AfD: Spaltung nach der Bundestagswahl?


AfD-Wahlkampfauftakt in Altenessen. AfD-Spitzenkandidat Marcus Pretzell, AfD-Steiger Guido Reil, und die schwangere Bundesvorsitzende Frauke Petry (Bildnachweis: Marcus Bensmann)
EXKLUSIV: Vor dem Bundesparteitag am kommenden Wochenende verhärten sich die Fronten innerhalb der AfD. Frauke Petry und Marcus Pretzell wollen eine Richtungsentscheidung erzwingen – gegen das völkische Lager um Björn Höcke und Alexander Gauland. Sollte dies nicht gelingen, gibt es Überlegungen, nach der Bundestagswahl die Partei zu spalten.

Von Marcus Bensmann (correctiv.ruhr)

Nach dem Verzicht von Frauke Petry, als Spitzenkandidatin der AfD in den Bundestagswahlkampf zu ziehen, verhärten sich die Fronten innerhalb der Partei. Am Wochenende treffen sich 600 Delegierte zum AfD-Bundesparteitag in Köln. Dort soll es nicht nur um das Wahlprogramm gehen, sondern auch um die Ausrichtung der Partei. Also um den Kampf der als gemäßigt auftretenden Realos Frauke Petry und ihres Ehemanns Marcus Pretzell auf der einen Seite und dem völkischen-fundamentalistischen Flügel um Alexander Gauland und Björn Höcke auf der anderen Seite.

Sollten die Realos unter den Delegierten des Parteitags erkennbar keine Mehrheit finden, soll nach CORRECTIV-Informationen ein Antrag gestellt werden, alle strittigen Punkte auf einen Parteitag nach der Bundestagswahl zu verschieben.

Bis dahin solle dann ein Burgfrieden gelten. Dieser Vorschlag werde von beiden Lagern unterstützt, heißt es aus der AfD-Spitze. Die Demonstrationen von AfD-Gegnern in Köln würden dazu beitragen, unter den Delegierten eine Wagenburgmentalität zu schaffen, sagt ein AfD-Spitzenfunktionär. Das sollte genügen, den internen Streit zu verschieben. Den Petry/Pretzell-Unterstützern sei bewusst, dass die Zeit gegen sie laufe. Denn die Fundis um Höcke und Gauland gewönnen in der AfD immer mehr Unterstützer.

Ein Parteifunktionär aus dem engen Umfeld von Frauke Petry und Marcus Pretzell sagte gegenüber CORRECTIV, dass das AfD-Paar zu der Überzeugung gelangt sei, auf Dauer mit Gauland und Höcke nicht gemeinsam in der Partei sein zu können. Deshalb wolle man jetzt noch gute Miene zum bösen Spiel machen und die Wahlen in NRW und auf Bundesebene abwarten.

Sollte es bis dahin aber nicht gelungen sein, die AfD auf einen realpolitischen Kurs zu zwingen und Höcke aus der Partei zu drängen, haben die Anhänger des Petry-Lagers dieses Szenario entworfen: Sie wollen nach der Bundestagswahl mit ihren Abgeordneten die AfD-Fraktionen im Bundestag und in den Landtagen verlassen und eine neue Partei gründen – eine Art bundesweite CSU.

Das Lager um Petry/Pretzell wolle nicht den Fehler des Parteigründers Bernd Lucke wiederholen, als dieser die Partei ohne Mandate in Landtagen und Bundestag verlassen habe.

Erst mit ausreichender Vertretung im Bundestag und mehreren Landtagen habe diese neue Partei eine Chance, sich in der Bundesrepublik zu etablieren. Geplant sei eine kalkulierte Spaltung nach der Wahl, so der AfD-Funktionär gegenüber CORRECTIV. Sowohl Petry als auch Pretzell haben Fragen zu diesen Plänen nicht beantwortet.

Erst vor kurzem ist auch der frühere Berater von Frauke Petry, der ehemalige FOCUS-Redakteur Michael Klonovsky, von dem AfD-Paar abgerückt. In einem Aufsatz unter dem Titel  „Bonnie und Clyde der AfD“, schreibt Klonovsky, „der Grund ist nicht Frauke Petry selbst. Der Grund ist Marcus Pretzell, ihr Ehemann. Pretzell ist eine Hochstaplerfigur, ein unseriöser Mensch mit krankhaftem Drang zur Intrige und zum Schüren von Konflikten, ein Hasardeur, der Verträge für unverbindlich und Versprechen für elastische Floskeln hält.“ Klonovsky sagt, dass beide Politik nur nach dem Freund-Feind-Schema betreiben: Wer nicht für sie sei, sei gegen sie.

Unter den Gegnern von Petry und Pretzell wird der Spaltungsplan bereits diskutiert. Arvid Samtleben, AfD-Mitglied aus Sachsen, postete vor einer Woche auf Facebook: „Bereitet Petry den Abgang vor? Seit einigen Stunden macht das Gerücht die Runde: Petry will zweite Fraktion in Berlin gründen.“

Ein AfD-Funktionär aus Nordrhein-Westfalen hat bereits errechnet: Petry würden im Fall einer Abspaltung nur rund ein Dutzend Abgeordnete folgen – zu wenig, um eine eigene Fraktion im Bundestag zu gründen.

Die zentralen Anträge des Petry-Lagers für den Bundesparteitag an diesem Wochenende finden sich am Anfang des Antragsbuches. Der Antrag TO1 will das Grundsatzprogramm der Partei ändern und den Absatz hinzufügen, dass in der AfD für „rassistische, antisemitische, völkische und nationalistische Ideologien“ kein Platz sei – eine Kampfansage an den völkischen Flügel der Partei.

Auch Frauke Petrys „Sachantrag zur strategischen Ausrichtung der AfD” unter der Antragsnummer TO4 hat es in sich. Hier soll sich die Partei zwischen einer „fundamentaloppositionellen Strategie“ und einer „realpolitischen Strategie” entscheiden. Der Antrag richtet sich ausdrücklich gegen Gauland, der als Vordenker der „fundamentalistischen Strategie“ genannt wird. Die Strategie bediene sich „auch abseitiger Meinungen und Standpunkte, ist also möglichst offen gerade auch für Äußerungen außerhalb des bürgerlichen Korridors und birgt das Risiko des Verlusts von gesellschaftlicher Verankerung”, heißt es in den Erläuterungen.

Petry dagegen will die Realo-Linie durchsetzen, um „die emotional heimatlosen, und immer noch konservativen Wähler gerade der CDU, aber auch die anderer Parteien“ an die AfD zu binden; die Partei solle „perspektivisch Bereitschaft zur Koalitionsfähigkeit besitzen.“ In ihrer Videobotschaft am Mittwoch dieser Woche, in der Frauke Petry den Verzicht auf ihre Spitzenkandidatur erklärte, warb sie weiterhin für den Antrag, erklärte sich aber bereit, einzelne Formulierungen zu ändern.

