20 erwachsene Augen staunend anblickten.

Bücher? Quién sabe?
Was aber auch einen staunen ließ: was hat dieser Auftritt eigentlich mit Büchern zu tun? Solange ich auch darüber nachdachte, ich fand keine Antwort. Vielleicht, weil gesagt wird, dass 60 bis 70% der publizierten Bücher in Mexiko ausschließlich Unterrichtsbücher seien. Quién sabe?

Wie dem auch sei, ich wünsche euch allen immer wieder gute Lektüren und natürlich auch, dass es euch allen gut geht!

Hasta luego,
Marion

Berichte aus einem mörderischen Tollhaus. Marion bei den Mexis, Teil 18.

Dieser Artikel ist der 18. Teil einer persönlichen Serie über das Leben in Mexico und Mexico-City. Heute lesen wir kleine und lapidare Geschichten vom Leben und Sterben. Wir wünschen viel Spaß beim Lesen.

Hola a todos!

„Ja, und dann bin ich ihr hinten reingefahren.“ Mit diesem lapidaren Satz beendete Agustin in der vergangenen Woche das Gespräch über sein letztes Treffen mit seiner Ehefrau.

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Das ist Chacoron, der beste tierische Freund von Agustin. Mit ihm teilt er sich den Parkplatz, jedenfalls so lange sein Leben nicht noch eine weitere Wende nimmt. (fotos: koerdt)

Ehestreit: Verfolgungsjagd mit Totalschaden
Dabei hatte ich gedacht, dass sich bei ihm die Wogen geglättet hätten. Denn zwei Wochen zuvor erzählte er, er hätte eine Frau kennengelernt und mit ihr die ganze Nacht durchgetanzt. Doch dann wollte sie sich Geld von ihm leihen und er stellte sie auf die Probe: er sei arbeitslos und hätte kein Geld. Daraufhin verlor sie auch jegliches Interesse an ihm. So seien die Frauen hier eben, so Agustin. Dann das Treffen mit seiner noch mit ihm verheirateten Frau in einem Restaurant.

Der Streit eskalierte, sie schlug ihm ins Gesicht und lief zum Auto. Er hinterher. Dann gab es eine Verfolgungsjagd quer durch den Stadtteil Nezahualcóyotl und schließlich fuhr er ihr hinten in den Wagen. Auf die Rückfrage, wie schnell er denn gewesen sei, antwortete er: so ca. 80 km/h. Dass das hätte auch tödlich enden können, hätte er in Kauf genommen. So hatten beide mehr als Glück: so blieben nur Nackenschmerzen und zwei völlig verschrottete Autos zurück. Bei ihm sei eben eine Sicherung durchgebrannt, stellte er dazu fest.

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Dieser grüne Hügel ist die volumenmäßig größte Pyramide der Welt. Sie war aber auch schon so überwuchert, als die Spanier nach Cholula kamen. Das hielt sie aber nicht davon ab, eins der schlimmsten Massaker der Conquista unter den Einheimischen anzurichten und auch noch eine Kirche auf die Pyramide zu bauen.

Vermisst: Hintergründe, die zu einer schrecklichen Tat geführt haben
Der Eindruck, dass hier den Leuten öfter einmal die Sicherung durchbrennt, hat sich bei mir im letzten Monat immer mehr verfestigt. Die Nachrichtenlage gab einiges dazu her: da wurde vor einem Monat in Monterrey (ca. 900 Kilometer nördlich von Mexiko-Stadt) ein Casino angezündet. Bei dem Brand starben 52 Menschen (überwiegend ältere Frauen, die gerne ihre Nachmittage bei einem Zockerspielchen verbracht haben). Darüber wurde ja auch in Deutschland berichtet. Was ich jedoch vermisst habe, waren die Hintergründe, die zu dieser schrecklichen Tat geführt haben: es ist mal wieder die widerliche Verfilzung von Politik und Drogenmafia.

Das Kasino wurde im September 2007 eröffnet – ohne staatliche Konzession. Die Betreiber des Kasinos waren die Cousins des damals amtierenden Bürgermeisters. Der jetzige Bürgermeister behauptet nun, dass am 4. Mai dieses Jahres dieses Kasino noch einmal Thema im Stadtrat war. Passiert ist aber seitdem nichts. Dabei hat dieser Bürgermeister selbst seit seinem Amtsantritt neun Kasinos in der Stadt eröffnet – alle operieren illegal.

Kasinos sind für die Geldwäsche in Drogengeschäften bekannt. Anschläge auf Kasinos gab es immer wieder in den letzten Jahren. Monterrey gilt als das „Las Vegas Mexikos“, da es dort mehr als 50 Glückspielorte gibt. Die meisten ohne staatliche Genehmigung. Oder die Geschäftsführer zahlen dem Bundesstaat Geld für eine Erlaubnis und die lassen sie dann in Ruhe.

Nun überlegen deutsche Unternehmen aus der Gegend abzuziehen. Vor eineinhalb Wochen sprach ich mit einer Frau aus Deutschland, die mit ihrem mexikanischen Mann fast fünf Jahre in Monterrey gelebt hat. Vor einem Jahr seien sie nach Mexiko-Stadt umgezogen. Ich bemerkte, dass sie dann ja wohl noch vor der Verschärfung der Konflikte dort weggekommen seien. Dies verneinte sie: durch die ständigen Schießereien in der Stadt sei sie so gestresst gewesen, dass sie eine Gesichtslähmung bekommen hätte, die erst jetzt nach einem Jahr wieder langsam zurückgegangen sei.

Mord an Journalistinnen: Motivsuche
Am 2. September titelten hier die Zeitungen, dass zwei Journalistinnen in Mexiko-Stadt ermordet worden seien. So wurden gefesselt und erschossen in dem Stadtteil Iztapalapa gefunden. Was verwundert, ist, dass die ein People-Magazin herausgab und die andere frei für diese Zeitschrift über Lifestyle-Themen schrieb. Es war niemanden bekannt, ob sie nicht auch über Narcotrafico recherchierten. Das war jedenfalls die erste Vermutung.

Doch bereits am nächsten Tag wurde klar, dass das Motiv überhaupt nichts mit ihrer journalistischen Tätigkeit zu tun hatte: die freie Autorin war Mitinhaberin einer Geldwechselstelle am Flughafen und war in den Tagen zuvor dort ausgestiegen und hatte sich auszahlen lassen. Das hieß, dass jemand wusste, dass sie nun über einen höheren Geldbetrag verfügte und das war dann wohl auch ihr Todesurteil. Leider stand die Herausgeberin mit ihr nach einer Redaktionskonferenz auf der Straße, als sie entführt werden sollte.

Gefahrenpunkt Geldwechselstellen
Es kommt auch immer wieder zu Überfallen, nachdem gerade gelandete Touristen mal eben an diesen Wechselstellen im Flughafenbereich ein paar Pesos erhalten wollen. Vor einiger Zeit wurde einem Franzosen direkt –nachdem er Geld getauscht und das Flughafengelände verlassen hatte- in den Kopf geschossen. Sollte besser in jedem Mexiko-Reiseführer stehen: besser nicht machen. Man weiß nie, wer einen beobachtet und wer welche Information weitergibt.

