Dieser Artikel ist der 19. Teil einer persönlichen Serie über das Leben in Mexico und Mexico-City. Heute erfahren wir etwas über die Buchmesse in Guadalajara, Herta Müller und Vargas Llosa, sowie die notorischen Morde in der Mitte der mexikanischen Gesellschaft. Viel Spaß beim Lesen.
Hola a todos!
Ganz Mexiko sinniert dieser Tage über den Geist „Alemanias“ (da wird aus „corazon“ auch schon einmal ein „Hertz“ und Peter Handke und Thomas Bernhard werden auch einmal ganz schnell eingebürgert) – ganz Mexiko? Wohl nicht ganz, obwohl die hiesigen Feuilletonisten uns das weismachen wollen.
Zum 25. Mal findet in diesen Tagen in Guadalajara die internationale Buchmesse statt und Gastland ist dieses Jahr die Bundesrepublik Deutschland. Deswegen findet man in den Zeitungen immer mal wieder Essays über dieses Land in Europa, das die meisten hier mit Volkswagen in Verbindung bringen. Oder überhaupt mit wirtschaftlicher Stärke. Das ist eben auch das Land der Dichter und Denker ist, ist hier zwar nicht gänzlich unbekannt, geht aber wohl im alltäglichen Überlebenskampf der meisten Mexikaner unter.
Morde in der Nähe der Messe
Diesen alltäglichen Überlebenskampf haben am letzten Donnerstag 26 junge Männer nicht überstanden. Sie wurden in drei Lieferwagen auf einer Schnellstraße gefunden – 600 Meter von der Expo Guadajalara entfernt. Genau dort, wo die Buchmesse stattfindet. Bekannt haben sich zu der Tat die Zetas, einer der vorherrschenden Narcotrafico-Gruppe Mexikos. Ob es einen Zusammenhang zwischen der Veranstaltung und der Tat gibt? Noch wird mit den Schultern gezuckt.
Jedenfalls hat Guadajalara es damit geschafft landesweit ins Zentrum des Interesses zu rücken. Die örtlichen Feuilletonisten fragen auch schon bang: sind wir nach Ciudad de Juarez, Veracruz und Acapulco die nächsten?
Die Messe mit berühmten Namen
Aber erst einmal wird das Buch hochgelobt und mit ihm seine Autoren. Und hier vor Ort sind auch Namen, die sich sehen lassen können.
Der vorläufige Höhepunkt sollte am Sonntag ein Gespräch zwischen den beiden Nobelpreisträgern Herta Müller (Deutschland) und Mario Vargas Llosa (Peru) sein. Warum auch Moderator Juan Cruz mit auf dem Podium saß, bleibt schleierhaft. Denn das Publikum erlebte ein völlig moderationsfreies Gespräch, in dem die beiden Gesprächspartner sich eigentlich nichts zu sagen hatten.
Diese Moderationsfreiheit wurde auch durch die Aussage Herta Müllers unterstützt: „Ich mache lange Antworten, um mich zu schützen.“ Eben um sich vor den teils sinnlosen Fragen zu schützen. Was ihr auch in weiten Strecken gelang. Sie konnte so ausführen, dass Lesen die Beschäftigung war, die ihr in ihrem Leben in der Diktatur in Rumänien Halt gab. Dass das Lesen für sie existentiell sei.
Vargas Llosa hingegen sah im Akt des Lesens etwas, das stimuliert, erfreut und Vergnügen verbreitet.
Auch das Schreiben wird bei Herta Müller etwas Existentielles. Vor dem Hintergrund in einem totalitären Systems zu leben, hat sie sich oft gefragt, ob sie dazu legitimiert sei, zu lesen und zu schreiben, wenn um sie herum die Menschen bedroht und vernichtet werden. Hätte sie nicht lieber ihre Kraft darauf verwenden müssen, Widerstand zu leisten. Fragen, die offenbar die Autorin auch 22 Jahre nach dem Ende der CeauÈ™escu –Diktatur bewegen und nicht loslassen.
Auch hier betrachtet Vargas Llosa die Bedeutung des Schreibens vom anderen Ende des Standpunktes: Schreiben soll das Leben zum Besseren verändern. Schreiben sei keine luxuriöse Aktivität. Es helfe zu verstehen, was z.B. Ungerechtigkeit sei.