Die Anträge der Gegenseite finden sich im Antragsbuch ganz hinten. So fordert der Antrag unter der Kennziffer SO3, dass der Parteitag dem Bundesvorstand die Weisung erteilt, „kein Parteiausschlussverfahren gegen Björn Höcke wegen der Dresden Rede einzuleiten.“ In diesem Antrag aus Bremen heißt es, „Björn Höcke wird als eine herausragende Person des friedlichen politischen Widerstands gegen die herrschende Klasse in Berlin und Brüssel wahrgenommen und hat mit seiner akzentuierten Themensetzung Richtung wie Inhalt der politischen Aussagen unserer Partei vorgegeben und beeinflusst.“

Ein Hindernis für Höckes Parteiausschluss sind auch die mit rechten Fundis besetzten Schiedsgerichte der Partei. So gilt sowohl das Landesschiedsgericht Thüringen als Höcke-freundlich als auch das Bundesschiedsgericht. Zweimal hat das Bundesschiedsgericht bereits Beschlüsse des Vorstands kassiert: Die Auflösung des Saar-Landesverbandes, dem Nähe zur NPD vorgeworfen wurde. Und den Beschluss, dass AfD-Mitglieder nicht auf Pegida-Demonstrationen auftreten dürfen.

Unter anderem sitzen Thomas Röckemann und Thomas Seitz im Bundesschiedsgericht, die als Petry-Gegner gelten. Nun sollen auf dem Parteitag in Köln drei neue Mitglieder für das Gremium und Ersatzrichter nachnominiert werden.

Spannend dürfte es in Köln allemal werden: Nach Ansicht von Beobachtern ist der Parteitag in etwa in zwei gleich große Lager gespalten.


Der Autor ist Redakteur des Recherchezentrums CORRRECTIV mit dem unsere Zeitung kooperiert. Die CORRECTIV-Redaktion ist gemeinnützig und finanziert sich ausschließlich über Mitgliedsbeiträge und Spenden. Gerade hat sie auch ein „Schwarzbuch AfD“ veröffentlicht. Weitere Informationen im Internet unter correctiv.org sowie bei der Seite unserer NRW-Redaktion correctiv.ruhr

+++ Wir und Heute – Für Römer +++

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Martin Kaysh verteidigt in der neuen Folge von „Wir und Heute“ den SPD-Fraktionsvorsitzenden im NRW-Landtag Norbert Römer.

Und zwar leidenschaftlich: Dieser sitzt immerhin für die IGBCE in den Aufsichtsräten und da ist es doch super, dass Römer nebenher Geld kriegt – meint Martin. Alles andere sei aufgebauschte Suppe. Martin sagt, er rechnet fest damit, dass Norbert Römer das Geld aus den Aufsichtsräten an die IGBCE weitergibt, so wie es abgemacht ist.

Die Gewerkschaft macht damit sicher was Gutes. David sagt, das wird überprüft. Ansonsten geht es diesmal um Angst, die AfD und den Pannekopp-Orden. Wir sammeln nämlich Vorschläge. Immer her damit.

Es unterhalten sich Martin Kaysh, der den Geierabend in Dortmund als Steiger präsentiert, und David Schraven, der Leiter von CORRECTIV.

Nebeneinkünfte im Landtag NRW: Die Problemfälle

Immer wieder kommt es zu Interessenkonflikten. Oft werden diese nicht offengelegt. Trotz Transparenzrichtlinien.


Illustration: Charlotte Hintzmann (charlotte-hintzmann.de[1])
Lobbyismus und Politik sind tief und eng miteinander verbunden. Es geht um Macht und Einfluss. Die gesetzlichen Regeln schreiben in NRW vor, dass die Abgeordneten die meisten Nebeneinkünfte veröffentlichen müssen. Das tun sie. Aber zu oft ziehen sie keine Konsequenzen aus den offengelegten Interessenkonflikten.

Von Bastian Schlange und David Schraven (correctiv.ruhr)

Die Regel sagt, dass es auf Transparenz ankommt. Wer gibt wem Geld? Erst im vergangenen Monat kam der Skandal um die käuflichen Ministergespräche der NRW-SPD ans Licht – und sorgte für Aufregung. Der Fall erinnerte stark an die Diskussion um käufliche Treffen mit dem damaligen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers (CDU) kurz vor der NRW-Landtagswahl im Jahr 2010.

Doch selbst wenn Transparenz herrscht, gibt es immer noch Interessenkonflikte, die nicht einfach erledigt sind, wenn sie offen gelegt werden. Das Konfliktpotenzial bleibt. So dokumentiert eine Recherche von CORRECTIV.RUHR in den Abgeordnetenprofilen, wie weit der Einfluss von Banken, der Kohleindustrie und der Sparkassen in den NRW-Landtag reicht. Ausgewertet wurden die zusätzlichen Tätigkeiten. Wird von einem Abgeordneten sein erlernter Beruf oder sein Geschäft parallel zum Mandat weiter ausgeübt bzw. geführt, floss das nicht in die Auswertung ein.

Römer im Zeichen der Kohleindustrie

Der vermutlich größte Fall ist der von Norbert Römer, dem Fraktionsvorsitzender der SPD. Neben seinen Landtagsbezügen verdiente er im Jahr 2015 über 60.000 Euro hinzu. In der ersten Hälfte 2016 waren dies bereits über 85.000 Euro – wobei jeder Abgeordnete noch bis Anfang des Folgejahres für das vergangene Einkünfte nachtragen kann; heißt, die Summe wird weiter steigen. Römer teilte uns mit, dass er seine gesamten Einnahmen gemäß der Auflagen für Abgeordnete veröffentliche und die Einkünfte ordnungsgemäß versteuere.

Interessant wird es, genauer zu schauen, woher das Geld in Römers Tasche fließt. Neben den rund 11.000 Euro von der landeseigenen NRW.Bank erhält er rund 9.000 Euro vom BvB, dessen Hauptsponsor ist der Konzern Evonik. Evonik selber ist wiederum die wichtigste Tochter der RAG-Stiftung, die den Auslauf des Bergbaus in NRW überwachen soll. Die RAG-Stiftung ist schließlich eine öffentliche Anstalt, die von mehreren Politikern im Kuratorium beaufsichtigt wird. Die SPD stellt die größte Gruppe im Kuratorium. Zum Beispiel sitzt dort Hannelore Kraft (SPD) Ministerpräsidentin von NRW, Sigmar Gabriel (SPD), Bundesminister für Wirtschaft und SPD-Chef, sowie Heiko Maas (SPD), Bundesminister der Justiz, oder Harry Voigtsberger (SPD), früherer Wirtschaftsminister aus NRW.

Doch nicht nur über diese Kurve bekam Römer Geld aus der Kohlerichtung. Darüber hinaus bekam er bis Juni rund 45.000 Euro als Aufsichtsrat der Ruhrkohle AG (RAG), dem Bergbaukonzern aus dem Ruhrgebiet. Diese Firma gehört ebenfalls der RAG-Stiftung.

Fraktionschef Römer bekam also direkt und indirekt rund 65.000 Euro aus Kassen, die der öffentlichen Hand zuzurechnen sind, neben seinem Gehalt als Chef der SPD-Landtagsfraktion. Anders gesagt: Er bekam aus zwei getrennten Wegen Geld aus öffentlichen Kassen.

Weitere rund 25.000 Euro kassierte Römer obendrauf von der Rütgers GmbH, einem Kohle-Chemie-Unternehmen, das früher Evonik gehörte. Mittlerweile ist die Rütgers GmbH in der Hand eines amerikanischen Unternehmens und unterhält ein Joint Venture in Russland.

All diese Nebentätigkeiten sind legal. Allerdings hinterlässt der Geldfluss einen schalen Geschmack. Die Nebentätigkeiten erzeugen Abhängigkeiten, die zu Lasten einer ehrlichen Politik gehen können. Und hier fließt Geld aus einem öffentlichen Topf über Umwege an eine öffentliche Figur. Kann Norbert Römer unabhängig entscheiden, wenn es um die Kohle und den Bergbau im Ruhrgebiet geht?

