Verliebt in unser Grundgesetz – Dr. Matthias Burchardt von der Universität Köln über PISA, einem „Projekt“ der OECD: „Was kommt in den Blick, und was verschwindet?“

In den letzten Tagen wurden viele Artikel geschrieben und Reden gehalten zum 70. Geburtstag unseres Grundgesetzes am 23.Mai. Eine der wichtigsten und schönsten hielt heute Matthias Burchardt in der „Redezeit“ am 4.6.2019 auf WDR 5 (1), und eigentlich möchte ich nur dieses Interview mit Achim Schmitz-Forte empfehlen, das man unter

https://wdrmedien-a.akamaihd.net/medp/podcast/weltweit/fsk0/193/1932213/wdr5neugiergenuegtredezeit_2019-06-04_wasbringtpisawirklichmatthiasburchard_wdr5.mp3

nachhören kann. Denn wenn jemand in so kurzer Zeit so viele interessante Fragen stellt und Fakten darlegt, ist es unmöglich, eine wirklich gute Auswahl zu treffen. Aber eine Frage entspricht so dermaßen meinem so oft wiederholten „Was ist von wem geblieben?“ (2), daß ich sie doch hier weitergeben möchte: „Was kommt in den Blick, und was verschwindet?“

Und vielleicht doch noch einige Zitate aus der Laudatio auf unser Grundgesetz und auf Bildung:

„Es gibt christliche Wurzeln. Es gibt antike, es gibt jüdische Wurzeln. Ich möchte vor allem den Begriff der Aufklärung ganz stark machen – das liegt mir so am Herzen, gerade in den Zeiten von ,fake news’ und all dem ganzen Kram -: Wage, Dich Deines eigenen Verstandes ohne die Anleitung eines Anderen zu bedienen. Und vor allem: Befreie Dich von der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Weil: Es gibt überall Vormünder, also es hat Autoritäten, die Dir die Freiheit abkaufen möchten und es Dir leicht machen möchten, weil Du zu faul oder zu feige bist,von Deinem Verstand Gebrauch zu machen. Also all diese Aspekte. Und dann bitte auch den Humboldt mit, mit der Entwicklung aller Kräfte des Menschen zu einem Ganzen. Das bildet das Fundament unserer Bildungsvorstellung, und das läuft der OECD völlig zuwider.

Sie haben nach den Interessen gefragt, und da ist es vielleicht ganz interessant: Welches Bildungsverständnis propagiert denn die OECD? Und für sie ist der Mensch ,Human-Kapital’. Da geht’s also darum, daß ich Investitionen in bestimmte Fähigkeiten tätigen muß, um mich auf dem Markt der Lebenschancen irgendwie zu bewähren. Und da ist das Maß für gelungene Bildung nicht das Mensch-Sein oder die Entwicklung von Individualität, sondern die Anpassung an Nachfrage/Angebot-Konstellationen. Und da -würde ich sagen – ist eine harte Zäsur markiert. Und Ihre Kritikwürde ich völlig teilen: Es ist ein Drama, daß wir es nicht geschafft haben, [Bildung] allen Menschen zugänglich zu machen. Aber dann würde ich sagen: Lassen Sie uns doch den Bildungsbegriff ausweiten – und nicht ersetzen durch einen, der wesentlich zynischer ist als das, was wir vorher hatten. …

Sehr gute Frage – tatsächlich – , weil wir ja eigentlich unter demokratischen Bedingungen davon ausgehen sollten, daß politische Veränderungen veranlasst werden durch den Souverän. ,Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.’ Ja? Herzlichen Glückwunsch, liebes Grundgesetz. Ich bin verliebt in Dich und gerade in diesen Satz.

Wenn er nämlich stimmen würde, wäre der Ursprung von Bildungsreformen sozusagen die Menschen, die diskutieren würden im öffentlichen Raum: Lehrerinnen, Lehren, Eltern und so weiter. Und da hätte die OECD keinen Platz; die kommt in unserem Grundgesetz nicht vor. Und insofern muß sie Maßnahmen ergreifen, die man wissenschaftlich beschreibt unter dem Begriff ,soft-governments’, eine Form ,weicher Regierung’, d.h. die Einflussnahme auf nationale Gesetzgebungsverfahren unter Umgehung der demokratischen Verfahren, die dort eine Rolle spielen.