Drogenmafia: Kopf abgeschnitten und an den Füßen aufgeknüpft
Bereits vor diesen Vorfällen hatte ich ja das Glück mit meinem Taxifahrer gestritten zu haben, als wir an einer Brücke im Westen der Stadt vorbeigefahren sind, an der diesem Morgen zwei Männer aufgehängt aufgefunden waren. Ihnen war der Kopf abgeschnitten worden und man hatte sie an den Füßen aufgeknüpft. Wie einige Tage später berichtet wurde, hatte man ihnen unterstellt eine Woche vorher einen „Capo“ (Drogenboss) hier in der Stadt bei der Polizei verpfiffen zu haben, der daraufhin verhaftet worden ist.

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Einen so schönen blauen Himmel gibt es fast nie in Mexiko-Stadt. In Cholula schon, weswegen sich auch die gelbe Kirche (es ist nicht mehr die Originalkirche aus dem 16. Jahrhundert) so schön vor dem Himmel abhebt. Wandert man um die Kirche hat man einen phantastischen Blick auf die höchsten Berge Mexikos: Popocatépetl (5.462 Meter), Iztaccíhuatl (5.286 Meter) und auf der anderen Seite La Malinche (4.461 Meter). Nur der Orizaba ist mit rund 5700 Metern höher. Der liegt aber weiter im Osten. Was man so auch nicht sehen kann, aber in vielen Reiseführern: dass der Hügel mit der Kirche fast direkt vor dem Popocatépetl liegt. Sieht zwar phantastisch aus, ist aber nur Photoshop-Phantasie.

Bodyguard dreht im Schulbus durch
Im Westen der Stadt leben ja nicht nur die Profiteure vom Narcotrafico, sondern auch die anderen Reichen dieser Stadt. Deren Kinder haben ein neues Statussymbol: so tauchen 18- oder 19jährige zur Zeit sehr gerne mit einem eigenen Bodyguard in ihren Clubs auf. Einer dieser Bodyguards fühlte sich nun von der Fahrweise eines Schulbusses so gestört, dass er ihn schließlich überholte, ausbremste und neunmal mit einer Pistole auf den Fahrer schoss. Auch hier war Glück im Spiel: der Bus war zum Glück zu diesem Zeitpunkt leer und der Fahrer hat diesen Anschlag auch überlebt.

Schüsse an der Ampel
Vor einer Woche fuhren Christopher und ich von einem Tagesausflug aus Cholula kommend vom Osten in die Stadt. Als wir vor einer Ampel abbremsen mussten, hörten wir Schüsse und ich sah noch im Augenwinkel, wie an der rechten Straßenseite ein Mann mit einem Gewehr mit Doppellauf stand, der sich zu einem anderen Mann, der hinter ihm stand, umdrehte. Ich konnte nicht sehen, ob jemand am Boden lag und überhaupt hatten wir das Gefühl, doch gerne schnell von dieser Stelle wegkommen zu wollen. Ohne zu wissen, was denn nun eigentlich passiert ist.

Ja, manchmal erträgt man eben die Nachrichtenlage nur in homöopathischen Dosen und das Leben im Weglaufen. Das ist natürlich kein Dauerzustand und es werden bestimmt auch wieder andere Meldungen kommen.

Muchos saludos desde México,
Marion

P.S.: Gestern teilte uns Agustin mit, er hätte nun doch wieder eine Nacht mit seiner Ehefrau verbracht. Und nun sei er vollends „confudido“.

Der Anschlag von Monterrey: Mexiko geschockt? Nein! Wegschauen ist die Haltung der meisten Mexikaner.

Mexico City. Was kann ich zu Monterrey sagen? Dass ganz Mexiko geschockt ist, kann ich nicht erkennen, wenn ich durch die Straßen gehe. Ohne zynisch zu sein: dieser Anschlag hat ungeheuer brutale Ausmaße. Aber die Haltung der meisten Mexikaner ist doch eher die des Wegschauens.

Jeder weiß, wenn er ein Lokal eröffnet, dass die „Familien“ nicht lange auf sich warten lassen und dann kommt meist auch noch die örtliche Polizei vorbei, um noch ein bisserl Schutzgeld zu erpressen. Man kann jetzt lange darüber spekulieren, wo die Wurzel des Übels liegt: die schlechte Bezahlung der Polizei, die Korruption innerhalb des Politikbetriebes, die Drogenkonsumenten in der USA, die versorgt werden wollen, die mangelnde Ausbildung, die Werte, die innerhalb der Familien vermittelt werden etc.

Worauf es in all diesen Punkten hinausläuft, ist das Geld. Entweder ist zu wenig da (öffentliche Schulen, öffentlicher Dienst), auf der anderen Seite wollen viele einfach viel Geld (Politiker, Drogenhändler, Auftragsmörder) haben.

Du wirst hier nicht erleben, dass die Menschen hier gegen die Drogenkartelle auf die Straße gehen. Die Haltung ist die des Wegschauens und die Meinung, das sind nur die anderen.

Monterrey gilt hier als „no-go-area“. Eine Bekannte ist vor einem Monat nach Monterrey umgezogen, da ihr mexikanischer Mann dort eine Stelle erhalten hat. Beide haben sich schon vorher einen Verhaltenskatalog zusammen gestellt; sie sagte auch nur, dass sie oft wie möglich nach Mexiko-Stadt kommen werden, denn Lebensqualität sei mittlerweile dort, in Monterrey,  nicht mehr vorhanden.

Update 27. 08.2011:

Mittlerweile habe ich auch die heutige Ausgabe von „La Jornada“ gelesen und muss leider –trotz der Tragik des Ereignisses- feststellen, dass dieser Überfall keine absolute Überraschung gewesen sein kann. Der Autor listet die Ereignisse dieses Jahres in diesem Kasino und seiner Umgebung auf: im Januar gab es im Kasino einen bewaffneten Überfall, bei dem ein Mensch starb. Im April einen weiteren ohne Verletzte, am 25. Mai gab es eine Raubserie in diesem Stadtgebiet, dabei wurde auch dieses Kasino ausgeraubt. Und schließlich wurden am 8. Juli in einer Bar in direkter Nachbarschaft des Kasinos 21 Menschen erschossen.

Das Kasino wurde im September 2007 eröffnet – ohne die notwendige Konzession (ich übersetze so einfach mal die so wörtlich „Erlaubnis der Regierung“). Die Betreiber des Kasinos waren die Cousins des damals amitierenden Bürgermeisters. Der jetzige Bürgermeister behauptete nun gestern, dass es am 04. Mai noch einmal Thema im Stadtrat war, dass dieses Kasino ohne „permiso“ operieren würde. Dabei hat er seit seinem Amtsantritt neun Kasinos in der Stadt eröffnet – alle operieren illegal.