Weitere Nebeneinkünfte stechen heraus

Jeder vierte Abgeordnete verdient neben seiner monatlichen Diät von 11.006 Euro brutto (inklusive Altersvorsorge) etwas hinzu. Im Schnitt waren das im vergangenen Jahr immerhin 1.028 Euro im Monat. Ein weiterer Spitzenverdiener in NRW ist der FDP-Fraktionsvorsitzender Christian Lindner. Er verdiente im vergangenen Jahr rund 65.000 Euro nebenher. Bis November diesen Jahres gab er 78.500 Euro als Nebenverdienst an. Seine Einnahmequellen fallen auf: Er bekommt vor allem Geld für seine Vorträge vor Bankern, Unternehmen und Unternehmensberatern – unter anderem 6000 Euro für die Wohnungswirtschaftlichen Gespräche in Weißach.

Für die Kapitalmarktkonferenz der DZ Bank und den Politischen Salon der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG gab es im Juli 2016 nochmals 11.000 Euro. Dazu kamen im April zusammen 19.500 Euro unter anderem von der Hitmeister GmbH und dem Handelsriesen REWE. Als das Geld von REWE kam, tobte übrigens die Übernahmeschlacht um die Supermarktkette Kaiser’s Tengelmann.

Lindner sieht in seinen Vorträgen keine Interessenkonflikte. „Obwohl ich gelegentlich zu Reden vor den Kunden von Banken eingeladen werde, gehöre ich ja beispielsweise zu den schärfsten Kritikern der staatlichen Bankenrettung“, sagte er auf unsere Anfrage.


Als recht geschäftstüchtig beweisen sich die meisten Liberalen im NRW-Landtag. Zwar liegen sie mit 18,18 Prozent beim Anteil der Hinzuverdiener innerhalb der Partei nur an dritter Stelle – rund jeder dritte Sozialdemokrat (29,59 Prozent) erwirtschaftet neben dem Landtag hinzu und führt damit die zweifelhafte Tabelle an, gefolgt von den Christdemokraten mit rund 26,47 Prozent – bekommen die FDP-ler doch im Parteiendurchschnitt am meisten Geld: 22.426,77 Euro im vergangenen Jahr. Das ist fast so viel wie die Durchschnitts-Nebenverdienste von SPD und CDU zusammengerechnet. Trotzdem wird es besonders für die Sozialdemokraten unangenehm, wenn man genauer in die Verdiensttabellen schaut.

Direkter Einfluss der Banken

Brisant sind zudem die Aktivitäten der Sparkassenvertreter im Landtag NRW. Auch hier gibt es jede Menge Nebenverdienste. Allen voran die Sozialdemokraten, die mit insgesamt über 330.000 Euro fast die Hälfte aller Nebeneinkünfte für sich beanspruchen.

Ein halbes Dutzend Abgeordneter sitzen in den Verwaltungsräten kommunaler Sparkassen und beziehen dafür Geld. Im Einzelfall über 70.000 Euro. Gleichzeitig sitzen ausgerechnet diese Abgeordneten auch noch im Haushalts- und Finanzausschuss. Dort berät das Parlament über das Sparkassengesetz und wichtige Regelungen für die kommunalen Kassen, von den Renten und Gehälter für das Spitzenmanagement bis zu den Transparenzvorschriften. Rechnet man die Einkünfte zusammen, die der SPD-Abgeordnete Martin Börschel 2015 und bislang für 2016 veröffentlicht hat, hat er allein von der Sparkasse KölnBonn über 76.000 Euro bekommen.

Sein Ausschuss-Genosse Hans-Willi Körfges (SPD) kommt bisher auf insgesamt knapp 44.000 Euro von der Stadtsparkasse Mönchengladbach. Der dritte SPD-Mann, der im Haushalts- und Finanzausschuss sitzt und von einer Sparkasse Geld bekommt, heißt Wolfgang Große-Brömer. Er hat seit 2015 über 22.000 Euro von der Stadtsparkasse Oberhausen bekommen. Große-Brömer sagte gegenüber CORRECTIV.RUHR: „Nein, ich sehe keinen Interessenskonflikt zwischen meiner Aufgabe als Mitglied des Verwaltungsrates der Stadtsparkasse Oberhausen und meiner Funktion als stellvertretendes Mitglied des Haushalts- und Finanzausschusses. Selbst dann nicht, wenn ich im HFA ordentliches Mitglied wäre.“

Kein Problem oder Interessenkonflikt, über die Institute zu bestimmen, die einen bezahlen? Bei den Christdemokraten im Finanzausschuss hat Norbert Post seit 2015 rund 60.000 Euro von der Stadtsparkasse Mönchengladbach kassiert. „Ich gehöre dem Aufsichtsrat der Volksbank Heinsberg eG und deren Vorgängerinstituten seit mehr als 27 Jahren an, also viel länger, als ich Landtagsabgeordneter bin. (…) Zwischen Aufsichtsratsmandat und politischer Tätigkeit hat es nie Wechselwirkungen gegeben“, sagt sein CDU-Kollege Bernd Krückel. Er bekam seit vergangenem Jahr über 35.000 Euro von der Volksbank Heinsberg, sowie rund 3000 Euro von der NRW-Bank.

„Derart üppige Nebenverdienste sind schädlich für das Ansehen aller Abgeordneten“, heißt es in einer Mitteilung der Internetplatform Abgeordnetenwatch. „Einige Landtagsabgeordnete kassieren zum Teil beträchtliche Summen aus der Wirtschaft, woraus sich massive potentielle Interessenkonflikte ergeben können.“ Dass sich ein Abgeordneter bei Themen, die Interessenskonflikte darstellen könnten, einer Abstimmung enthält, käme nie vor, sagte Abgeordneter des Haushaltsausschusses im Gespräch mit CORRECTIV.RUHR.
Die Affären der Volksparteien

Mit Affären um Nebenverdienste haben die zwei großen Volksparteien in NRW immer wieder für Furore gesorgt: Als 2010 der damalige Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) für 20.000 Euro Gespräche mit Unternehmern wahrnahm, kritisierten die Sozialdemokraten um Kraft scharf die Käuflichkeit der Politik. Allen voran polterte Parteioberhaupt Sigmar Gabriel: „Wir verkaufen keine Amtsträger und auch nicht die Partei an andere Leute, die genug Geld haben. Das gilt für die deutsche Sozialdemokratie“, hatte er gesagt.

Im vergangenen Monat folgte dann die Affäre „rent-a-sozi“. Die Kommunikationsagentur des SPD-Parteimagazins „Vorwärts“ ließ sich Treffen mit hochrangigen Politikern „sponsern“. 3000 bis 7000 Euro wurden für Politikertreffen eingenommen: Darunter SPD-Wirtschaftsminister Garrelt Duin und Verkehrsminister Michael Groschek. Angeblich alles legal – obwohl der Vorwurf wegen illegaler Parteienfinanzierung weiterhin im Raum steht.

Ein Vertreter der SPD-Agentur sagte einer verdeckt arbeitenden Reporterin des ZDF-Magazins Frontal 21: „Mit zwei, drei Monaten Vorlauf organisieren wir für Sie ein Vorwärts-Gespräch. Früher hießen die Kamingespräche. Aber das muss seit Rent-a-Rüttgers alles etwas offizieller klingen. (…) Sie sind ein sogenannter Unterstützer und zahlen 7000 Euro für ein gesetztes Essen. Sie entscheiden dann, wer daran teilnehmen soll, und wir organisieren ihnen dann den Minister, den Fraktionsvorsitzenden oder den Staatssekretär, den sie haben wollen.“

Die Landtagsabgeordneten Börschel, Körfges und Post hatten sich bis zur Veröffentlichung dieses Artikels nicht zu unserer Anfrage geäußert.

