Noch vor einer Woche bin ich durch das Schanzenviertel gestromert. Es war nichts los. Keine Touristen. Keine radikalen Elemente. Niemand warf Steine. Die „Rote Flora“ leuchtete in der Dämmerung.
Ganz in der Nähe hatte ich vor vielen, vielen Jahren gewohnt. Trampert und Ebermann sollen damals ihre Stammkneipe am Schulterblatt gehabt haben.
Sollen – ich habe sie dort nie gesehen. Von heute aus betrachtet, muss ich sagen: leider.
Lastwagen donnerten von der Autobahn kommend die Stresemannstraße hinunter. Der Fußboden im vierten Stock vibrierte.
Die „Frauenkneipe“ ein paar Schritte Richtung Neuer Pferdemarkt ist inzwischen verschwunden.
In der Susannenstraße gab es noch die Post und Fritz Fick. Kann ja kein Geschäftsinhaber was dafür, wenn er so heißt.
Günter Amendt hatte das Bild des Geschäfts in seinem Sex-Buch abgedruckt. Ich weiß nicht mehr, ob es das kleine gelbe „Sexfront“ oder das große pappige „Das Sexbuch“ war.
Wenn ich mich richtig erinnere, verkaufte Fritz Fick Milch und Käse, lasse mich aber gerne korrigieren.
Im Zusammenhang mit den G20-Krawallen säßen derzeit 34 mutmaßliche Täter in U-Haft, berichtet die Boulevardzeitung. Die meisten stammten aus gutbürgerlichen Kreisen.
Eine Auswertung der Justizbehörde zeige:
„Neben einer Gruppe desintegrierter, unpolitischer junger Menschen stammt ein Großteil aus der Mitte der Gesellschaft und verfügt über überdurchschnittliche Bildungsabschlüsse.“
Nach einigen Gesprächen, die ich selbst in der letzten Woche in Hamburg geführt habe, scheint mir diese Einschätzung plausibel. Viele Jugendliche bzw. junge Erwachsene waren am Tag der Krawalle in die Schanze geströmt, „weil da immer was los ist“. Sie wollten dabei sein.
„Ich hatte das Gefühl, dass dort etwas passieren wird, was ich in meinem Leben nicht noch einmal erleben werde, irgendwie historisch.“
Eine Mischung aus Event und Mitmach-Politshow?
Ich bin gespannt, was die weiteren Untersuchungen der Ereignisse rund um den G20-Gipfel noch ergeben werden. Je näher man sich mit dem „Schwarzen Block“ beschäftigt, desto mehr löst er sich auf.
Sehr umstritten ist die eskalierende Polizeistrategie -„Ein Wasserwerfer hat keinen Rückwärtsgang“- des Hamburger Polizeidirektors Hartmut Dudde:
„Was die Polizeitaktik anbetrifft, haben mittlerweile fast sämtliche Rechtswissenschaftler und Polizeiforscher mit über dem Kopf zusammengeschlagenen Händen erklärt, dass das Vorgehen der Hamburger Polizeiführung nicht nachvollziehbar und hinsichtlich der Ausprägung schlicht falsch gewesen ist,“ so ein kritischer Polizist, der am G20-Gipfel teilgenommen hat.
In der Nacht zum Samstag spitzte sich die Situation im Schanzenviertel zu. Viele Autonome und Linke haben sich inzwischen von der Gewaltorgie distanziert.
Ein Augenzeugenbericht:
„Am Anfang war alles noch friedlich gewesen und ich bin einer Trommelgruppe aus Frankreich gefolgt. Allerdings gab es dann auf dem Neuen Pferdemarkt Ausschreitungen und die Polizei hat diese nach oben getrieben, also ich hab nur die 4 Wasserwerfer und mindestens 300-500 Polizisten gesehen, die das Schulterblatt hochgekommen sind und habe dann angefangen zu filmen.
Am Ende des Videos sind die Polizisten dann auch in die Susannenstraße reingerannt und ich musste wegrennen damit man mich nicht verhaftet.
Die Polizei hat die Susannenstraße dann von drei Seiten komplett abgeriegelt.
Später am Abend befand ich mich an der Kreuzung Susannensstraße/Schulterblatt und war dabei als Tränengas geschmissen wurde, welches ich auch abbekommen habe, da einige die Polizei aus nächster Nähe beworfen haben.“
Eine andere Anwohnerin aus einem Wohngebiet in der Nähe des Schanzenviertels berichtet:
„Ich war nicht in der Schanze. Wir waren auch so schon völlig fertig. Drei Tage und zwei Nächte kreisten die Hubschrauber ununterbrochen über unseren Dächern. Wir konnten nicht schlafen. Die Häuser haben vibriert.“
Die friedliche Demonstration der 76.000 am Samstag von den Deichtorhallen Richtung St. Pauli ging mit ihren Forderungen in der Berichterstattung völlig unter.
„G20: Wir sind nicht alle, es fehlen die Ertrunkenen“ heißt es auf einem der Transparente. Eine Augenzeugin:
„Es waren auch viele ältere Menschen dabei, einige mit Rollatoren. In den Seitenstraßen waren viele Polizisten versteckt. Am Ende der Demo in St. Pauli haben einige Polizisten die Helme abgenommen. Erschöpfte, junge Gesichter, darunter auch viele Frauen.“
An der Polizeischule (Akademie Polizei Hamburg) in Hamburg soll eine Woche lang der Unterricht ausgefallen sein.