Kasinos sind wohl für die Geldwäsche in Drogengeschäften bekannt. Anschläge auf Kasinos gab es immer wieder in den letzten Jahren. Monterrey gilt als das „Las Vegas Mexikos“, da es dort mehr als 50 Glückspielorte gibt. Die meisten ohne staatliche Genehmigung. Oder die Geschäftsführer zahlen dem Bundesstaat Geld für eine Erlaubnis und die lassen sie dann in Ruhe. Es gibt aber wohl auch auf Regierungsebene sowohl in den Gemeinden hingegen Unterstützung im Kampf diese Geschäfte zu schließen.

Auch im Radio war nicht mehr zu hören; obwohl MVS (der einzig vernünftige Informationssender) heute sehr viel darüber berichtet hat.

Von Ciudad Mexico in die USA und zurück. Auf der Suche nach der US-amerikanischen Mentalität.

Na ja, wenn das Wetter nicht schön ist, gibt es auch keine schönen Bildern. Aber mal was Bekanntes: die Freiheitsstatue mit der Skyline von Manatthan. Der Bildhauer Frederic Auguste Bartholdi nahm dafür die Gesichtszüge seiner Mutter. Die Arme allerdings sind die seiner damaligen Geliebten nachempfunden. Wenn er sie damals bereits geehelicht hätte (was er später tat), würden wir vielleicht in ein anderes Antlitz blicken. (fotos: koerdt)
Na ja, wenn das Wetter nicht schön ist, gibt es auch keine schönen Bildern. Aber mal was Bekanntes: die Freiheitsstatue mit der Skyline von Manatthan. Der Bildhauer Frederic Auguste Bartholdi nahm dafür die Gesichtszüge seiner Mutter. Die Arme allerdings sind die seiner damaligen Geliebten nachempfunden. Wenn er sie damals bereits geehelicht hätte (was er später tat), würden wir vielleicht in ein anderes Antlitz blicken. (fotos: koerdt)

Dieser Artikel ist der 17. Teil einer persönlichen Serie über das Leben in Mexico und Mexico-City. Heute verlässt die Autorin ihr Stammland und reist n die USA. Wir wünschen viel Spaß beim Lesen.

Hola a todos!

Wo befindet man sich, wenn man sich Gedanken darüber macht, ob eine gesetzliche Krankenversicherung der erste Schritt zum Sozialismus ist und aus diesem Grunde verdammenswert sei? Nicht auf einer Zeitreise, sondern in den USA im Jahre 2011.

So muss man schon aussehen, wenn man im Central Park rollerbladen will.
So muss man schon aussehen, wenn man im Central Park rollerbladen will.

Dieser Gedanke sowie einige weitere Eindrücke haben mir wieder einmal gezeigt, dass die US-amerikanische Mentalität teils befremdlich auf mich wirkt. Ich weiß, ich kann den Begriff Mentalität nicht absolut setzen und somit auf alle US-Bürger beziehen, aber im öffentlichen Raum spiegeln sich Dinge wider, die mich irritieren. Zunächst einmal die öffentliche Erinnerung: in Washington gibt es ein Museum zur Geschichte der Indianer.

Als ich in den ersten Raum kam, dachte ich, ich sei in Mexiko, quasi bei mir um die Ecke. Wunderbare Exponate zur Geschichte der Azteken und Maya, doch was hat das mit den Ureinwohnern des Gebietes der heutigen USA zu tun? Auch in den Straßenbildern der Städte sieht man sie nicht. In New York erklärte mir jemand, dass es sie nach wie vor auch an der Ostküste gebe. Und nicht -wie manche denken würden- komplett ausgerottet worden seien. Allerdings leben sie auch hier in Reservaten (und ich hoffte, dass die sich nicht wie in Arizona und Nevada in der Nähe von Atomtestgebieten befinden). Dort ist das Glücksspiel erlaubt und damit verdienen sie heutzutage ihr Geld. Aber im öffentlichen Raum tauchen sie nicht auf – ihre Lobby scheint im Gegensatz zu der der Schwarzen zu schwach oder gar nicht vorhanden zu sein.

Nicht das weiße Haus, sondern der Kongress in Washington. Aber auch nicht unwichtig beim Treffen von Entscheidungen.
Nicht das Weiße Haus, sondern der Kongress in Washington. Aber auch nicht unwichtig beim Treffen von Entscheidungen.

Geschichtsverdrängung gibt es aber nicht nur auf diesem Gebiet: während ein Holocaustmuseum in Washington die Gräuel der Nazis zeigt, gibt es in der Nähe das Memorial zum Vietnamkrieg. Granitplatten mit unzähligen Namen von tapferen US-Soldaten. Hinter jedem Name steckt eine Geschichte? Doch welche – die bleibt verborgen. Denn es gibt kein Museum, das diese Geschichten erzählt. Eine kritische Auseinandersetzung sucht man auch vergebens im 09/11-Memorialmuseum in New York. Bedrückend sind die Exponate, Tondokumente und Bilder – doch welche politischen Entscheidungen daraus folgten, die Darstellung bleibt aus. Vielleicht ist auch etwas viel verlangt, den Leuten die jüngste Vergangenheit sowie die Gegenwart gegenüber zu stellen.

Eigentlich habe ich mich gefragt, ob es überhaupt angebracht sei, diesmal von „…bei den Mexis“ zu sprechen, da ich doch nun drei Wochen in den USA unterwegs gewesen bin (abgesehen davon, glaube ich, dass fast jeder bereits einmal in den Staaten war und von dort mit seinen eigenen Eindrücken zurückgekehrt ist). Aber vielleicht passt es doch, da ich in New Yorker Cafés fast nur mexikanische Angestellte gesehen habe und stellenweise besser mit Spanisch als mit Englisch durchkam. Doch nicht nur Mexikaner sind auf dem Gebiet der Dienstleistung sichtbar.

Kein Scherz, so sieht es in der Bronx aus - jedenfalls im Botanischem Garten. Hier kann man sehen, wie New York mal ursprünglich ausgesehen hat: eine große bewaldete Fläche.
Kein Scherz, so sieht es in der Bronx aus - jedenfalls im Botanischem Garten. Hier kann man sehen, wie New York mal ursprünglich ausgesehen hat: eine große bewaldete Fläche.

Neben Schwarzen sind es auch andere Menschen aus Lateinamerika. Aber in einem kleineren Ort haben wir auch Ausnahmen getroffen. Wir haben einige Tage in Winthrop in der Nähe von Boston übernachtet und morgens immer dasselbe Café aufgesucht. Dort wurden wir am dritten Tag von einer Frau mit „Guten Morgen“ begrüßt. Sie kam aus Albanien, ihr Bruder lebe in Deutschland, aber er bekomme dort keinen Pass. So wisse er nicht, wann er wieder nach Albanien zurück müsse. So war auch einmal kurz in Deutschland. Aber wie gesagt, die Deutschen geben keine Pässe. Hier in den USA sei es viel einfacher. Aber sonst? Die USA seien gut für „money“. Mehr nicht. Sie zuckte die Schultern…

Nach wie vor scheinen die Vereinigten Staaten der potenzielle Sehnsuchtsort zu sein: vom Tellerwäscher zum Millionär – die Illusion scheint immer noch zu wirken. Was ich vor allen Dingen in New York sah, war ein gigantischer Niedriglohnsektor mit Migranten. Die sich wahrscheinlich nicht das Frühstück leisten können in dem Laden, in dem sie arbeiten.