Mitarbeit: Julian Hilgers

[1] Bildnachweis: charlotte-hintzmann.de

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Die Autoren sind Redakteure bei CORRECTIV.RUHR. Die Redaktion finanziert sich ausschließlich über Spenden und Mitgliedsbeiträge. Ihr Anspruch: Missstände aufdecken und unvoreingenommen darüber berichten. Wenn Sie CORRECTIV.RUHR unterstützen möchten, werden Sie Fördermitglied des Recherchenzentrums correctiv.org. Informationen finden Sie unter correctiv.org

+++ Wir und Heute – Wunderstäbe +++

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Die Themen des Podcasts „Wir und Heute“ sind heute weihnachtlich aufgeschlossen. Es geht um Wunderstäbe aus dem OTTO-Katalog in den 70er Jahren, um Sexbuden auf dem Weihnachtsmarkt, einen Apotheker aus Bottrop und ganz viel Lametta.

Dazu: eine spannende Information zur AfD. Denn die kann vielleicht nicht zur AfD-Wahl antreten. Lasst Euch von Martin und David adventszeitlich verwöhnen.

Es unterhalten sich Martin Kaysh, der den Geierabend in Dortmund als Steiger präsentiert, und David Schraven, der Leiter von CORRECTIV.

Sicherheitslücke bei der Bahn: Firmenkundendaten frei im Netz verfügbar.

Screenshot aus dem Beispieldatensatz (Simon Wörpel (correctiv.ruhr))
Screenshot aus dem Beispieldatensatz (Simon Wörpel (correctiv.ruhr))
Eine Online-Sicherheitslücke offenbart, wie wenig sich die Deutsche Bahn um die Daten ihrer Kunden kümmert.

Nicht nur auf der Schiene fällt die Bahn regelmäßig mit maroder Infrastruktur auf. Auch im Internet ist die Technik teilweise von gestern. Wir haben eine Sicherheitslücke entdeckt, über die Daten von Firmenkunden leicht auszuspähen sind.

Von Simon Wörpel (correctiv.ruhr)

Das Daten-Leck befindet sich im Geschäftskunden-Bereich. Hier wickeln weit über zweihunderttausend Unternehmen ihre Geschäftsfahrten ab. CORRECTIV.RUHR war in der Lage, innerhalb weniger Minuten über zehntausend Geschäftsadressen von bahn.business-Kunden abzugreifen, ohne dafür eine Passwort-Sperre oder andere Sicherheits-Barrieren knacken zu müssen.

Wir haben uns diesen Beispieldatensatz von 10.139 Unternehmen und Organisationen genauer angeschaut, um die Lücke bewerten zu können. Von Elterninitiativen an Schulen über Mittelständler bis hin zu Konzernen, Landesministerien und politischen Fraktionen ist alles dabei. Außer ihrer Rechnungsadresse haben viele Geschäftskunden auch die Namen von entsprechenden Ansprechpartnern der Bahn anvertraut. Oder detaillierte Angaben über die Lage der jeweils zuständigen Abteilungen oder Büros, so zum Beispiel „2.OG Raum 2.13“ bei einer Firma aus Baden-Württemberg. Auch ausländische Firmen, vorzugsweise aus China, sind in unserem Beispieldatensatz zu finden.

Solche Daten dürften vor allem für Werbetreibende und die Konkurrenz im Mobilitätssektor interessant sein, da ziemlich klar ist, was man diesen Firmen verkaufen kann: Billigere Geschäftsreisen als bei der Bahn. Aber auch Kriminelle könnten die detaillierten Kontaktinformationen nutzen, um Briefe im Namen einer Firma zu verschicken und so „Social Engineering“ zu betreiben. Weiter könnten sie versuchen, mit den Informationen Fahrkarten über die Namen der Unternehmen zu buchen.

Unabhängig davon, ob und wie die Daten missbraucht werden könnten – allein, dass sie bei einem internationalen Konzern wie der Bahn so einfach zu bekommen sind, ist überaus bedenklich.

Die Lücke ist technisch banal: Bahn.business-Kunden erhalten einen speziellen Link, über den sich ihre Mitarbeiter als „Selbstbucher“ registrieren können. Die gekauften Tickets werden dann direkt über die Firma abgerechnet. Dieser Link hat in seiner Adresse einen Parameter namens „firmenid“, der jedem Kunden eine eigene Nummer zuweist. Ändert man diesen Parameter, erhält man die Eingabemaske für eine andere Firma – mit vorausgefüllter Rechnungsadresse und oftmals auch mit einem Ansprechpartner oder weiteren Details aus dem Geschäftsbetrieb der betroffenen Firma.

Das Späh-Programm, das diese Abfrage sehr einfach automatisiert und die Daten in eine auswertbare Tabelle umwandelt, konnten wir in wenigen Minuten schreiben. Es hat 11 Zeilen und 799 Zeichen (inklusive Leerzeichen). Die Datenabfrage selbst dauerte für die über 10.000 Adressen lediglich 45 Minuten.

Wir haben die Bahn um eine Stellungnahme gebeten. Bis Redaktionsschluss lag diese nicht vor.

In den vergangenen Monaten ist die Bahn schon öfter negativ aufgefallen. Vor zwei Wochen legte ein Mitglied des Chaos Computer Clubs (CCC) in Hannover eine gravierende Sicherheitslücke im neuen WLan-Netz der ICE-Züge offen. Die Bahn reagierte überraschend schnell.

Disclaimer: Wir haben den Beispieldatensatz nach Abschluss der Recherche vernichtet.

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Simon Wörpel ist Redakteur bei CORRECTIV.RUHR. Die Redaktion finanziert sich ausschließlich über Spenden und Mitgliedsbeiträge. Ihr Anspruch: Missstände aufdecken und unvoreingenommen darüber berichten. Wenn Sie CORRECTIV.RUHR unterstützen möchten, werden Sie Fördermitglied des Recherchenzentrums correctiv.org. Informationen finden Sie unter correctiv.org

Wirtschaftsförderung mit Problemen: Rechnungshof kritisiert NRW-Aussenwirtschaft

Der Landesrechnungshof NRW hat erhebliche Missstände bei der Außenwirtschaftsförderung des Landes „NRW.International“ und der landeseigenen Wirtschaftsförderung „NRW.Invest“ festgestellt.

Von David Schraven, correctiv.ruhr

Wie aus einer Anfrage des Recherchezentrums CORRECTIV.RUHR hervorgeht, ist nach Auffassung des Landesrechnungshofes (LRH) „nicht gewährleistet“, dass die Überweisungen aus dem Landeshaushalt an die NRW.International ihren Zweck umfassend erfüllen. „Insofern liegt ein Verstoß gegen das in der Landeshaushaltsordnung verankerte Subsidaritätsprinzip vor“. Bei der landeseigenen Wirtschaftsförderung NRW.Invest wurden neben einem Beratervertrag auch die Auslandsaktivitäten und die Vergabe eines Werbevertrages kritisiert. Der Rechnungshof hatte die Finanzen der Wirtschaftsförderung von 2008 bis 2013 untersucht.

Die NRW.International gehört zu gleichen Teilen der Vereinigung der NRW-Industrie- und Handelskammern, dem Westdeutschen Handwerkskammertag und der NRW.Bank. Das Unternehmen soll seit November 2006 die Außenwirtschaftsförderung in Nordrhein-Westfalen koordinieren. Dafür bekommt die Firma jedes Jahr etwa 2,3 Millionen Euro aus dem Landeshaushalt.

