Sicherheitslücke bei der Bahn: Firmenkundendaten frei im Netz verfügbar.

Screenshot aus dem Beispieldatensatz (Simon Wörpel (correctiv.ruhr))
Screenshot aus dem Beispieldatensatz (Simon Wörpel (correctiv.ruhr))
Eine Online-Sicherheitslücke offenbart, wie wenig sich die Deutsche Bahn um die Daten ihrer Kunden kümmert.

Nicht nur auf der Schiene fällt die Bahn regelmäßig mit maroder Infrastruktur auf. Auch im Internet ist die Technik teilweise von gestern. Wir haben eine Sicherheitslücke entdeckt, über die Daten von Firmenkunden leicht auszuspähen sind.

Von Simon Wörpel (correctiv.ruhr)

Das Daten-Leck befindet sich im Geschäftskunden-Bereich. Hier wickeln weit über zweihunderttausend Unternehmen ihre Geschäftsfahrten ab. CORRECTIV.RUHR war in der Lage, innerhalb weniger Minuten über zehntausend Geschäftsadressen von bahn.business-Kunden abzugreifen, ohne dafür eine Passwort-Sperre oder andere Sicherheits-Barrieren knacken zu müssen.

Wir haben uns diesen Beispieldatensatz von 10.139 Unternehmen und Organisationen genauer angeschaut, um die Lücke bewerten zu können. Von Elterninitiativen an Schulen über Mittelständler bis hin zu Konzernen, Landesministerien und politischen Fraktionen ist alles dabei. Außer ihrer Rechnungsadresse haben viele Geschäftskunden auch die Namen von entsprechenden Ansprechpartnern der Bahn anvertraut. Oder detaillierte Angaben über die Lage der jeweils zuständigen Abteilungen oder Büros, so zum Beispiel „2.OG Raum 2.13“ bei einer Firma aus Baden-Württemberg. Auch ausländische Firmen, vorzugsweise aus China, sind in unserem Beispieldatensatz zu finden.

Solche Daten dürften vor allem für Werbetreibende und die Konkurrenz im Mobilitätssektor interessant sein, da ziemlich klar ist, was man diesen Firmen verkaufen kann: Billigere Geschäftsreisen als bei der Bahn. Aber auch Kriminelle könnten die detaillierten Kontaktinformationen nutzen, um Briefe im Namen einer Firma zu verschicken und so „Social Engineering“ zu betreiben. Weiter könnten sie versuchen, mit den Informationen Fahrkarten über die Namen der Unternehmen zu buchen.

Unabhängig davon, ob und wie die Daten missbraucht werden könnten – allein, dass sie bei einem internationalen Konzern wie der Bahn so einfach zu bekommen sind, ist überaus bedenklich.

Die Lücke ist technisch banal: Bahn.business-Kunden erhalten einen speziellen Link, über den sich ihre Mitarbeiter als „Selbstbucher“ registrieren können. Die gekauften Tickets werden dann direkt über die Firma abgerechnet. Dieser Link hat in seiner Adresse einen Parameter namens „firmenid“, der jedem Kunden eine eigene Nummer zuweist. Ändert man diesen Parameter, erhält man die Eingabemaske für eine andere Firma – mit vorausgefüllter Rechnungsadresse und oftmals auch mit einem Ansprechpartner oder weiteren Details aus dem Geschäftsbetrieb der betroffenen Firma.

Das Späh-Programm, das diese Abfrage sehr einfach automatisiert und die Daten in eine auswertbare Tabelle umwandelt, konnten wir in wenigen Minuten schreiben. Es hat 11 Zeilen und 799 Zeichen (inklusive Leerzeichen). Die Datenabfrage selbst dauerte für die über 10.000 Adressen lediglich 45 Minuten.

Wir haben die Bahn um eine Stellungnahme gebeten. Bis Redaktionsschluss lag diese nicht vor.

In den vergangenen Monaten ist die Bahn schon öfter negativ aufgefallen. Vor zwei Wochen legte ein Mitglied des Chaos Computer Clubs (CCC) in Hannover eine gravierende Sicherheitslücke im neuen WLan-Netz der ICE-Züge offen. Die Bahn reagierte überraschend schnell.

Disclaimer: Wir haben den Beispieldatensatz nach Abschluss der Recherche vernichtet.