So krass habe ich das in den anderen Orten nicht wahrgenommen wie in New York – aber der Eindruck blieb: einmal Tellerwäscher, immer Tellerwäscher. Und einmal Oberschicht, immer Oberschicht: diesen Eindruck bekam ich beim Schlendern über den Harvard Campus. Hier rekrutiert sich das Geld von einer Generation zur nächsten. Hier werden die Posten der Väter an die Söhne weitergereicht und im J.F.K.-Memorialmuseum kann man sehen, wie Familiendynastien funktionieren.

An dieser Brücke bekamen die Engländer das erste Mal einen auf den Detz. Die Folgen kennen wir: die damaligen dreizehn Staaten wurden unabhängig und schlichen sich auf den Weg zur Weltmacht.
An dieser Brücke bekamen die Engländer das erste Mal einen auf den Detz. Die Folgen kennen wir: die damaligen dreizehn Staaten wurden unabhängig und schlichen sich auf den Weg zur Weltmacht.

Etwa 40 Kilometer westlich von Boston liegt Concord – das, wie ich aber erst hinterher erfuhr als US-amerikanisches Weimar gilt. Eben als Ort der US-amerikanischen Literaturklassik. Hier haben sich nicht nur Ralph Waldo Emerson oder Henry David Thoreau niedergelassen, sondern hier fanden auch am 19. April 1775 die ersten Kämpfe des Unabhängigkeitskrieges zwischen den Kolonialisten und den Engländern statt. Auf einem Trail kann man die Schlacht dieses Tages abwandern, die mit einer mir kaum vorstellbaren Brutalität abgelaufen sein muss. Heute spaziert man durch eine Landschaft, die mich stark an Eifelwälder erinnerte.

Hier sieht man eins der ersten von den Kolonialisten bewirtschafteten Felder in der Nähe von Concord. Ich gebe ja zu, in der Mittelgebirgslandschaft Deutschlands sieht es nicht anders aus.
Hier sieht man eins der ersten von den Kolonialisten bewirtschafteten Felder in der Nähe von Concord. Ich gebe ja zu, in der Mittelgebirgslandschaft Deutschlands sieht es nicht anders aus.

Kurzum: sehr schön – auch sieht man die ersten von den Kolonialisten bewirtschafteten Felder. Noch war es im 17. Jahrhundert nicht zur Ausrottung der Indianer gekommen – im Gegenteil: die Kolonialisten waren auf ihre Hilfe angewiesen und man lebte fast ein Jahrhundert miteinander. Dass wir dort überhaupt wandern konnten, haben wir einer älteren Dame zu verdanken: Patty. Denn wir waren davon ausgegangen, dass es sich um einen Rundwanderweg handeln würde. Bei der Touristeninformation wurden wir eines besseren belehrt – und auch, dass es keine Busverbindung zwischen Concord und Lexington (dem Zielort) gibt. Und einfach mal so 30 Kilometer wandern, dazu waren wir zu spät. Patty stand dort und hörte von unserem Dilemma. Sofort bot sie uns an, mit ihrem Wagen zum Zielpunkt zu fahren. Dann könnten wir einfach zurückwandern. Doch damit nicht genug: sie zeigte uns noch eine andere historische Stelle (die Northern Bridge, dort sind die ersten englischen Soldaten gestorben) und versorgte uns noch mit Wasserflaschen.

Harpers Ferry ist eine kleine Ortschaft in der Nähe von Washington. Auch hier trug sich Geschichtliches zu: John Brown, Nachfahr englischer Einwanderer, protestierte bereits als junger Mann für die Abschaffung der Sklavenhaltung. Am 17. Oktober 1759 überfiel er zusammen mit 21 Männern das Waffenarsenal der US-Armee in Harpers Ferry. Der geplante Aufstand scheiterte, zahlreiche Anhänger Browns starben. Auch für John Brown nahm die Aktion kein gutes Ende: er wurde gefangen genommen und zwei Monate später gehängt. Aber dieses Ereignis wird als Auftakt zum Bürgerkrieg zwischen den Nord- und Südstaaten genommen, der schließlich auch die Abschaffung der Sklavenhaltung zur Folge hatte. Heute werden in Aufführungen die Kriegsereignisse nachgestellt.
Harpers Ferry ist eine kleine Ortschaft in der Nähe von Washington. Auch hier trug sich Geschichtliches zu: John Brown, Nachfahr englischer Einwanderer, protestierte bereits als junger Mann für die Abschaffung der Sklavenhaltung. Am 17. Oktober 1759 überfiel er zusammen mit 21 Männern das Waffenarsenal der US-Armee in Harpers Ferry. Der geplante Aufstand scheiterte, zahlreiche Anhänger Browns starben. Auch für John Brown nahm die Aktion kein gutes Ende: er wurde gefangen genommen und zwei Monate später gehängt. Aber dieses Ereignis wird als Auftakt zum Bürgerkrieg zwischen den Nord- und Südstaaten genommen, der schließlich auch die Abschaffung der Sklavenhaltung zur Folge hatte. Heute werden in Aufführungen die Kriegsereignisse nachgestellt.

Der Eindruck blieb: sie sind höflich, hilfsbereit und freundlich – die US-Amerikaner. Vielleicht auch noch ein Mentalitätsunterschied.

Warum nun doch „… bei den Mexis“ im Titel schreibe, liegt daran, dass wir nach unserer Rückkehr sofort im mexikanischem Alltag ankamen: wir standen im Dunkeln, denn der Elektriker unserer neuen Nachbarin hatte einfach mal unser Hauptleitungskabel im Flur durchgeschnitten. Die nächste Unverfrorenheit kam dann von der Señora selbst: dieses Kabel hätte überhaupt nicht zu unserer Wohnung gehört und so hätte sie auch das Recht gehabt es zu kappen. Erst als ein anderer Elektriker, den wir dazu gerufen hatten, ihr erklärte, dass das ein Trugschluss sei, wurde sie wieder schmierfreundlich. Der nächste Schrecken kam dann auch noch: sie zieht nicht allein ein, sondern bringt auch noch kleine Kläffer mit. Für die baut sie –ohne Baugenehmigung- einen Balkon. Dafür hat sie zur Straßenseite erst einmal die Außenfassade eingerissen.