Laut LRH besteht der Verdacht, dass NRW.International Mittel aus dieser Millionenschweren institutionellen Förderung in andere Bereiche umgelenkt hat, die nicht gefördert werden dürften. „Es ist weder nachgewiesen noch nachprüfbar“, ob die Ausgaben alle korrekt abgewickelt wurden. Eigentlich sollen mit den Millionen Außenwirtschaftskampagnen und Unternehmereisen gefördert werden. Sowie eine Plattform zur Außenwirtschaftsförderung. Alles mit einem einzigen Ziel: Aufträge und Arbeitsplätze nach NRW zu holen. Tatsächlich aber wird das Geld in den Kernhaushalt der NRW.International eingespeist. Und was dort mit dem Geld passiert, ist nach Ansicht des LRH nicht nachvollziehbar. Statt einer institutionellen Förderung wäre daher laut Rechnungsprüfer eine projektbezogene Förderung sinnvoller, um Missbrauch zu vermeiden und eine transparente Buchführung zu gewährleisten.

Der LRH kritisierte in seiner Prüfung auch die Zusammenarbeit der NRW.International mit anderen Unternehmen der NRW-Außenwirtschaft. So habe eine Tochtergesellschaft der landeseigenen Wirtschaftsförderungsgesellschaft NRW.Invest in Japan, die NRW Japan KK, für die NRW.International gearbeitet – ohne diese Arbeiten abzurechnen. „Es besteht die Gefahr einer unerlaubten Beihilfe“ der Handels- und Handwerkskammern, sagt der LRH. Die NRW Japan KK kostet das Land im Jahr etwa 700.000 Euro. Das verantwortliche Wirtschaftsministerium weist die Kritik der Prüfer zurück: die Arbeit NRW Japan KK habe allenfalls in geringem Umfang für die Gesellschaft der Handels- und Handwerkskammern gearbeitet. Außerdem habe es ähnliche Deals seit Jahren nicht mehr gegeben.

Weiter kritisierte der LRH, dass die NRW.International bei den Messen EXPOSIBRAM und Ecwatech zudem nicht nur Klein- und Mittelunternehmen gefördert, wie es erlaubt und gewünscht ist, sondern auch Großkonzerne mitfinanzierte. Etwa im Jahr 2012 den Auftritt von Lanxess Deutschland und Salzgitter Mannesmann in Moskau. Oder im Jahr ein Gastspiel von ThyssenKrupp in Brasilien. Ausgaben des Landes für die Messeauftritte seien den Konzernen nicht vollständig in Rechnung gestellt worden, kritisieren die Prüfer. Die beiden Gastspiele in Moskau und Brasilien kosteten insgesamt rund 300.000 Euro, wovon etwa 120.000 Euro den Firmen in Rechnung gestellt wurden.

Neben Japan gerieten auch andere Niederlassungen der NRW-Außenwirtschaft in den Fokus der Rechnungsprüfer. Die Repräsentanzen der landeseigenen Wirtschaftsförderung NRW.Invest in Indien, den USA und Südkorea seien beispielsweise über Jahre unterhalten worden, ohne dass es wesentliche Erfolge gab. Arbeitsplätze in NRW seien nicht entstanden. Das vernichtende Urteil der Rechnungsprüfer: „Bei der Finanzierung einzelner Auslandsvertretungen wurden die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit nicht beachtet“. Anders ausgedrückt: außer Spesen nichts gewesen. Das NRW-Wirtschaftsministerium entgegnet: zumindest aus den USA hätten sich die Investitionen in NRW erhöht. Die Staaten seien der zweitgrößte Investor im Land.

Auch bei den Auftragsvergaben erkannten die Prüfer Mängel. Einem führenden Mitarbeiter der landeseigenen Wirtschaftsförderung NRW.Invest, der im Jahr 2013 in den Ruhestand ging, wurde ein Beratervertrag über zwei Jahre im Wert von insgesamt 40.000 Euro gegeben, für den die Prüfer keinen Grund und keinen Bedarf erkennen konnten. Das Wirtschaftsministerium weist die Kritik der Prüfer zurück. Man habe auf das Fachwissen des ausgeschiedenen Mitarbeiters nicht verzichten wollen. Das Ministerium verschweigt den Namen des Luxuspensionärs auch auf wiederholte Nachfrage. Ähnliche Fälle habe es bei der NRW.Invest aber nicht gegeben.

In einem weiteren Fall kritisierten die Prüfer einen Beratervertrag zur strategischen Kommunikation mit der Firma PR Berater in Köln im Wert von rund 800.000 Euro. Für diesen Auftrag habe es keine ordentliche Dokumentation der Bedarfsanalyse gegeben. Anders gesagt: es wurde nicht festgehalten, wozu man den Auftrag überhaupt braucht. Die PR Berater in Köln haben die „bedarfsgerechte“ Kommunikation der NRW.INVEST übernommen. Auch hier wendet sich das Wirtschaftsministerium gegen die Prüfer. Es habe eine Bedarfsermittlung gegeben und der Auftrag sei regelgerecht vergeben worden. Nur die Dokumentation der Bedarfsermittlung sei nicht perfekt gewesen.

Die festgestellten Mängel haben eine besondere politische Bedeutung: Immer wieder gerieten in der Vergangenheit die Wirtschaftsförderungsgesellschaften des Landes in Skandale. Die frühere Gesellschaft für Wirtschaftsförderung NRW mbH (GfW) wurden im Jahr 2003 sogar Gegenstand eines Untersuchungsausschusses des Landtages NRW. Dort hatte ein Vertrauter des damaligen Ministerpräsidenten Wolfgang Clement (damals noch SPD) Werbe- und Kommunikationsaufträge im Wert von über 6 Millionen Euro erhalten – ohne ordentliche und ordentlich dokumentierte Ausschreibung. Der Clement-Freund sollte das Image von NRW aufpolieren.

Die NRW.Invest wird heute vom NRW-Wirtschaftsministerium unter Garrelt Duin (SPD) gesteuert und von einem Aufsichtsrat unter dem Vorsitz eines Wirtschaftsstaatssekretär kontrolliert. Mit im Aufsichtsrat sitzen Vertreter der Landtagsfraktionen und der NRW.International. Die breite Aufsicht soll eigentlich sicherstellen, dass kein Schindluder im Auslandsgeschäft getrieben wird.

Geschäftsführerin der NRW.Invest ist seit 2001 Petra Wassner. Die NRW.International wird seit von Almut Schmitz geleitet.

Weder Wassner noch Schmitz antworten auf eine Anfrage. Sie verwiesen auf das Wirtschaftsministerium. Dort nahm Torsten Burmester, Leiter der Zentralabteilung, wie oben zitiert Stellung.

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David Schraven ist Redakteur des Recherchezentrums CORRECTIV.RUHR Die Redaktion finanziert sich ausschließlich über Spenden und Mitgliedsbeiträge. Ihr Anspruch: Missstände aufdecken und unvoreingenommen darüber berichten. Wenn Sie CORRECTIV.RUHR unterstützen möchten, werden Sie Fördermitglied. Informationen finden Sie unter correctiv.ruhr

Kleine Kinder zurücklassen. Wie neue Armutszahlen die Kümmerpolitik von NRW kräftig in Frage stellen.