Wie schafft es die OECD, Einfluß zu nehmen, wenn sie tatsächlich nicht vorkommt im Grundgesetz und dort zuständig ist für Bildungsfragen? Die Kollegen des Sonderforschungsbereich 597 der Universität zu Bremen haben erforscht, wie diese Wege der weichen Regierung, der ,soft-governments’, genau verlaufen, und da werden vor allem zwei benannt:

das Eine ist das Schaffen von Ideen, von neuen Vorstellungen. Das heißt: Die Denk- und Redeweisen von Bildung haben sich massiv verändert; wir sprechen von Wettbewerb, Standortnachteilen und Konkurrenz;

und das Zweite ist das ,Standard-setting’, das heißt das Etablieren von Zielvorgaben, denen sich die Politik fügen muß. Es ist dann frei, wie sie die erfüllt; aber sie darf selber nicht mehr bestimmen: Was sind eigentlich die Ziele? Und damit auch der Souverän, das Volk, gewissermaßen ausgehebelt.“

25 Minuten und 20 Sekunden für Bildung und unser Grundgesetz, von dem ein Artikel so selten erwähnt wird: „Forschung und Lehre sind frei.“

Matthias Borchardt: „Wissen sedimentiert sich und schafft Horizonte der Weltbetrachtung …“ (3)

Hans Roth: „Mit einem Hinweis auf Artikel 5 Absatz 3 GG verabschiede ich mich.“ (4)

Und jetzt kommt noch eine Liebeserklärung von mir:

Artikel 5, Absatz 3 GG heißt: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.“ Welche Ehre und Freude, aber auch welche Verpflichtung und wie viel Arbeit ist mit der Tatsache verbunden, Bürger unseres Staates zu sein, der solch ein schönes Buch wie das Grundgesetz seine Verfassung nennt! Wie schade, daß „der Ball“ eben nicht rund ist!

Anmerkungen:

(1) https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-neugier-genuegt-redezeit/audio-was-bringt-pisa-wirklich—matthias-burchard-100.html

(2) siehe auf der Liste meiner Artikel auf http://upgr.bv-opfer-ns-militaerjustiz.de/uploads/Dateien/Links/Artikel-N-T-K20190516.pdf die Artikel Nr. 17, 19, 22, 27, 44, 53 („Von Nachlässen und möglichen Projekten“), 132, 133, 149 und 157

(3) „Das heißt: Ich vergesse zwar binomische Formeln, aber ich habe vielleicht eine erogene Zone für Zahlen, und mir erschließen sich mathematische Verhältnisse in der Welt, weil ich es einmal gelernt habe. Es geht um diese Horizontbildungen.“; siehe dazu: „Zeugnisse –für wen?“ auf http://afz-ethnos.org/index.php/aktuelles/75-zeugnisse-fuer-wen

(4) in seiner Erklärung vom 1.7.2009; in „Der Freiherr und der Citoyen“, Erstes Buch, S. 88 (http://berufsverbote.de/tl_files/HR/Freiherr-Citoyen1.pdf). Was ist von wem geblieben? (Und bei Kant muß ich eben immer an Hans Roth denken, der ihn so oft zitierte: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind Unrecht.“ (Zum ewigen Frieden, Nachwort)

„Ganz oberflächlich geht’s um Geld. Der Soziologe Richard Münch hat ein ganz großartiges Buch veröffentlicht im letzten Jahr, das heißt ,Der bildungsindustrielle Komplex’. Und da zeigt er sehr schön –also Sie werden die Andeutung verstehen; es gibt ja auch natürlich den militärisch-industriellen Komplex’, so als Diktum – daß da Testindustrie und internationale Organisationen ein unglaubliches Geschäftsfeld entdeckt haben.“

Matthias Burchardt in der „Redezeit“ am 4.6.2019 auf WDR 5, nachzuhören auf
https://wdrmedien-a.akamaihd.net/medp/podcast/weltweit/fsk0/193/1932213/wdr5neugiergenuegtredezeit_2019-06-04_wasbringtpisawirklichmatthiasburchard_wdr5.mp3

Leserbrief zum Artikel „CDU-Antrag: Reden im Rat kürzer fassen“ in der WP Brilon vom 09.06.2017

„Erdoganisierung im Stadtrat – kleine Parteien sollen mundtot gemacht werden“, so hätte die Überschrift des Artikels zum CDU-Antrag auch lauten können.