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Simon Wörpel ist Redakteur bei CORRECTIV.RUHR. Die Redaktion finanziert sich ausschließlich über Spenden und Mitgliedsbeiträge. Ihr Anspruch: Missstände aufdecken und unvoreingenommen darüber berichten. Wenn Sie CORRECTIV.RUHR unterstützen möchten, werden Sie Fördermitglied des Recherchenzentrums correctiv.org. Informationen finden Sie unter correctiv.org

Vettern in Ämtern: Wie eine kommunale Software-Firma deutsche Verwaltungen verfilzt

Das kommunale Unternehmen Prosoz Herten verkauft Software an deutsche Behörden. Die Firma hat den Wettbewerb verzerrt und ist auch deshalb zum Marktführer geworden. Es riecht nach dutzendfacher Korruption. (foto: Benedict Wermter)
Das kommunale Unternehmen Prosoz Herten verkauft Software an deutsche Behörden. Die Firma hat den Wettbewerb verzerrt und ist auch deshalb zum Marktführer geworden. Es riecht nach dutzendfacher Korruption. (foto: Benedict Wermter)

Das städtische Unternehmen Prosoz Herten verkauft Software an deutsche Behörden. Die Firma ist inzwischen Marktführer in Deutschland. Doch ihre Methoden sind zweifelhaft. Denn Prosoz bezahlt Verwaltungsmitarbeiter dafür, dass sie ihre Software teste. Das riecht nach Korruption.

Autor: Benedict Wermter / correctiv.org

Auch in Behörden wird spezielle Software gebraucht. Programme, mit denen die Beamten Bauanträge bearbeiten oder Zahlungen an Arbeitslose und Jugendliche verwalten. Angeboten wird solche Software etwa von der Firma Prosoz, die der Stadt Herten in NRW gehört. Prosoz ist Marktführer im Millionengeschäft mit kommunaler Soaftware. Aber Prosoz spielt nicht fair: Der Erfolg basiert nach CORRECTIV-Recherchen auch auf unlauteren Methoden.

Seit Jahren bezahlt Prosoz quer durch deutsche Städte und Kreise „freie Mitarbeiter“ in Behörden. Die Behörden sind gleichzeitig Kunden von Prosoz. Die Verwaltungsmitarbeiter in den Behörden testen offiziell nebenbei neue Software-Versionen oder bilden die Kollegen in Ämtern fort. Prosoz sagt, so könne man zeitnah auf Kundenwünsche reagieren.

Tatsächlich könnte die enge Bindung an Prosoz dafür sorgen, dass im jeweiligen Amt weiterhin Prosoz-Lizenzen genutzt werden. Oder dass Einfluss genommen wird auf Ausschreibungen und Aufträge.

Das bestätigt ein ehemaliger Geschäftsführer von Prosoz. „Ganz wichtig für neue Aufträge oder fortlaufende Verträge ist die Stimmung in den Kommunen“, sagt der Mann, der anonym bleiben will. Prosoz habe ihm gedroht, falls er mit uns spricht. Der ehemalige Geschäftsführer von Prosoz sagt, wenn die Stimmung gut sei, dann würden die Behördenmitarbeiter Ausschreibungen so spezifisch formulieren, dass nur Prosoz sie erfüllen kann. Offiziell geht dann alles mit rechten Dingen zu.

Wenn das wirklich so läuft, könnte man das Honorar, das Prosoz an Verwaltungsmitarbeiter zahlt als Gefälligkeit werten. Als flächendeckende Landschaftspflege im ganzen Bundesgebiet, um auch künftig Aufträge zu erhalten. Oder ganz einfach als Korruption. Aber als Korruption, die nur schwer nachzuweisen wäre.

Prosoz sagt, jeder Verdacht auf Korruption sei „unbegründet“. Die „freien Mitarbeiter“ würden wichtige Arbeiten erfüllen. Ihre Auswahl erfolge „ausschließlich anhand fachlicher Kriterien“.

Fünf Beispiele

Ist das so? Wir schauen uns fünf Beispiele an, um herauszufinden, was tatsächlich passiert.

1. Beispiel: Im Arbeits- und Sozialamt des Landkreises Wolfenbüttel hat die EDV-Chefin seit mindestens 2011 einen Vertrag mit Prosoz. Erst in diesem Jahr wurde in ihrem Amt ein Auftrag vergeben an: Prosoz. „Natürlich“ habe die Systemverantwortliche an der Ausschreibung mitgewirkt, bestätigt ein Sprecher des Landkreises. „Die Festlegung der Auswertungskriterien und der abschließende Vergabevorschlag erfolgten jedoch durch die Leitungsebene“, teilt der Sprecher mit.