Spielendes Kind (foto: Christoph Schurian (correctiv.ruhr)
Spielendes Kind (foto: Christoph Schurian (correctiv.ruhr)

Das Projekt „Kein Kind zurücklassen“ bleibt bislang ohne Wirkung. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung zeigt: Wer arm ist, bleibt auch arm. Das gilt vor allem für Kinder und Jugendliche, vor allem in NRW.

Von Christoph Schurian (correctiv.ruhr)

Vor zwei Wochen lachte Hannelore Kraft noch mit der Sommersonne um die Wette. Das Modellprojekt „Kein Kind zurücklassen“ mache einen tollen Job, sagte die Ministerpräsidentin auf dem NRW-Tag in Düsseldorf: „’Kein Kind zurücklassen‘ ist ein Erfolg und wir wollen die vorbeugende Politik in Nordrhein-Westfalen fortsetzen (…) ab dem Herbst dieses Jahres werden wir das Projekt sukzessive für alle Kommunen in NRW öffnen.“ Angesichts der neusten Zahlen zur Kinderarmut klingt die Ankündigung der Ministerpräsidentin fast wie eine Drohung.

Arm bleibt arm

Laut der aktuellen Bertelsmann-Studie leben mehr als 541.000 der unter 18-Jährigen im Bundesland in Haushalten, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. In den vergangenen fünf Jahren stieg diese Zahl um 36.500 Kinder und Jugendliche oder umgerechnet 1,7 Prozent. In Nordrhein-Westfalen wurde es in den vergangenen fünf Jahren für Kinder aus prekären Lebensverhältnissen also nicht besser, sondern schlechter. Stärker als im Bundesdurchschnitt sind hier unter Dreijährige betroffen. Und besonders düster ist die Lage in Städten des Ruhrgebiets wie Dortmund, Duisburg, Essen und Gelsenkirchen wo mehr als dreißig Prozent der Heranwachsenden in so genannten Bedarfsgemeinschaften leben. Arm bleibt Arm – dabei ist die Landesregierung angetreten, diese Regel zu durchbrechen.

Für die Präventionsrendite

2012 wurde dazu „Kein Kind zurücklassen“ (KeKiz) gestartet. 18 Kommunen von Bielefeld bis Düren mühten sich um eine besonders gute Betreuung von Kindern. Eine engmaschige „Präventionskette“ von der Schwangerschaft bis zum Eintritt ins Berufsleben sollte geschmiedet werden. Begleitet wurde das Projekt von Mitarbeitern der Landesministerien, von Staatskanzlei und vor allem der Bertelsmann-Stiftung, die jetzt ja auch die neusten Armutszahlen herausgibt. Nach vier Jahren zogen Stiftung und Landesregierung im Juni noch ein positives Fazit – trotz der steigenden Zahl von zurückgelassenen Kinder in beteiligten Modellkommunen wie Dortmund, Duisburg oder Gelsenkirchen. Erste Erfolge seien dennoch sichtbar, sagte etwa MP Kraft: „Mehr Kinder erhalten bessere Bildungschancen, wir investieren in Vorbeugung, um am Ende eine Rendite zu erzielen, eine Präventionsrendite.“ Und für die Bertelsmann-Stiftung sagte Brigitte Mohn, es sei nachgewiesen worden, „das Prävention den betroffenen Kindern hilft“.

Modellkommunen statistisch nicht erfolgreich

Die neuen Zahlen sprechen eine andere Sprache: Auch Modellkommunen schneiden in der Armutsstatistik nicht gut oder besser ab. In Gelsenkirchen, Duisburg und Dortmund stieg der Anteil armer Kinder, das Ziel des „gelingenden Aufwachsen“ wird verfehlt. In 13 größten der 18 Modellkommunen sind nach vier Projektjahren mehr als 180.000 Kinder von Armut und damit schlechteren Zukunftschancen betroffen. Von einer Flächenwirkung bei den versprochenen Investitionen in die Zukunft aller Kinder in NRW kann kaum die Rede sein. Jenseits des Modellprojektes sind die Probleme offenkundig. Zum Beispiel bei den Grundschulen, der wichtigsten Einrichtung für die Zukunft der Kinder. NRW ist hier bundesweit Schlusslicht bei den Investitionen. Kein Land gibt weniger je Grundschüler und Jahr aus. NRW investiert nur 4800 Euro. Zum Vergleich. Hamburg investiert rund 8700 Euro je Grundschulkind und Jahr.

An der Ausweitung von „KeKiz“ wird trotzdem festgehalten. Gerade sucht Landesfamilienministerin Christina Kampmann (SPD) 22 weitere Städte und Gemeinden, die sich für das Modellvorhaben zu bewerben: „Ausgehend von den positiven Ergebnissen und Erfahrungen des Modellvorhabens ‚Kein Kind zurücklassen! Kommunen in NRW beugen vor‘ wollen wir die Politik der Vorbeugung schrittweise in die Fläche des Landes bringen.“

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Der Autor ist Reporter des Recherchenzentrums CORRECTIV.RUHR. Die Redaktion finanziert sich ausschließlich über Spenden und Mitgliedsbeiträge. Ihr Anspruch: Missstände aufdecken und unvoreingenommen darüber berichten. Wenn Sie CORRECTIV.RUHR unterstützen möchten, werden Sie Fördermitglied. Informationen finden Sie unter correctiv (http://correctiv.ruhr).

Der Arbeiterpakt in der AfD: Der Essener Bergmann Guido Reil soll für die AfD Arbeiter in NRW einfangen

Der Gewerkschafter und ehemalige Sozialdemokrat Guido Reil (Mitte) soll in NRW den Landesverband der AVA aufbauen. (foto: David Schraven)
Der Gewerkschafter und ehemalige Sozialdemokrat Guido Reil (Mitte) soll in NRW den Landesverband der AVA aufbauen. (foto: David Schraven)
Der frühere SPD-Mann Guido Reil wird nach seinem Übertritt zur AfD deren Arbeitnehmerlandesverband aufbauen. Reil rechnet mit weiteren Übertritten von Gewerkschaftern und Betriebsräten in die rechtsnationale Partei.

Von Markus Bensmann (correctiv.ruhr)

Während die Vorsitzende der AfD, Frauke Petry, ihre Partei öffentlich als völkische Vereingung positioniert und damit rechtspopulistisch verankert, wächst die AfD gerade auf dem linken Flügel. Denn die AfD hat einen Arbeitnehmerflügel. Das ist für viele neu.

Dieser Arbeitnehmerflügel nennt sich Alternative Vereinigung der Arbeitnehmer (AVA) in der AfD. Und diese Vereinigung setzt in NRW nun auf den Essener Bergmann Guido Reil.

Der Gewerkschafter und ehemalige Sozialdemokrat soll in NRW den Landesverband der AVA aufbauen. Und der SPD Wählerstimmen vor allem im Ruhrgebiet abjagen. Das bestätigte der AVA-Bundesvorsitzende Uwe Witt nun correctiv.org.

Fernsehen als Karriereschritt

Nach Reils Auftritt bei „hart aber fair“ am 5. November habe der Bundesvorstand der Arbeitnehmervertretung in der AfD den ehemaligen Sozialdemokraten mit der Gründung des Landesverbandes in NRW betraut, sagte Witt: „Unsere Mitglieder aus ganz Deutschland waren von Reil begeistert.“

Reil habe in der Talkshow  in der ARD die richtigen Themen angesprochen, sagte Witt. Anfänglich sah die AVA Reils Übertritt von der SPD zur AfD skeptisch. Er habe als möglicher Karrierist gegolten, der nur einen politischen Job wolle. Nun aber sei klar, dass man mit dem Bergmann den richtigen Mann in den Reihen der AVA habe, sagte Witt.