Apropos Kläffer: unser anderer Nachbar teilte uns vorgestern mit, dass Rodrigo Anfang September ausziehen werde. Ich sage nur: abwarten. Das nächtliche Singen hat er übrigens aufgegeben, dafür hat er eine andere Beschäftigung während dieser Tageszeit gefunden. Ich dachte zunächst, er würde nun regelmäßig um ein Uhr nachts Möbel in seinem Zimmer verrücken. Dann klärte uns sein Vermieter auf, dass er sich eine manuelle Waschmaschine angeschafft hat, die er um die Uhrzeit bedient.

An meinem zweiten Arbeitstag war ich morgens mit einem Taxi auf dem Weg zur Schule. Aufgrund von Bauarbeiten sind wir nicht die mir gewohnte Strecke gefahren, sondern eine Parallelstrecke. Immer wenn ich sagte, hallo, sollen wir nicht rechts fahren, bekam ich die Antwort vom Fahrer: nee, ich kenne da eine Superstrecke. Bis sich herausstellte, dass er das Colegio mit einer Privatuni ganz im Westen der Stadt verwechselt hatte.

Dann wurde er doch unruhig. Doch irgendwie wurschtelten wir uns zurück, denn ich kannte mich ein wenig dort aus. Wir befanden uns nämlich in der Nähe des Krankenhauses, in dem ich im Frühjahr operiert worden bin. Auf der Gegenseite staute sich der Verkehr kilometerlang und die Autoschlange riss auch bis zur Schule nicht ab, die ich mit einer halbstündigen Verspätung erreichte.

Die Verwaltungssekretärin wurde etwas blass, als ich mitteilte, wo ich denn gerade überall herumgefahren sei. Ob ich sie denn gesehen hätte? Ich: wen denn? Na, sie hätten doch an der neuen Brücke unterhalb des Krankenhauses heute Morgen zwei Männer dort aufgehängt gefunden. Zum Glück habe ich das nicht gesehen, ich war in dem Moment viel zu sehr mit der Suche der richtigen Richtung beschäftigt. Mir wurde doch etwas mulmig: ist das doch eine neue Qualität der Auseinandersetzung der Drogenkartelle hier. Bislang wurde der öffentliche Raum verschont – das gab es bislang nur im Norden (und in der Zeitschrift „Processo“ – die man unter der Fragestellung „Was halte ich eigentlich an Bildern aus?“ durchblättern kann, wenn dort wieder die Gehängten und Geköpften gezeigt werden). Und es zeigt auch, dass sich das in einem der reichsten Stadtviertel abspielt. Ich wurde hinterher auch darüber aufgeklärt, dass die meisten Drogenbosse dort auch leben würden.

Da bleibe ich dort lieber mittelschichtig in Polanco – und bilde mir weiterhin ein, dass hier so etwas nicht passieren kann.

Ich hoffe, euch geht es allen gut und ich höre mal wieder etwas von euch. Bis dahin!

Muchos saludos,
Marion

Mexico: Normalerweise betrügt der Mann die Frau, nicht umgekehrt.

Das Wahrzeichen von Nezahualcoyotl – der Kojote Hambriento. Sein Jaulen hört man nicht in den Straßen dieses Viertels, dafür wohl aber öfter mal Pistolenschüsse. Die Skulptur hat der mexikanische Künstler Enrique Carbajal („Sebastián“) geschaffen, dessen quietschgelbe Pferdeskulptur („el caballito“) das Ende des Boulevards Paseo de la Reforma in der Innenstadt schmückt, die fast jeder Mexiko-Stadt-Besucher zu Gesicht bekommt.
Das Wahrzeichen von Nezahualcoyotl – der Kojote Hambriento. Sein Jaulen hört man nicht in den Straßen dieses Viertels, dafür wohl aber öfter mal Pistolenschüsse. Die Skulptur hat der mexikanische Künstler Enrique Carbajal („Sebastián“) geschaffen, dessen quietschgelbe Pferdeskulptur („el caballito“) das Ende des Boulevards Paseo de la Reforma in der Innenstadt schmückt, die fast jeder Mexiko-Stadt-Besucher zu Gesicht bekommt. (fotos: koerdt)

Dieser Artikel ist der 16. Teil einer persönlichen aber doch politischen Serie über das Leben in Mexico und Mexico-City. Heute bewegen wir uns wieder einmal im kriminellen Milieu. Wegen der zur Zeit fragilen Internet-Verbindung zwischen Mexico-City und Siedlinghausen, konnten noch nicht alle Fotos eingefügt werden. Dies wird nachgeholt, sobald sich die Bits und Bytes wieder wie gewohnt über den Atlantik  kugeln.

Hola a todos!

„Die Welt ist voller Zeichen,
doch für manche sind wir blind.“
Die Sterne
(„Big in Berlin“)

Drogenreviere und Kreidezeichen an Straßenkreuzungen
Was denkt mein Hirn, wenn es wahrnimmt, dass sich ein circa zwanzigjähriger Chico mit Baseballkappe an einer Straßenecke bückt? Mhmm, was wird er denn verloren haben? – Nichts hat er verloren. Im Gegenteil, er wird heute noch etwas gewinnen.

Zwei Chicos am Straßenrand – eben noch hat der Rechte an der Ecke mit Kreide sein Angebot auf das Pflaster gekritzelt. Fotografiert aus dem sicheren Auto.
Zwei Chicos am Straßenrand – eben noch hat der Rechte an der Ecke mit Kreide sein Angebot auf das Pflaster gekritzelt. Fotografiert aus dem sicheren Auto.

Jedenfalls wenn er sich in Ciudad Nezahualcoyotl befindet und sich wie viele junge Männer hier dem Drogengeschäft verschrieben hat. Nachmittags wird mit Kreidezeichen an Straßenkreuzungen das Angebot angepriesen, so wie Kneipiers ihre Tagesangebote auf Schiefertafeln täglich neu darbieten. Die Reviere werden mit „Tags“ auf den Bürgersteigen markiert und am Abend wird verkauft. Manchmal werden anhand dieser Zeichen auch vereinbart, wer wo und wann überfallen wird.

In Ciudad Nezahualcoyotl scheinen sämtliche Autowerkstätten der Stadt versammelt
Ciudad Nezahualcoyotl ist ein östlicher Stadtteil von Mexiko-Stadt. Fast direkt hinter dem Flughafen wuchert ein Viertel von ca. 3 Millionen Einwohnern. Vor 30 Jahren war hier noch Feld, dann entstanden die ersten Hütten, wie meist in Mexiko-Stadt ohne jede Genehmigung. Irgendwann kamen die Wasser- und Stromleitungen hinzu und irgendwann sah Nezahualcoyotl, benannt nach jenem Dichterkönig des historischen Dreibundes im 14. Jh., prosaisch legal aus wie viele Stadtteile jenseits des historischen Stadtzentrums und den Vierteln der Reichen: nicht arm, nicht reich, irgendetwas dazwischen, ein proletarisches Viertel mit einer erwähnenswert gut funktionierenden Infrastruktur. – Auf das fremde Auge wirkt es erst einmal so, dass sich hier sämtliche Autowerkstätten der Stadt versammeln. Die sich tummelnden Klitschen durchziehen Straßenzüge mit Einzelhandelsgeschäften, wovon sich jedes auf ein anderes Autoteil spezialisiert hat. Hier bekommt man den Auspuff, dort die Bremse und im dritten Laden die Fußmatte. Dazwischen wird geschraubt, geschweißt und alles das gewerkelt, was den Wagen wieder flott macht.