2. Beispiel: Das Arbeitsamt des Kreises Darmstadt-Dieburg brauchte 2011 eine neue Software. Ausgerechnet der Kollege, der die Software betreute, war nebenberuflich im selben Jahr als „Tester“ für Prosoz tätig. Den Auftrag erhielt dann im Jahr 2012 – Prosoz. Ein Sprecher des Amtes bestätigt: Der Mann habe später an weiteren Lizenzbeschaffungen mitgewirkt. Dem Behördensprecher ist wichtig, dass die „Nebentätigkeit transparent war“, der Kollege habe „nie abschließend entscheiden dürfen.“

3. Beispiel: Im Ennepe-Ruhr-Kreis stellte das Sozialamt 2013 um auf neue Prosoz-Programme – und hatte den Auftrag zuvor nicht ausgeschrieben. Die Leiterin der Sachbearbeitung war zwei Jahre zuvor nebenberuflich für Prosoz tätig.

4. Beispiel: Im Harz-Kreis waren nach CORRECTIV-Recherchen zwischen 2011 und 2015 gleich drei Mitarbeiter nebenher für Prosoz tätig: Ein Verwaltungsmitarbeiter im Bauamt und zwei IT-Kräfte aus dem Jobcenter. In 2013 wurde in der Bauverwaltung ein Zusatzmodul für Brandschutz ohne Ausschreibung an Prosoz vergeben. Im gleichen Jahr wurde im Jobcenter ein Auftrag an Prosoz vergeben, der wurde ausgeschrieben. Auch hier sagt ein Sprecher: Alles sei legal gewesen, die drei Mitarbeiter seien bei den Verfahren nicht eingebunden gewesen.

5. Beispiel: Im Kreis Oberhavel habe man einen Mitarbeiter der Öffentlichen Hand bezahlt, sagt Prosoz – der Kreis bestätigt uns gegenüber, dass sechs Verwaltungsmitarbeiter in den Jahren 2011 bis 2015 Nebeneinkünfte von Prosoz erhalten hatten. In welchen Fachbereichen diese seit wann arbeiten, will der Kreis uns nicht verraten. Nur SOVIEL: sie seien keine IT-Kräfte und keine Entscheidungsträger. Immerhin wurden seit 2011 Aufträge im Wert von 320.000 Euro an Prosoz vergeben, darunter ein Systemwechsel in 2011. Der Kreis legt Wert darauf, dass alle Nebentätigkeiten genehmigt worden seien.

Interessant ist auch, dass Prosoz außerdem Mitarbeiter in Rechenzentren bezahlt. Das sind kommunal getragene Zentren, die Daten für Kreise und Städte verarbeiten – die auch Aufträge ausschreiben und Software beschaffen. Große Rechenzentren sind „Ekom21“ in Hessen und „Dataport Altenholz“ in Norddeutschland, das gleich für mehrere Bundesländer rechnet.

In beiden Rechenzentren waren Beschäftigte gleichzeitig freie Mitarbeiter von Prosoz und erhielten Geld von der Software-Firma.

850.000 Euro für über 120 Behörden-Mitarbeiter

Das waren nur fünf Beispiele von 104. In 104 Kommunen in Deutschland hat Prosoz freie Mitarbeiter unter Vertrag genommen, allein zwischen 2011 und 2015. Für diese Jahre liegen uns die Daten vor. CORRECTIV hat diese Daten vor Gericht erstreiten müssen, in einem Verfahren, das sich über fast zwei Jahre und durch zwei Instanzen zog.

Alle 104 Behörden haben wir daraufhin angeschrieben, um zu sehen, wie die Behörden die anrüchige Praxis rechtfertigen. Einige Behörden antworteten gar nicht, halbherzig oder mauerten. Drei Viertel der Pressestellen antworteten ausführlich. Sie sagten beinahe unisono: Alles sei mit rechten Dingen zugegangen. Die Mitarbeiter mit Prosoz-Nebenjob seien keine Entscheidungsträger bei Vergaben. Die Vergabestellen seien verantwortlich.

Formal mag das stimmen. Doch viele, die von Prosoz Geld erhalten hatten, leiten IT-Abteilungen oder Sachgebiete. Wird über neue Software entschieden – fragt man dann nicht die Kollegen in der IT-Abteilung? Und wie können die neutral sein, wenn sie gleichzeitig von Prosoz ein Honorar erhalten?

Ein Zubrot, für das Prosoz in den Jahren 2011 bis 2015 insgesamt fast 850.000 Euro ausgegeben hat. In einigen Städten wie Wiesbaden hat Prosoz bis zu neun verschiedene Verwaltungsmitarbeiter unter Vertrag genommen. Einige Mitarbeiter dort bekamen für ihren Nebenjob bei Prosoz über 2500 Euro im Jahr. Es sieht so aus, als habe Prosoz bundesweit die EDV-Landschaft gepflegt.