„Die jungen Polizeischüler wurden auf dem Gipfel eingesetzt. Ob auf der Straße oder als Ersatz auf den Wachen, das weiß ich nicht.“
Ein Kaufhaus macht dicht. 1000 Töpfe gehörte zu meiner Jugend, es gehörte zu Hamburg.
Bei 1000 Töpfe habe ich vor langer Zeit Fotopapier, Entwickler und Fixierer gekauft. Das Zeug trug ich nach Hause und in dem abgedunkelten kleinen Raum im Keller verrührte ich es mit Wasser. Anschließend konnte ich die Negative entwickeln und Fotos abziehen. Es muss eine Ewigkeit her sein.
St. Georg, Lange Reihe
Der 1000 Töpfe Laden meiner Jugend lag in der Langen Reihe, ‚hinter‘ dem Hauptbahnhof. Es war eine sehr schmuddelige Gegend. Eine Freundin wohnte hier im 3. Stock. Unten im Haus war ein Puff. Das gehörte damals zu St. Georg.
Kürzlich ging ich dort spazieren und erkannte den Stadtteil kaum wieder. Zwischen Außenalster und Hauptbahnhof zentral und attraktiv gelegen, hat sich die Lange Reihe gemausert. Schick statt Schmuddel, Lofts auf den Dächern und teure Klamottenläden an der Straße.
‚Mein‘ 1000 Töpfe Laden schloss 2008 seine Pforten. Verdrängt, denn auf diesem „Filetstück“, wie man Grundstücke in guter Lage heute nennt, sollte stattdessen ein fünfgeschossiges Haus mit Wohnungen und Läden entstehen. 1000 Töpfe zog um und ich hatte meine Laborversuche im heimischen Keller schon lange beendet.
1000 Töpfe, Schulterblatt und Rote Flora
Bundesweite Bekanntheit erlangte der oben abgebildete 1000 Töpfe Laden am Schulterblatt. Hier hatte sich 1000 Töpfe 1964 im Gebäude des ehemaligen Konzerthauses aus dem vorherigen Jahrhundert eingemietet. 1987 zog das Hamburger Warenhaus aus und nun begannen die Auseinandersetzungen um das Gebäude, die bundesweit Schlagzeilen machten.
Anstelle des alten Theaters sollte ein neues Haus gebaut werden, die Neue Flora. Dort plante ein Musicalproduzent tagein tagaus das „Phantom der Oper“ zu zeigen. Ein Teil des Gebäudes wurde abgerissen, Anwohner des Schanzenviertels wehrten sich, besetzen die Reste des Hauses und nannten es „Rote Flora“.
Inwischen wurde und wird die Fassade regelmäßig übergestrichen. Von der 1000 Töpfe Aufschrift ist nichts mehr geblieben. Die Zukunft des Kulturzentrums Rote Flora ist weiterhin ungewiss und die Begehrlichkeiten des Besitzers werden mit steigenden Immobilienpreisen in Hamburg sicher nicht geringer werden.
Das Ende
1000 Töpfe zog um und verkaufte weiter. Gestern meldete die Bild-Zeitung, das Hamburger „Kult-Kaufhaus“ werde schließen. Die Hamburger AnwohnerIni Schanzenviertel twitterte: „1000 Töpfe schliesst! War ja auch ´nen bisschen #Retro -das Konzept“. So geht es dahin, das gelbe Kaufhaus der 1000 Töpfe und mit ihm ein Stück von Hamburg.
Kürzlich kaufte ich mir in einem Hamburger Antiquariat ein Buch. Als ich es zu Hause aufschlug, fiel mir diese Postkarte entgegen. Die Rechte an dem Bild hat die Fotogruppe Schanzenviertel. Gibt es diese Gruppe noch?
Das Foto stammt aus den 1980er Jahren. Es zeigt die Straßen Weidenallee und Schanzenstraße. Im Hintergrund liegt der S-Bahnhof Sternschanze. Die eingeschossigen Gebäude vorne rechts wurden vor rund zwanzig Jahren abgerissen. Vorher hatten sich hier eine Kneipe und ein griechisches Restaurant befunden. Nach dem Abriss wurde an dieser Stelle ein mehrstöckiges Wohnhaus errichtet. Im Erdgeschoss bietet nun ein Supermarkt seine Waren an.
Pianohaus Trübger verkauft auch heute noch in der Schanzenstraße 117 Klaviere und Flügel. In den 1980er Jahren war diese Straße eher schmuddelig. Das elegante Fachgeschäft für Tasteninstrumente fiel damals mit seinen wertvollen Waren aus dem Rahmen. Inzwischen wurden im Schanzenviertel neue Wohnungen gebaut, alte modernisiert und viele Geschäfte wechselten ihre Inhaber. Nach der Gentrifizierung passt das Pianohaus Trübger nun ganz gut in den Stadtteil.
Der Hamburger Stadtteil „Schanzenviertel“ soll, nach allem, was mir hier ins Sauerland zugetragen wird, zu einem Schicki-Mickei-Stadtteil umgewandelt werden. Im Soziologendeutsch nennt sich diese Prozess „Gentrifikation„.
Es ist allerdings unter Umständen gefährlich, diesen Begriff zu verwenden, da der Verfassungsschutz angeblich Gruppen beobachtet, die es sich zum Ziel gesetzt haben, diesen unaufhaltsamen Prozess aufzuhalten.
Als ich mich schlendernd durch das gefährliche Viertel bewegte, war kein einziger Verfassungsfeind zu sehen. Die Einwohner, von denen einige dem Prekariat zuzurechnen sind, lassen friedlich, wie seit über zwanzig Jahren, ihren Hunden im Sternschanzenpark alle Freiheiten, die sie sich selbst ebenfalls nehmen.
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