Aus Rest-Chevys werden Autos, die fliegen können
Aus diesem Grund waren wir auch hier. Der Patron unseres Parkplatzes in Polanco, Agustin, gab uns den Tipp, dass er jemanden kenne, der jedes Auto wieder fahrbereit kriegen würde.

Hier wird unser Wagen (nicht im Bild) wieder flott gemacht. Man versicherte uns, dass sei kein Problem. Als ich aber die anderen Autos dort sah, habe ich mich ernsthaft gefragt, welche Probleme wohl die Insassen dieser Fahrzeuge jetzt haben.
Hier wird unser Wagen (nicht im Bild) wieder flott gemacht. Man versicherte uns, dass sei kein Problem. Als ich aber die anderen Autos dort sah, habe ich mich ernsthaft gefragt, welche Probleme wohl die Insassen dieser Fahrzeuge jetzt haben.

Er hätte seinen Chevy vom Händler geholt, sofort einen schweren Unfall gehabt, bei dem die hintere Hälfte des Autos abgefahren worden sei – und sein Mirakelschweißer habe aus einem andern und seinem Rest-Chevy ein neues Auto zusammengeschweißt, das eigentlich mehr als fahren, nun fliegen könne. So fuhren wir mit ihm am Samstag vor zwei Wochen dorthin.

Normalerweise betrügt der Mann die Frau, nicht umgekehrt
Agustin meinte, er wisse nicht, wann das letzte Mal ein Ausländer dort gewesen sei. Er sei dort aufgewachsen. Noch hat er sein Haus dort, seine Familie. Aber wie wir auf der Fahrt erfuhren, betrügt ihn seine Frau seit einem halben Jahr mit einem ehemaligen Schulfreund aus der Mittelstufe – und da hat er sie in einem Streit fast erwürgt. Der Machismo, meinte Agustin achselzuckend. Normalerweise betrügt der Mann die Frau, nicht umgekehrt. Daraufhin hat ihn seine Familie rausgeschmissen und er wohnt zur Zeit auf dem Parkplatz, den er sonst bewirtschaften lässt, hier bei uns in Polanco, mit seinem Hund Chacaron, einer Mischung aus Boxer und Bulldogge. Die Bilanz der gescheiterten Ehe: 23 Jahre mit wundervollen, aber auch tragischen Momenten, drei Kinder zwischen 23 und 15 Jahre. – Ich saß auf der Rückbank und sah dort Ratgeber mit Titeln wie „Scheidung – und dann?“ oder „Wie überlebe ich eine Scheidung?“. Fragen, die sein Leben wohl momentan bestimmen. Die Scheidungsrate in Mexiko ist nach wie vor sehr niedrig, während in Deutschland ja fast jede dritte Ehe vor dem Scheidungsrichter endet. Er fragte uns, was man eigentlich so am Wochenende mache, denn bislang hatte er ja seine Familie. Warum er tatsächlich keine Idee hatte, wurde mir klar, als ich erfuhr, wie alt er ist: 40 Jahre. Dementsprechend hat er sich seit seinem 18. Lebensjahr um seine Familie gekümmert und die typische Ausgehsozialisation nicht miterlebt.

„Raubt die, die Arbeit haben, aus.“
Agustin hat aber miterlebt, wie dieser Stadtteil entstand und auch, wie vor ungefähr 10 Jahren die Drogengeschäfte das Straßenbild veränderte. Bis dahin konnten seine Kinder unbedenklich draußen spielen. Heute würde auch er sich nur noch im Auto draußen bewegen. Schießereien? Ja, die würde es auch geben. An Waffen zu kommen sei nicht schwer. Eine Stadt von ca. 3 Millionen Einwohnern, von denen ungefähr 100 000 eine Arbeit hätten. „Und der Rest?“ – „Raubt die, die Arbeit haben, aus.“ – Auch eine Sozialstruktur.

Die schöne Seite von Nezahualcoyotl
Zwei Samstage später sind wir wieder mit Agustin unterwegs Richtung Osten. Der Wagen ist immer noch nicht fertig, nimmt aber langsam wieder die alte, unzerknautschte Form an. Die Achse ist gerichtet, die Seite lackiert. Da wir Zeit haben, bis der Wagen in eine andere Werkstatt kommen soll, zeigt uns Agustin die schöne Seite von Nezahualcoyotl, einen kleinen Tierpark. Er sei schon lange nicht mehr hier gewesen, die Kinder waren noch klein. Jetzt wollen seine zwei Töchter keinen Kontakt mehr mit ihm haben.

La hermana negra (die schwarze Schwester) – ein Schauglaskasten in Nezahualcoyotl. Der Volksglaube sagt, dass das Leben eben auch eine dunkle Seite hat. Wie finster die sein kann, ist wohl auch immer eine Frage des Standortes.
La hermana negra (die schwarze Schwester) – ein Schauglaskasten in Nezahualcoyotl. Der Volksglaube sagt, dass das Leben eben auch eine dunkle Seite hat. Wie finster die sein kann, ist wohl auch immer eine Frage des Standortes.

Die Ehe-Frau versucht, ihn im Schlaf mit einem Messer zu erstechen
Warum denn nicht? Seine Frau habe schließlich ihn betrogen. Ja, aber er hat in einem Wutunfall auch das Möbiliar des Hauses zerschlagen und seitdem hätten sie Angst vor ihm. Bei anschließendem Mittagessen erzählt er von den Höhen und Tiefen seiner Ehe. Vor ein paar Monaten hätte seine Frau versucht, ihn im Schlaf mit einem Messer zu erstechen. Nachts um drei. Er sei aber wach geworden.

Drei Menschen umgebracht
Christopher versucht galant das Thema zu wechseln: was er denn ursprünglich beruflich gemacht hätte. Er sei ja schließlich nicht immer Parkplatzbewirtschafter gewesen. Nein, er habe ursprünglich Verwaltungswissenschaften studiert, hätte dann aber das Angebot bekommen, als Bodyguard für einen Geschäftsmann aus Toluca zu arbeiten. Das sei vor zehn Jahren gewesen. Ob das gefährlich gewesen sei? Agustin zuckt die Schultern. Wie Christopher dann beim Nachtisch auf die Frage kam, ob er jemanden umgebracht hätte, weiß ich nicht (ich habe mal einen Bodyguard von Michael Schumacher kennen gelernt und der hatte mir erzählt, dass man selbst in heiklen Situationen versucht, den Angreifer mit Kampfsport zu überwältigen). Ich jedenfalls erfuhr dann, während ich meinen Käsekuchen mit Waldbeerenbelag verspeiste und meine zweite Tasse Kaffee trank, dass Agustin während seiner Bodyguard-Zeit drei Menschen umgebracht hat. „Immer in Notwehr“, so Agustin.