Prosoz und seine Kunden verweisen bei den Nebentätigkeiten von Mitarbeitern darauf, dass Nebentätigkeiten angezeigt oder genehmigt wurden. Je nach Art der Tätigkeit und Status des Verwaltungsmitarbeiters als Beamter oder öffentlich Beschäftigter müssen Nebentätigkeiten angezeigt, bei Beamten genehmigt werden.

Doch nicht immer haben die Verwaltungsmitarbeiter ihren Nebenjob gemeldet. Die Stadt Herne und der Kreis Dahme-Spreewald sagen beispielsweise, in ihren Reihen gebe es keine Mitarbeiter mit Nebenjob bei Prosoz. Doch Prosoz selbst gibt an, in Herne und Dahme-Spreewald Verwaltungsmitarbeiter zu bezahlen.
Und auch dort wurden Aufträge an Prosoz vergeben.

Prosoz verteidigt sich

Eine Sprecherin von Prosoz verteidigt die Praxis – der Einsatz von Kunden-Mitarbeitern sei branchenüblich. Aber das stimmt wohl nicht so ganz. Derlei Verträge „sind uns nicht bekannt“, sagt eine Sprecherin des Software-Riesen SAP. Die AKDB in Bayern ist ein wie Prosoz kommunal getragenes Software-Unternehmen. Ihr Sprecher sagt, Schulungen würden nahezu ausschließlich mit eigenen Dozenten durchgeführt und Mitarbeiter aus Kommunalverwaltungen nur in  Notfällen eingesetzt.
Und auch die direkten Prosoz-Konkurrenten –  mittelständische Firmen wie die Prosozial GmbH, Boll und Partner Software oder die Lämmerzahl GmbH – verteilen keine Honorare in den Amtsstuben, sagen sie. Sondern entsenden für Schulungen eigene Experten in die Behörden. Und preisen diese Dienste in ihre Kosten ein.

Anders als Prosoz: „Die Kommunen erstatten Prosoz die Kosten, die für den Lehrer entstanden sind. Und Prosoz verdient natürlich auch so noch was da dran“, sagt ein Mitarbeiter des Jobcenters Düren, der bei Prosoz genau wie seine Ehefrau auf der Gehaltsliste steht. In Düren sind bis zu drei Verwaltungsmitarbeiter aus Jobcenter und IT pro Jahr für Prosoz im Einsatz. Über eine mögliche Interessen-Kollision bei Vergaben und Lizenzerweiterungen sagt der Mann, „die Verpflichtung prägt schon.“

Konkurrenten beklagen den unlauteren Wettbewerb

Jürgen Lämmerzahl – Geschäftsführer der Lämmerzahl GmbH aus Dortmund – hat oft Angebote in Kommunen abgegeben und dann gegen Prosoz verloren. Er hat etwa in Wolfenbüttel mitgeboten – siehe Beispiel eins. In anderen Fällen wurde der Auftrag erst gar nicht ausgeschrieben. Und wenn Jürgen Lämmerzahl sich dann beklagte und eine Ausschreibung nachträglich durchsetzte, sei die so spezifisch, so unerfüllbar für ihn formuliert gewesen, dass am Ende Prosoz den Zuschlag bekam. So wie in Darmstadt-Dieburg im Jahr 2011 – siehe Beispiel zwei.

„Durch Abhängigkeiten werden objektive Entscheidungen in den Kommunen nicht mehr getroffen“, klagt Jürgen Lämmerzahl. Es gebe etliche Kommunen, die von vornherein ablehnend auf seine Angebote reagierten.

Das bestätigt Stephan Idel, Geschäftsführer von Prosozial GmbH, ebenfalls ein Anbieter von Ämter-Software. Er hat beispielsweise mitgeboten im Landkreis Harz – siehe Beispiel vier. „Eine Woche war ich mit fünf Mitarbeitern vor Ort, um Verwaltungsmitarbeiter dort mein System ausprobieren zu lassen“, sagt er. Rund 60.000 Euro habe er ausgegeben, um an der Ausschreibung teilzunehmen. IT-Kräfte aus dem Jobcenter habe er als wortkarg, abweisend und nicht ergebnisoffen wahrgenommen.

„Die Praxis der Honorar-Verträge geht zu Lasten des fairen Wettbewerbs“, sagt Stephan Idel. Er habe schon Verwaltungsmitarbeiter mit Nebenjob erlebt, die wie Vertreiber in Kommunen für Prosoz-Produkte warben. Und ehemalige Prosoz-Dozenten hätten ihn gefragt, ob er sie auch bezahlen würde. Gebote von der Konkurrenz seien bei Ausschreibungen an Prosoz weitergeben, oder Wettbewerber gar nicht erst über Ausschreibungen informiert worden.