Reils Parteiübertritt aus der SPD in die AfD im Juli hatte bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. Der direkt gewählte Ratsherr aus Essen ist politisch im Norden von Essen, im Stadtteil Karnap, aktiv.

AfD für Arbeiter öffnen

Das Mitglied der Bergbaugewerkschaft IGBCE hatte sich Ende letzten Jahres mit der Parteiführung der SPD in Essen und NRW überworfen. Er hatte kritisiert, dass vor allem in den verarmten Norden der Ruhrgebietsstadt die Flüchtlingsheime kämen. 

Nun will Reil die AfD für die Arbeiter öffnen. Weitere Gewerkschafter und auch Betriebsräte hätten ihn kontaktiert,  sagte Reil correctiv.org. „Sie wollen in die AfD“.  Er werde den Landesverband der AVA aufbauen und dann für deren Vorsitz kandidieren, sagte Reil.

Für Witt von der AVA ist der Bergmann Reil ein wichtiges Zugpferd.

Inhaltlich habe die AVA in der AfD schon viel erreicht, sagt Witt. So konnte die AVA etwa den Mindestlohn im Parteiprogramm gegen den Co-Sprecher der AfD, Jörg Meuthen, und das Vorstandsmitglied Beatrix von Storch durchsetzen. Grundsätzlich vertritt die AfD in Wirtschaftsfragen neoliberale Thesen. Mit dem völkischen Flügel um den Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke aus Thüringen hat Witt wenig am Hut.

AVA macht Punkte

Im AfD-Wahlprogramm für die NRW-Landtagswahlen konnte die AVA ebenfalls Punkte machen. Die Forderungen nach einer Grundsicherung im Alter, nach einer verlängerten Bezugsdauer für das Arbeitslosengeld I und die Begrenzung der Werkverträge flossen auf Druck der AVA in das Landesprogramm der AfD von NRW. Nur bei der Begrenzung der Leiharbeit hätten sich die Arbeitnehmervertreter in NRW nicht durchsetzen können. „Da war die Lobby der Leiharbeitsfirmen zu stark“, sagte Witt.

Witt hat früher bei Thyssen gearbeitet, dann wurde er Personalchef bei einem mittelständischen Unternehmen und ist heute in der Behindertenbetreuung aktiv. Das AfD-Mann war früher Mitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes DGB. „Solidarität ist für mich wichtig“, sagte Witt. In der AfD wird Witt nach eigenen Worten als „Sozialist“ beschimpft.

Witt ist überzeugt, dass sich seine Positionen in der AfD durchsetzen werden. „NRW ist der stärkste Landesverband“, sagte Witt. Wenn sich hier die AVA-Thesen durchsetzen würden, könnte das die Bundespartei verändern.

Arbeiter bislang Außenseiter

Beim Verteilen der Machtposten in der AfD sind die Arbeitnehmervertreter unter Witt aber bisher schwach. Im westfälischen Werl wird dieses Wochenende die Kandidatenfindung der AfD für die kommende Landtagswahl fortgesetzt. Bisher waren Arbeitnehmervertreter nicht unter den gewählten Kandidaten. Es kommen Anwälte, Beamte oder Ärzte zum Zuge.

Bei dem bisherigen Stimmungsbild für die AfD gelten in NRW 30 Plätze als aussichtsreich. Die zwei AVA-Kandidaten Günther Koch und Horst Gilles wollten ihre Kandidatur erst ab Listenplatz 30 riskieren. Doch dann ging Gilles auf Risiko und kandidierte am Sonntag auf Listenplatz 22 gegen fünf Mitbewerber und scheiterte, der AVA-Schatzmeister bekam nur 12 Stimmen. 

Das war auch die letzte Wahl der zweiten Runde der Kandidatensuche in Werl am Sonntag. Die AfD-Delegierten in NRW müssen also nachsitzen. Bei der dritten Runde hätte dann auch der Bergmann Reil noch Chancen auf einen sicheren Listenplatz. Vermutlich soll die Wahlversammlung im November fortgesetzt werden, heisst es aus Parteikreisen. Bis dahin hätte Reil genug Zeit den AVA-Landesverband aufzubauen und Truppen zu sammeln.

Reil will mit einer Kandidatur für die Liste bislang bis zur dritten Wahlrunde im November warten. Der Bergmann plant allerdings bereits jetzt in Essen den Justizminister und den SPD-Vorsitzenden von Essen, Thomas Kutschaty, als Direktkandidaten herausfordern.

Im Tandem AVA und Reil könnte die AfD für das klassische Wählerpotenzial der SPD im Ruhrgebiet tatsächlich gefährlich werden. Allerdings läuft die Kandidatenfindung der AfD nicht nach Grundsätzen des möglichen politischen Erfolges. Wer auf einen aussichtsreichen Posten der Kandidatenliste kommt, bestimmen vor allem die Bezirkschefs, sagte ein Delegierter correctiv.org. Selbst der Landessprecher Marcus Pretzell kassierte letztes Wochenende bei der Wahl als Spitzenkandidat eine Demütigung. Er konnte sich nur mit knapp über 50 Prozent gegen einen blassen Gegenkandidaten durchsetzen.

Gerüchten auf dem Parteitag zufolge, plant Pretzell direkt neben Reil in Essen-Kray als AfD-Direktmandat anzutreten. Der Spitzenkandidat der AfD wollte correctiv.org auf der Wahlversammlung in Werl keine Auskunft geben. Allerdings würde das Gespann Reil und Pretzell in Essen Sinn machen, sagte ein AfD-Mitglied in Werl.

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Markus Bensmann ist Redakteur des Recherchezentrums CORRECTIV.RUHR. Die Redaktion finanziert sich ausschließlich über Spenden und Mitgliedsbeiträge. Ihr Anspruch: Missstände aufdecken und unvoreingenommen darüber berichten. Wenn Sie CORRECTIV.RUHR unterstützen möchten, werden Sie Fördermitglied. Informationen finden Sie unter correctiv (http://correctiv.ruhr).

AfD-NRW: Die gespaltene Partei. Ein Schaukampf der völkischen Patriotischen Plattform zeigt, wie zerrissen die rechte Bewegung in NRW ist.

Thomas Matzke hat den Widerstand gegen Pretzell organisiert. Er wird im nächsten halben Jahr eine wichtige Rolle in der AfD spielen. (foto: Markus Bensmann (correctiv.ruhr) )
Thomas Matzke hat den Widerstand gegen Pretzell organisiert. Er wird im nächsten halben Jahr eine wichtige Rolle in der AfD spielen. (foto: Markus Bensmann (correctiv.ruhr) )

Marcus Pretzell ist Landeschef der AfD in NRW. Eigentlich wäre es normal, dass er mit großer Zustimmung als Spitzenkandidat seine Partei in den NRW-Wahlkampf führt. Doch Pretzell wird bei der Listenaufstellung düpiert. Gegen einen blassen Gegenkandidaten erhielt er nur knapp 50 Prozent der Stimmen. Die völkischen Rechten in der AfD hatten Widerstand organisiert.

Von Marcus Bensmann[1] (correctiv.ruhr)

Der Landesverband der AfD in NRW ist tief gespalten. Zum ersten Mal wurde das ganz deutlich bei der AfD-Landesversammlung, auf der an diesem und am kommenden Wochenende die Listenplätze für die Landtagswahl im kommenden Jahr verteilt werden sollen.