Ein glatter Kopfschuss
Einmal wurde auf den Wagen mit Sicherheitsglas, den er fuhr, in der Absicht geschossen, ihn in den Kopf zu schießen. Da hat er zurückgeschossen und den Angreifer mit einem glatten Kopfschuss getötet. Zweimal hätte er mit einem gezielten Schlag auf die Kehle und einem Luftröhrenbruch die Leute getötet. Sein Chef sollte entführt werden. Nein, juristische Konsequenzen hätten diese Vorfälle nicht gehabt.

Agustin kommt wieder – um Fleischklößchen zu kochen.
Dem Geschäftsmann aus Toluca gehöre auch der Parkplatz in Polanco, den er nun bewirtschaftet. Er würde jetzt dasselbe verdienen, hätte aber mehr Ruhe. Welche Geschäfte dieser Unternehmer denn genau mache, erfuhren wir nicht. Dafür kommt aber Agustin in zwei Wochen bei uns vorbei, um „albondigas“ (Fleischklößchen) und „papas picantes“ (scharf gewürzte Kartoffeln) zuzubereiten. Das könne er nämlich sehr gut, denn das hätte er auch häufig für seine Familie so gemacht.

Ob wir dann von weiteren Leichen erfahren, erfahrt ihr im nächsten Teil.

Muchos saludos y hasta pronto,
Marion

Mexico: „Was kann ich denn dafür, wenn ich Drogen zu den verhassten Gringos schmuggle? Was kann ich denn dafür, dass mir der Typ direkt vor die Knarre lief?“

Hier verbringt Rodrigo gerne seine Nächte - leider singenderweise. Tagsüber wäscht er auch schon mal seine Wäsche den Wasserbehältern vorne im Bild. Die ja eigentlich für die Wasserversorgung im Haus bestimmt sind. (fotos: koerdt)
Hier verbringt Rodrigo gerne seine Nächte - leider singenderweise. Tagsüber wäscht er auch schon mal seine Wäsche den Wasserbehältern vorne im Bild. Die ja eigentlich für die Wasserversorgung im Haus bestimmt sind. (fotos: koerdt)

Dieser Artikel ist der 15. Teil einer persönlichen Serie über das Leben in Mexico und Mexico-City. Heute fährt die Autorin Taxi und macht sich viele Gedanken über das „Prinzip Verantwortung“. Wir wünschen viel Spaß beim Lesen.

¡Hola a todos!

„Unsere mexikanischen Ahnen glaubten weder, der Tod gehöre ihnen, noch glaubten sie, ihr Leben sei wirklich – im christlichen Sinne des Wortes – ihr Leben. Alles verband sich, um gleich bei der Geburt Leben und Tod eines jeden Menschen festzulegen: soziale Zugehörigkeit, Ort, Jahr, Tag und Stunde der Geburt. Der Azteke war ebenso wenig verantwortlich für seine Taten wie für seinen Tod.“

Octavio Paz
„Über die Fiesta und den Tod“
in: „Das Labyrinth der Einsamkeit“ (1950)

Betrachtet man heute die beherrschenden Ereignisse im Norden des Landes, mag der Essay des mexikanischen Autoren und Literaturnobelpreisträgers von 1990 einen Zugang bieten, um das schier Unverständliche aus dem eurozentrisch geschulten Blick verständlicher zu machen. Man gewinnt den Eindruck, dass sich seit Hernán Cortés‘ blutiger Conquista und der Eroberung Tenochtitlans (dem heutigen Mexiko-Stadt) im Jahre 1521 das Verhältnis zur Verantwortung wenig geändert hat. Was kann ich denn dafür, wenn ich Drogen zu den verhassten Gringos schmuggle? Was kann ich denn dafür, dass mir der Typ direkt vor die Knarre lief? Was kann ich denn dafür, dass mir der Boss sagt, ich soll ihm auch noch den Schädel absäbeln? Ja, was kann ich denn dafür?

Sieht eigentlich ganz friedlich aus: der hiesige Taxistand vor dem Supermarkt. Aber manchmal kommen die dortigen Taxifahrer auf komische Ideen, um an ihr Geld zu kommen.
Sieht eigentlich ganz friedlich aus: der hiesige Taxistand vor dem Supermarkt. Aber manchmal kommen die dortigen Taxifahrer auf komische Ideen, um an ihr Geld zu kommen.

Als ich am vergangenen Freitag ein Taxi bestieg, um zum jährlichen Schulball zu gelangen, gab mir der Fahrer nach der Anfahrt zu verstehen, dass er nur ungefähr wisse, wohin ich denn wolle. Die Straße kenne er, aber er wisse nicht, wo genau das „Casino de Bosques“ sei. Ich hatte die Adresse inklusive der Hausnummer 500, so dass ich darin überhaupt kein Problem sah. Dass es doch eins wurde, wie ich feststellen musste, lag daran, dass die Mexikaner wohl ein eher lockeres Verhältnis zu ihren Hausnummern auf dieser Straße pflegen. Nach 748 kam 656 und dann 438. Doch keine 500. Nachfragen an die ortskundigen Mitmenschen am Straßenrand führten dann dazu, dass wir sämtliche Restaurants im naheliegenden Chapultepec-Park abfuhren. Alle Versuche Kollegen au ihren Handys zu erreichen, endeten auf deren Mailboxen.

Nach knapp zwei Stunden Herumgeirre landeten wir in einen Stau. Dort fragten wir wieder einen netten Mitmenschen und der sagte voller Überzeugung, das Casino sei direkt um die Ecke. Nur bei diesem Stau sei es doch sinnvoller, eben zu Fuß dahin zu gehen. Daraufhin bog der Taxifahrer aus dem Stau heraus in eine Seitengasse und ich wollte aussteigen. Da wir ja ewig lange unterwegs waren, dachte ich, es sei ja total nett von mir, wenn ich ihm ein paar Pesos mehr als den ausgehandelten Fahrpreis gäbe. Doch er verlangte noch einmal 100 Peso mehr. In meiner Verwegenheit sagte ich „nö“. Nur leider hatte ich schlechte Karten, denn die Türen waren automatisch abgeriegelt und ich kam nicht heraus. Und als er dann auch noch anfing in seinem Handschuhfach herumzukramen (kurz vorher hatte er auch noch mit dem Handy eine SMS abgesetzt), wurde es mir doch ein wenig mulmig und ich konnte ihm seine Bitte, den Fahrpreis einfach ‚mal um 120% zu erhöhen, nicht mehr abschlagen. Er entriegelte daraufhin auch sofort die Türen und ich sah zu, dass ich Land gewann. Ich brauche wohl nicht erwähnen, dass das Casino um die Ecke das falsche war. In der Zwischenzeit konnte ich aber endlich eine Kollegin telefonisch erreichen, die mir den Weg erklärte. So ging ich zum nächsten Taxistand und war in 15 Minuten am Veranstaltungsort.