(Der Leserbrief von Silke Nieder bezieht sich auf den auch oben verlinkten Artikel in der Westfalenpost vom 9. Juni 2017.)

Bisher hat ein Ratsmitglied z. B. die Möglichkeit, zu den Tagesordnungspunkten der Sitzungsvorlage der Stadtverwaltung in einer ersten Wortmeldung auf Nachfrage weitere Informationen zu erhalten. Nach Beantwortung dieser Fragen kann das Ratsmitglied dann in seiner zweiten Wortmeldung einen begründeten Ergänzungs- oder Änderungsantrag zum Beschlussvorschlag der Verwaltung stellen. Zu möglichen Einwänden anderer Ratsmitglieder kann der Antragsteller dann Stellung nehmen und sich an der Diskussion beteiligen.

Wenn die Anzahl der Wortmeldungen eines Ratsmitglieds – wie von der CDU gewünscht – auf zwei begrenzt würde, wären weder eine Stellungnahme, noch eine kontroverse Debatte über die Anträge möglich – bequem also für die Fraktionen, die selten Anträge stellen. Diese Forderung der CDU widerspräche allerdings parlamentarischen und demokratischen Grundregeln.

Der Vorwurf, dass „die meisten Wortmeldungen zu keinen konstruktiven Lösungen und Erkenntnissen beigetragen hätten“, ist eine rein subjektive Bewertung. Anscheinend gefallen der CDU manche Anträge und Vorschläge nicht. Deshalb sollen sie aus ihrer Sicht keinen Beitrag zur Lösung dargestellt haben.

„Mündliche Anfragen müssen anzahlmäßig überschaubar sein, dürfen keine eigenen Debatten nach sich ziehen und vom Bürgermeister in kurzer Zeit beantwortet werden“, wird gefordert. Bisher darf ein Ratsmitglied laut Geschäftsordnung am Ende einer Sitzung „kurzgefasste“ mündliche Anfragen stellen. Der CDU-Vorschlag, das Fragerecht von Ratsmitgliedern somit auf bisher nicht näher ausgeführte Art und Weise einzuschränken, würde bedeuten, dass weniger Anfragen möglich sind. Begründung: „Ermüdungserscheinungen der Ratsmitglieder.“

Ich frage mich, ob bei einigen Ratsmitgliedern das Kurzzeitgedächtnis zu abendlicher Stunde nachgelassen hat und Ermüdungserscheinungen der Grund dafür sind, das Fragerecht einzuschränken? Denn dieses gehört – neben dem Rederecht und dem Antragsrecht – zu den grundlegenden Rechten eines jeden Ratsmitglieds! Gesetzliche Aufgabe der Ratsmitglieder ist es auch, die Arbeit des Bürgermeisters und der Stadtverwaltung zu kontrollieren. Für diese Aufgabe werden die Ratsmitglieder gewählt!

Im Übrigen werden die Debatten – nach Anfragen – am Ende der Sitzung meist durch mangelnde Disziplin in der CDU-Fraktion verursacht. Laut Geschäftsordnung müssen Anfragen beantwortet werden. Nur bei der Beantwortung von Anfragen nach Erledigung der angekündigten Tagesordnung ist eine Aussprache nicht zulässig.

Somit kritisiert die CDU-Fraktion mit diesem Antrag ihr eigenes Verhalten und zum anderen den Bürgermeister als Sitzungsleiter, welcher diese Debatten zulässt. Vielleicht sind die CDU-Ratsmitglieder auch nicht mit der Geschäftsordnung des Rates vertraut, so dass sie Stellungnahmen während der Besprechung der Tagesordnungspunkte unterbinden möchten.

Offensichtlich möchte die CDU verhindern, dass die Arbeit ihr nahestehender Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stadtverwaltung von den Mitgliedern der kleinen Ratsfraktionen hinterfragt werden kann. Mit dieser Absicht torpediert die CDU demokratische Grundregeln. Ein Kommunalparlament ist nicht dazu da, die Tätigkeit von Bürgermeister und Stadtverwaltung mehr oder weniger schweigend zur Kenntnis zu nehmen und abzunicken.

Silke Nieder