Müller und Llosa: zwei Menschen – kein Dialog
Als Zuschauer beschlich einen so langsam das Gefühl, dass dort zwei Menschen sitzen, die nicht in einen Dialog treten können, da ihr Blick auf die Welt nicht aufeinander gerichtet ist. Da das Gespräch thematisch nicht gelenkt wurde, kam es auch immer wieder in keinem Zusammenhang stehenden Gedankensprüngen: Herta Müller sprach von der Funktion der Erinnerung und verwies auf die Autoren Celan und Semprún, Vargas Llosa sprach in seinem darauffolgenden Beitrag vom Rassismus und Vorurteilen in Lateinamerika, woraufhin Herta Müller das Stichwort Rassismus auffing und von der nationalsozialistischen Untergrundszene in Deutschland berichtete. Über Ostdeutschland kam sie dann auf das Thema Emigration.
Nichtiges
Ab diesem Punkt hätte es wieder interessant werden können. Besonders wenn man in einem Land wie Mexiko ist. Doch hier versagte der Moderator völlig und fragte, was der im Juni verstorbene Autor Jorge Semprún den beiden Nobelpreisträgern bedeutet. Jedenfalls hier fanden sie sich wieder: beide schätzen den verstorbenen Spanier sehr.
Mexikanischer wurde dann wenigstens die Folgeveranstaltung. Da trat nämlich Marcelo Ebrard, Regierungschef des Bundesdistrikts Mexiko-Stadt, auf, der in der letzten Woche mit seiner Präsidentschaftskandidatur gescheitert ist. Ein Lehrstück der Rhetorik im Caudillo-Stil – warum der Saal tobte und applaudierte, erschloss sich dem ausländischen Beobachter nicht ganz. Schließlich sind die letzten Schlagzeilen, die im Kopf hängengeblieben sind folgende:
Ausbau der Stadtautobahn durch eine zweite Etage (was zur Folge hat, dass morgens der Berufsverkehr nun regelmäßig zusammenbricht und nicht nur das: vor einigen Wochen brach auch ein Teilstück des Brückenaufsatzes ab und knallte auf die untere Fahrbahn/ zum Glück geschah dies nachts um 4 Uhr, so dass es keine Personenschäden gab) und seine Hochzeit mit der ehemaligen Botschafterin Honduras in Mexiko (bei der man sich vor allen Dingen zwei Fragen stellt: wie wird man mit 31 Jahren Botschafterin eines Landes und warum lässt man sich eine so grotesk große Oberweite basteln, die in keiner Relation zum Rest des Körpers steht?).
Mexiko hat viele Probleme
Man erschrak kurz, denn Ebrard sprach eine Wahrheit aus (was dem Mexikaner allgemeinhin ja nicht so oft passiert): Mexiko hat viele Probleme. Um dann „ach nee“ zu denken. Ja, und nun? Ebrard wusste die Wunderformel: wir brauchen mehr Erziehung und Bildung. Danke und tschüss.
Auch in Mexiko: Bildung schlecht
Woher dieses „mehr“ kommen soll, ließ er offen. Vor zwei Wochen wurde eine Studie veröffentlicht, wonach die Mathematikkenntnisse der mexikanischen Schüler weltweit zu den schlechtesten gehören. Auch andere Dinge lassen einen staunen: so müssen Grundschüler die Namen der wichtigsten Knochen auswendig lernen, kennen aber nicht die Himmelsrichtungen. So steht es schon seit ewigen Zeiten in den Lehrplänen. Etwas, das ich zunächst nicht glauben konnte, was ich aber selbst erfahren habe, als ich in dem Deutschkurs, den ich gab, so schöne Fragen wie „Wo liegt Mexiko-Stadt in Mexiko? Im Norden oder Süden?“ stellte und mich 20 erwachsene Augen staunend anblickten.
Bücher? Quién sabe?
Was aber auch einen staunen ließ: was hat dieser Auftritt eigentlich mit Büchern zu tun? Solange ich auch darüber nachdachte, ich fand keine Antwort. Vielleicht, weil gesagt wird, dass 60 bis 70% der publizierten Bücher in Mexiko ausschließlich Unterrichtsbücher seien. Quién sabe?
Wie dem auch sei, ich wünsche euch allen immer wieder gute Lektüren und natürlich auch, dass es euch allen gut geht!
Hasta luego,
Marion