Auch Franz-Josef Boll, der mit seiner Firma Boll und Partner Software Anwendungen für Bauämter herstellt, klagt über den unfairen Wettbewerb. „Mit Prosoz habe auch ich seit 25 Jahren nur Probleme“, sagt er. Ausschreibungen aus heiterem Himmel, das Drängen von Prosoz, auf die eigene Software umzusteigen, vor allem aber die Dozentenverträge – inzwischen hat Boll über einen Anwalt gegen Prosoz Anzeige erstattet. Wegen Vorteilsnahme und -gewährung.

Ist die Beschäftigung von Mitarbeitern eigener Kunden regelkonform? Olaf Reidt, Experte für Vergaberecht an der Humboldt-Uni in Berlin, stellt fest: „Es ist nach dem Vergaberecht nicht zulässig, dass man an beiden Seiten des Verhandlungstisches sitzt.“ Es sei denn, man könne einen Interessenkonflikt ausschließen, indem man „entsprechende Mitarbeiter aus dem Verfahren nimmt.“ Eine Gratwanderung also.

Der Sprecher des Vereins mittelständischer IT-Dienstleister „Databund“ sagt: „Die geschilderte Praxis ist durchaus zu kritisieren. Die Kommunen sollten das untereinander ausmachen, oder die Unternehmen bieten Schulungen und Dozenten selber an.“

Prosoz und der Filz

Der Chef der Firma Prosozial, Stephan Idel, wiederholt wie ein Mantra, der Markt werde „von einem Geflecht aus Politik und Wirtschaft kontrolliert“. Was er damit meinen könnte, zeichnet sich in der Geschichte der Firma Prosoz ab.

Herten im Norden des Ruhrgebiets: Hier sitzt Prosoz mit über 280 Mitarbeitern, die durch Entwicklung, Vertrieb und Pflege von Software knapp 27 Millionen Euro im vergangenen Jahr umsetzten. Der Firma – die zu 100 Prozent der Stadt Herten gehört – geht es gut.

Für Prosoz waren die Jahre der Wiedervereinigung goldene Jahre. Damals regierte Klaus Bechtel (SPD) als Bürgermeister Herten – und war zugleich Geschäftsführer von Prosoz. Er sei mit einem Omnibus durch die neuen Bundesländer gefahren und habe den Behörden Prosoz-Produkte angedreht, berichtet ein Insider*. So verdiente sich Bechtel einen Ruf als „König von Herten“ und baute sich ein Netzwerk quer durch die Republik auf. Nicht selten seien Aufträge nicht durch Gebote gewonnen worden, sondern durch Telefonate mit befreundeten SPD-Bürgermeistern, sagt der Insider.

Doch Anfang der Nuller-Jahre verhob sich Prosoz. Die Hartz-Reformen standen an, zusammen mit der Telekom-Tochter T-Systems wollte Prosoz eine neue Software für die Arbeitsämter produzieren. Doch das Produkt kam und kam nicht auf die Schiene. Prosoz verzettelte sich und konnte nicht liefern, stand kurz vor der Insolvenz. Fast pleite verkaufte die städtische Firma ihre Hartz-Software an die Telekom, die wohl nicht wollte, dass Konkurrent Siemens einsteigt. Prosoz war gerettet. Doch der „König von Herten“, Bürgermeister Klaus Bechtel, überlebte die Krise nicht – er starb im Jahr 2004 an einem Herzinfarkt.

Aber sein Netzwerk lebt: Bis heute ist Prosoz aufs Engste mit der örtlichen SPD verbunden. Ulrich Paetzel, Bechtels Nachfolger als Bürgermeister, war zuvor als PR-Manager bei Prosoz anstellt. Cay Süberkrüb, ein ehemaliger Geschäftsführer von Prosoz, ist heute für die SPD Landrat im Kreis Recklinghausen. Im Aufsichtsrat von Prosoz saßen in den vergangenen Jahren viele SPD-Mitglieder, darunter wohl auch Hausfrauen und Heilpraktikerinnen. Ein kritisches Mitglied im Aufsichtsrat* erinnert sich an die Sitzungen: „Wer den Mund voll Essen hat, kann nicht viel reden.“

Linke und FDP beklagen den Filz in der Stadt Herten und darüber hinaus seit langem. Martina Ruhardt ist bei den Linken im Kreis Recklinghausen, zu dem Herten gehört. Sie sagt: „SPD-geführte Kommunen sind geneigt, Aufträge an Prosoz zu vergeben.“