Ja, wer ist denn dafür verantwortlich? Hier im Viertel wählte man die Straßennamen nach ausländischen Dichtern und Denkern. Doch wenn dann mal drei Namen zusammenkommen, kann es schon kompliziert werden. Außerdem wird es die Dänen allgemeinhin nicht freuen, dass hier jeder den Herrn Hans für einen Deutschen hält.
Ja, wer ist denn dafür verantwortlich? Hier im Viertel wählte man die Straßennamen nach ausländischen Dichtern und Denkern. Doch wenn dann mal drei Namen zusammenkommen, kann es schon kompliziert werden. Außerdem wird es die Dänen allgemeinhin nicht freuen, dass hier jeder den Herrn Hans für einen Deutschen hält.

Der Witz bestand einfach darin, dass er einfach auf der anderen Straßenseite hinter einer Mauer lag (von der ich dachte, sie würde noch zum daneben befindlichen Friedhof gehören) und von der Straße aus nicht sichtbar war. Außerdem funktioniert dort einfach nicht das Prinzip, dass auf der einen Seite die geraden und auf der anderen die ungeraden Zahlen sind. So einfach war das. Warum ich dann am Eingang so angeglotzt wurde, habe ich zunächst auch nicht verstanden. Hatte meine Kollegin bereits den Türstehern mitgeteilt, dass gleich eine kommt, die eine Taxi-Odyssee hinter sich hat und womöglich etwas verwirrt wirkt? Im Saal irrte ich durch die Reihen auf der Suche nach ihr. Endlich erspähte ich sie in einer Ecke mit einem weiteren Kollegen. Und erst als ich stillstand, verstand ich, warum ich alle Blicke auf mich gezogen hatte. Ein Träger an meinem Kleid war gerissen und damit lief ich quasi halbfrei durch die Gegend (zum Glück mit BH). Eine Sicherheitsnadel hat mir dann noch den Abend gerettet.

Am nächsten Tag ging ich zum Taxistand, von dem ich den Abend vorher losgefahren bin. Natürlich fühlte sich keiner dafür verantwortlich. Im Gegenteil: schließlich musste der Kollege doch zusehen, dass er sein Geld bekommt.

Verantwortlich fühlte sich scheinbar niemand hier im Haus für die Wasserpumpe, als wir im letzten Jahr hier einzogen. Daraufhin beauftragte Christopher einen Klempner und nach einigem Hin und Her stimmte der Wasserdruck auch wieder. Nun stand auf einmal in der letzten Woche mein Nachbar aus der über uns liegenden Wohnung abends vor unserer Tür. Ob Christopher da sei? „Nö“, meinte ich. Dann bekam ich 400 Peso (rund 25 Euro)  in die Hand gedrückt, er wolle sich bedanken. Wofür? Na ja, mit dem Wasserdruck, darum hätte Christopher sich doch gekümmert. Jaja, schon, aber das ist doch schon lange her. Er hätte das nicht gewusst und jetzt erst von der „Person“ erfahren. Die „Person“ heißt Rodrigo und wohnt ebenfalls in der Wohnung über uns. Anfangs dachte ich, Rodrigo sei Student und wohne dort mit seiner Mutter und seiner Großmutter. Irgendwann einmal waren die Frauen weg, nur Rodrigo blieb. Und wie er blieb: Er verlässt nämlich eigentlich nie das Haus und singt zu jeder Tages- und Nachtzeit Kirchenchoräle und -kantaten. Kurzum: Rodrigo macht überhaupt nichts außer beten und singen.

Nun war an diesem Abend endlich mal die Gelegenheit den Señor zu fragen, in welchem Verhältnis er eigentlich zu Rodrigo stünde. Ist das der Sohn seiner ehemaligen Lebensgefährtin, sein Neffe oder wer ist er? Er stünde in überhaupt keinem Verhältnis zu dieser Person, wie er mir dann in vollem Brustton erklärte. Er sei auf einer längeren Geschäftsreise gewesen und hätte einen Bekannten gebeten, in der Wohnung nach dem Rechten zu sehen. Als er wiederkam, waren fünf Leute in der Wohnung. Von seinem Bekannten hat er nie wieder etwas gehört. Die Leute verschwanden dann auch wieder nach und nach. Nur Rodrigo blieb. So sei das eben in Mexiko, erklärte er mir lapidar. Er schüttelte seinen Kopf, als ich ihn fragte, ob Rodrigo denn einen Vertrag hätte und Miete zahlen würde. Daraufhin schlug ich ihm vor, er müsse doch nur mal abwarten, dass Rodrigo das Haus verlasse (ab und an hatte er jedenfalls in der Vergangenheit Kirchenchor-Proben). Dann solle er schnell dessen Sachen zusammenpacken und das Türschloss auswechseln. Mhmm, auf die Idee sei er noch gar nicht gekommen und bedankte sich bei mir für diesen grandiosen Vorschlag.

Mir wäre das wirklich ganz recht, schließlich verbringt Rodrigo so manche Nacht auf dem Flachdach (wenn er dem Señor nicht begegnen möchte) und schmettert dort herum. Dafür kann Rodrigo bestimmt nichts. So ist das wohl mit der Verantwortung in Mexiko.

Das ist ein Abstellraum auf unserem Flachdach, den Rodrigo liebevoll gestaltet hat. Die Zeilen links bedeuten:  "Oh Jesus, ich liebe dich meine Festung Jesus, mein Fels mein Schloß und mein Befreier Mein Gott, meine Festung der ich vertraue Mein Schutzschild, und die Stärke  meiner Rettung, mein höchster Schutzort."
Das ist ein Abstellraum auf unserem Flachdach, den Rodrigo liebevoll gestaltet hat. Die Zeilen links bedeuten: "Oh Jesus, ich liebe dich meine Festung Jesus, mein Fels mein Schloß und mein Befreier Mein Gott, meine Festung der ich vertraue Mein Schutzschild, und die Stärke meiner Rettung, mein höchster Schutzort."

Und als mich kürzlich ein Kollege fragte, wer denn dafür verantwortlich sei, dass eine Straße plötzlich ohne Vorwarnung durch eine Betonkante beendet wird (die ja unseren Unfall verursacht hat), konnte ich auch nur schmunzeln – der Verkehrsminister, die Straßenwacht das Städtchen El Progeso? – und mich weiterhin darüber wundern, warum überhaupt das Wort „responsibilidad“ hier existiert.

Dieser Text entstand übrigens in voller Eigenverantwortlichkeit. Wer nichts mehr von mir lesen möchte, kann sich vertrauensvoll an mich wenden. Aber dann selbst die Verantwortung dafür tragen, wenn ich beleidigt reagieren werde.

Ich hoffe, euch allen geht’s gut und ich lese oder höre auch ‚mal wieder ‚was von euch.

Muchos saludos desde México,
Marion