Der Landessprecher der AfD – so nennen sich die AfD-Parteichefs in den Ländern – Marcus Pretzell wurde nur mit knapp 53 Prozent der 403 Delegiertenstimmen auf den ersten Listenplatz für die kommende Landtagswahl gewählt. Er ist damit Spitzenkandidat und schon angeschlagen. Für das knappe Ergebnis machte Pretzell später AfD-Politiker aus dem Bund verantwortlich, die seine Kandidatur hintertrieben hätten. Er nannte keine Namen.

Die Listenwahl der AfD in NRW wird an diesem Wochenende in Soest und am nächsten Wochenende in Werl fortgesetzt. Die ersten 30 Plätze gelten als aussichtsreiche Startnummern für ein Landtagsmandat, wenn die AfD in NRW über fünf Prozent kommen sollte.

Der organisierte Denkzettel
Das knappe Ergebnis für Pretzell lässt sich nicht mit einem starken Gegenkandidaten erklären. Thomas Röckemann war der Konkurrent um die Spitzenkandidatur. Im Vergleich zu dem bundesweit bekannten Pretzell sprach Röckemann schwach. Der frühere Polizeibeamte und heutige Anwalt aus Minden hielt einen stockenden Vortrag, dessen Pointen verpufften. Er bekam lediglich spontane Zustimmung als er die Antifa attackierte, die vor dem Kongresszentrum in Soest demonstrierte.

Ein zweites Mal wurde der Anwalt Röckemann beklatscht, als er den Grund erklärte, warum beide Sprecher der Jungen Alternative für Pretzell seien. Die beiden jungen Alternativen seien entweder bei Pretzell oder bei dessen momentaner Lebensgefährtin beschäftigt – der Bundeschefin der AfD Frauke Petry. Eine Anspielung auf Vetternwirtschaft in der AfD.

Allerdings blieb der Applaus für Röckemann trotz dieser Pointen im Gegensatz zu Pretzell sehr bemüht.

Doch Pretzell hatte auch so genügend Gegner am äußersten rechten Rand. Der Vorsitzende der AfD im Kreis Rhein-Sieg, Thomas Matzke, organisierte im Saal und auf den Gängen die Stimmung gegen Pretzell. Er habe gehört, dass Pretzell gesagt haben soll, er sei kein Patriot, sagte Matzke bei einer Raucherpause im Innenhof des Kongresszentrums. „Ich mag keine Politiker,  die sich nicht als Patrioten bezeichnen“, so Matzke.

Hin und wieder kam ein stiernackiger Mann mit Glatze zu Matzke, reichte ihm Zettel in die Hand und raunte dem Kreisvorsitzenden aus Rhein-Sieg etwas ins Ohr. Matzke überlässt nichts gerne dem Zufall. „Ich führe Dossiers“, sagt Matzke einem Parteimitglied bei der Raucherpause. Er könne organisieren und betreibe Politik „systematisch.“

Matzke gehört der Patriotischen Plattform an und bewundert den völkischen Rechtsaußen der AfD aus Thüringen, Björn Höcke. Dessen jährliche Treffen auf dem Kyffhäuser sind für Matzke nach eigenen Worten Pflichttermine.

Die völkischen Patrioten in der AfD
Die Patriotische Plattform, zu der Matzke gehört, ist ein Netzwerk von AfD-Politikern, die für eine „Zusammenarbeit“ mit der Identitäten Bewegung werben. Letztere gilt als rechtsextrem und wird vom Verfassungsschutz beobachtet. Auf der Internetseite „Patriotische Plattform“ schrieben Mitglieder des rechten Flügels der AfD erst vor wenigen Wochen unter der Überschrift „Wir sind Identitär“: „Wir wünschen uns eine engere Zusammenarbeiten zwischen Identitärer Bewegung und AfD, denn auch die AfD ist eine identitäre Bewegung und auch die Identitäre Bewegung ist eine Alternative für Deutschland.“

Die Identitäre Bewegung glaubt an den völkische These vom “großen Austausch”, wonach finstere Kräfte gezielt die Völker Europas und Deutschlands durch Einwanderung aus islamischen Gebieten vernichten wollen. Der Bundesvorstand der AfD hat eine  Zusammenarbeit mit der Identitäten Bewegung ausgeschlossen.

Nach eigenen Worten hält sich der AfD-Rechtsaußen aus Rhein-Sieg Matzke zwar an den Beschluss des Bundesvorstandes, aber er ist dagegen, Bewegungen zu verdammen, sagt Matzke.

Mehrere Delegierte auf dem Parteitag sagten, Matzke habe die Fäden für die Kandidatur des blassen Anwalts Röckermann gegen Pretzell gezogen. Dabei ging es offenbar nicht um einen Sieg Matzkes, sondern darum Pretzell einen Denkzettel zu verpassen.

Vor der Wahl des Spitzenkandidaten sagte Matzke, selbst wenn Pretzell mit knapp 60 Prozent die Stichwahl gewinnen würde, sei dies ein Beleg, dass der Landesverband gespalten sei. Daran sei Pretzell schuld, weil er nicht alle Strömungen der Partei einbinden würde. Bei der Wahl für die Spitzenkandidatur erhielt Pretzell nur knapp über 50 Prozent.  Der Plan des Höcke-Verehrers Matzke ist aufgegangen.

Neben Pretzell war in Soest häufig AfD-Bundesschefin Petry zu sehen. Nach dem knappen Sieg sagte sie, es gäbe keine inhaltliche Differenz zum Rechtsaußen der Partei Björn Höcke – man würde sich lediglich in der Rhetorik unterscheiden.

In seiner Antrittsrede nach der Wahl zum Spitzenkandidaten der AfD in NRW wetterte Pretzell vor allem gegen Flüchtlinge. Abgelehnte Flüchtlinge, die nicht in ihre Heimatländer zurückgebracht werden könnten, sollten auf eine Insel deportiert werden.

In NRW sah Pretzell „Verfall“ und „Verwesung“. Ideen, wie er es besser machen könnte, hatte er nicht. Seine wenigen konkreten Vorschlägen drehten sich um alte Hüte. Infrastruktur und Datennetze sollten ausgebaut werden.

Arbeitnehmervertreter schwach
Die wenigen Arbeitnehmervertreter in den Reihen der AfD konnten den Machtkampf zwischen Röckermann und Pretzell lediglich beobachten.

Der Bergmann und ehemalige Sozialdemokrat aus Essen Guido Reil will erst morgen entscheiden, ob er für einen Listenplatz kandidieren wird. „Das Ergebnis für Pretzell war recht knapp“, sagt Reil, der auch Mitglied der Bergarbeiter-Gewerkschaft IGBCE ist. Seine Chancen bei den Delegierten stehen schlecht.

Am Morgen hatten vor dem Kongresszentrum in Soest über 100 Menschen demonstriert. Ein Bündnis aus SPD, Linken, Grüne und DGB hatten zu einer Gegendemo aufgerufen.

Der DGB-Vorsitzende von Soest Holger Schild kann nicht verstehen, dass überhaupt Gewerkschafter zur AfD gingen. Sollte der Übertritt von Reil kein Einzelfall bleiben, „müssen wir uns eine Strategie“ überlegen, sagte Schild.

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[1] Der Autor ist Redakteur des Recherchezentrums CORRECTIV.RUHR. Die Redaktion finanziert sich ausschließlich über Spenden und Mitgliedsbeiträge. Ihr Anspruch: Missstände aufdecken und unvoreingenommen darüber berichten. Wenn Sie CORRECTIV.RUHR unterstützen möchten, werden Sie Fördermitglied. Informationen finden Sie unter correctiv.ruhr