In diesem Sommer wurde schließlich ein neuer Bürgermeister in Herten gewählt. Und ein kleines Wunder ist geschehen: Zum ersten Mal seit 69 Jahren gewann nicht ein SPD-Mann, sondern ein Parteiloser. Er heißt Fred Toplak, und er war angetreten mit dem Motto: „Stoppt den Filz.“

*Namen sind der Redaktion bekannt

Epilog:

Der Antikorruptionsbeauftragte der Stadt Herten, Matthias Steck, wollte auf Anfrage von CORRECTIV nicht so recht nachforschen in Sachen Prosoz. In einer Email an die Pressestelle der Stadt Herten, die CORRECTIV vorliegt und die sich auf unseren hartnäckige Reporter bezieht, ist zu lesen: „Wir werden ihn nicht so leicht los {…}. Ich denke, wir sollten insbesondere allmählich Prosoz informieren.“

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Benedict Wermter ist Redakteur des Recherchezentrums CORRECTIV.RUHR Die Redaktion finanziert sich ausschließlich über Spenden und Mitgliedsbeiträge. Ihr Anspruch: Missstände aufdecken und unvoreingenommen darüber berichten. Wenn Sie CORRECTIV.RUHR unterstützen möchten, werden Sie Fördermitglied. Informationen finden Sie unter correctiv.ruhr

Wirtschaftsförderung mit Problemen: Rechnungshof kritisiert NRW-Aussenwirtschaft

Der Landesrechnungshof NRW hat erhebliche Missstände bei der Außenwirtschaftsförderung des Landes „NRW.International“ und der landeseigenen Wirtschaftsförderung „NRW.Invest“ festgestellt.

Von David Schraven, correctiv.ruhr

Wie aus einer Anfrage des Recherchezentrums CORRECTIV.RUHR hervorgeht, ist nach Auffassung des Landesrechnungshofes (LRH) „nicht gewährleistet“, dass die Überweisungen aus dem Landeshaushalt an die NRW.International ihren Zweck umfassend erfüllen. „Insofern liegt ein Verstoß gegen das in der Landeshaushaltsordnung verankerte Subsidaritätsprinzip vor“. Bei der landeseigenen Wirtschaftsförderung NRW.Invest wurden neben einem Beratervertrag auch die Auslandsaktivitäten und die Vergabe eines Werbevertrages kritisiert. Der Rechnungshof hatte die Finanzen der Wirtschaftsförderung von 2008 bis 2013 untersucht.

Die NRW.International gehört zu gleichen Teilen der Vereinigung der NRW-Industrie- und Handelskammern, dem Westdeutschen Handwerkskammertag und der NRW.Bank. Das Unternehmen soll seit November 2006 die Außenwirtschaftsförderung in Nordrhein-Westfalen koordinieren. Dafür bekommt die Firma jedes Jahr etwa 2,3 Millionen Euro aus dem Landeshaushalt.

Laut LRH besteht der Verdacht, dass NRW.International Mittel aus dieser Millionenschweren institutionellen Förderung in andere Bereiche umgelenkt hat, die nicht gefördert werden dürften. „Es ist weder nachgewiesen noch nachprüfbar“, ob die Ausgaben alle korrekt abgewickelt wurden. Eigentlich sollen mit den Millionen Außenwirtschaftskampagnen und Unternehmereisen gefördert werden. Sowie eine Plattform zur Außenwirtschaftsförderung. Alles mit einem einzigen Ziel: Aufträge und Arbeitsplätze nach NRW zu holen. Tatsächlich aber wird das Geld in den Kernhaushalt der NRW.International eingespeist. Und was dort mit dem Geld passiert, ist nach Ansicht des LRH nicht nachvollziehbar. Statt einer institutionellen Förderung wäre daher laut Rechnungsprüfer eine projektbezogene Förderung sinnvoller, um Missbrauch zu vermeiden und eine transparente Buchführung zu gewährleisten.

Der LRH kritisierte in seiner Prüfung auch die Zusammenarbeit der NRW.International mit anderen Unternehmen der NRW-Außenwirtschaft. So habe eine Tochtergesellschaft der landeseigenen Wirtschaftsförderungsgesellschaft NRW.Invest in Japan, die NRW Japan KK, für die NRW.International gearbeitet – ohne diese Arbeiten abzurechnen. „Es besteht die Gefahr einer unerlaubten Beihilfe“ der Handels- und Handwerkskammern, sagt der LRH. Die NRW Japan KK kostet das Land im Jahr etwa 700.000 Euro. Das verantwortliche Wirtschaftsministerium weist die Kritik der Prüfer zurück: die Arbeit NRW Japan KK habe allenfalls in geringem Umfang für die Gesellschaft der Handels- und Handwerkskammern gearbeitet. Außerdem habe es ähnliche Deals seit Jahren nicht mehr gegeben.

Weiter kritisierte der LRH, dass die NRW.International bei den Messen EXPOSIBRAM und Ecwatech zudem nicht nur Klein- und Mittelunternehmen gefördert, wie es erlaubt und gewünscht ist, sondern auch Großkonzerne mitfinanzierte. Etwa im Jahr 2012 den Auftritt von Lanxess Deutschland und Salzgitter Mannesmann in Moskau. Oder im Jahr ein Gastspiel von ThyssenKrupp in Brasilien. Ausgaben des Landes für die Messeauftritte seien den Konzernen nicht vollständig in Rechnung gestellt worden, kritisieren die Prüfer. Die beiden Gastspiele in Moskau und Brasilien kosteten insgesamt rund 300.000 Euro, wovon etwa 120.000 Euro den Firmen in Rechnung gestellt wurden.

Neben Japan gerieten auch andere Niederlassungen der NRW-Außenwirtschaft in den Fokus der Rechnungsprüfer. Die Repräsentanzen der landeseigenen Wirtschaftsförderung NRW.Invest in Indien, den USA und Südkorea seien beispielsweise über Jahre unterhalten worden, ohne dass es wesentliche Erfolge gab. Arbeitsplätze in NRW seien nicht entstanden. Das vernichtende Urteil der Rechnungsprüfer: „Bei der Finanzierung einzelner Auslandsvertretungen wurden die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit nicht beachtet“. Anders ausgedrückt: außer Spesen nichts gewesen. Das NRW-Wirtschaftsministerium entgegnet: zumindest aus den USA hätten sich die Investitionen in NRW erhöht. Die Staaten seien der zweitgrößte Investor im Land.

Auch bei den Auftragsvergaben erkannten die Prüfer Mängel. Einem führenden Mitarbeiter der landeseigenen Wirtschaftsförderung NRW.Invest, der im Jahr 2013 in den Ruhestand ging, wurde ein Beratervertrag über zwei Jahre im Wert von insgesamt 40.000 Euro gegeben, für den die Prüfer keinen Grund und keinen Bedarf erkennen konnten. Das Wirtschaftsministerium weist die Kritik der Prüfer zurück. Man habe auf das Fachwissen des ausgeschiedenen Mitarbeiters nicht verzichten wollen. Das Ministerium verschweigt den Namen des Luxuspensionärs auch auf wiederholte Nachfrage. Ähnliche Fälle habe es bei der NRW.Invest aber nicht gegeben.

In einem weiteren Fall kritisierten die Prüfer einen Beratervertrag zur strategischen Kommunikation mit der Firma PR Berater in Köln im Wert von rund 800.000 Euro. Für diesen Auftrag habe es keine ordentliche Dokumentation der Bedarfsanalyse gegeben. Anders gesagt: es wurde nicht festgehalten, wozu man den Auftrag überhaupt braucht. Die PR Berater in Köln haben die „bedarfsgerechte“ Kommunikation der NRW.INVEST übernommen. Auch hier wendet sich das Wirtschaftsministerium gegen die Prüfer. Es habe eine Bedarfsermittlung gegeben und der Auftrag sei regelgerecht vergeben worden. Nur die Dokumentation der Bedarfsermittlung sei nicht perfekt gewesen.

Die festgestellten Mängel haben eine besondere politische Bedeutung: Immer wieder gerieten in der Vergangenheit die Wirtschaftsförderungsgesellschaften des Landes in Skandale. Die frühere Gesellschaft für Wirtschaftsförderung NRW mbH (GfW) wurden im Jahr 2003 sogar Gegenstand eines Untersuchungsausschusses des Landtages NRW. Dort hatte ein Vertrauter des damaligen Ministerpräsidenten Wolfgang Clement (damals noch SPD) Werbe- und Kommunikationsaufträge im Wert von über 6 Millionen Euro erhalten – ohne ordentliche und ordentlich dokumentierte Ausschreibung. Der Clement-Freund sollte das Image von NRW aufpolieren.

Die NRW.Invest wird heute vom NRW-Wirtschaftsministerium unter Garrelt Duin (SPD) gesteuert und von einem Aufsichtsrat unter dem Vorsitz eines Wirtschaftsstaatssekretär kontrolliert. Mit im Aufsichtsrat sitzen Vertreter der Landtagsfraktionen und der NRW.International. Die breite Aufsicht soll eigentlich sicherstellen, dass kein Schindluder im Auslandsgeschäft getrieben wird.

Geschäftsführerin der NRW.Invest ist seit 2001 Petra Wassner. Die NRW.International wird seit von Almut Schmitz geleitet.

Weder Wassner noch Schmitz antworten auf eine Anfrage. Sie verwiesen auf das Wirtschaftsministerium. Dort nahm Torsten Burmester, Leiter der Zentralabteilung, wie oben zitiert Stellung.

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Kleine Kinder zurücklassen. Wie neue Armutszahlen die Kümmerpolitik von NRW kräftig in Frage stellen.

Spielendes Kind (foto: Christoph Schurian (correctiv.ruhr)
Spielendes Kind (foto: Christoph Schurian (correctiv.ruhr)

Das Projekt „Kein Kind zurücklassen“ bleibt bislang ohne Wirkung. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung zeigt: Wer arm ist, bleibt auch arm. Das gilt vor allem für Kinder und Jugendliche, vor allem in NRW.

Von Christoph Schurian (correctiv.ruhr)

Vor zwei Wochen lachte Hannelore Kraft noch mit der Sommersonne um die Wette. Das Modellprojekt „Kein Kind zurücklassen“ mache einen tollen Job, sagte die Ministerpräsidentin auf dem NRW-Tag in Düsseldorf: „’Kein Kind zurücklassen‘ ist ein Erfolg und wir wollen die vorbeugende Politik in Nordrhein-Westfalen fortsetzen (…) ab dem Herbst dieses Jahres werden wir das Projekt sukzessive für alle Kommunen in NRW öffnen.“ Angesichts der neusten Zahlen zur Kinderarmut klingt die Ankündigung der Ministerpräsidentin fast wie eine Drohung.

Arm bleibt arm

Laut der aktuellen Bertelsmann-Studie leben mehr als 541.000 der unter 18-Jährigen im Bundesland in Haushalten, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. In den vergangenen fünf Jahren stieg diese Zahl um 36.500 Kinder und Jugendliche oder umgerechnet 1,7 Prozent. In Nordrhein-Westfalen wurde es in den vergangenen fünf Jahren für Kinder aus prekären Lebensverhältnissen also nicht besser, sondern schlechter. Stärker als im Bundesdurchschnitt sind hier unter Dreijährige betroffen. Und besonders düster ist die Lage in Städten des Ruhrgebiets wie Dortmund, Duisburg, Essen und Gelsenkirchen wo mehr als dreißig Prozent der Heranwachsenden in so genannten Bedarfsgemeinschaften leben. Arm bleibt Arm – dabei ist die Landesregierung angetreten, diese Regel zu durchbrechen.

Für die Präventionsrendite

2012 wurde dazu „Kein Kind zurücklassen“ (KeKiz) gestartet. 18 Kommunen von Bielefeld bis Düren mühten sich um eine besonders gute Betreuung von Kindern. Eine engmaschige „Präventionskette“ von der Schwangerschaft bis zum Eintritt ins Berufsleben sollte geschmiedet werden. Begleitet wurde das Projekt von Mitarbeitern der Landesministerien, von Staatskanzlei und vor allem der Bertelsmann-Stiftung, die jetzt ja auch die neusten Armutszahlen herausgibt. Nach vier Jahren zogen Stiftung und Landesregierung im Juni noch ein positives Fazit – trotz der steigenden Zahl von zurückgelassenen Kinder in beteiligten Modellkommunen wie Dortmund, Duisburg oder Gelsenkirchen. Erste Erfolge seien dennoch sichtbar, sagte etwa MP Kraft: „Mehr Kinder erhalten bessere Bildungschancen, wir investieren in Vorbeugung, um am Ende eine Rendite zu erzielen, eine Präventionsrendite.“ Und für die Bertelsmann-Stiftung sagte Brigitte Mohn, es sei nachgewiesen worden, „das Prävention den betroffenen Kindern hilft“.

Modellkommunen statistisch nicht erfolgreich

Die neuen Zahlen sprechen eine andere Sprache: Auch Modellkommunen schneiden in der Armutsstatistik nicht gut oder besser ab. In Gelsenkirchen, Duisburg und Dortmund stieg der Anteil armer Kinder, das Ziel des „gelingenden Aufwachsen“ wird verfehlt. In 13 größten der 18 Modellkommunen sind nach vier Projektjahren mehr als 180.000 Kinder von Armut und damit schlechteren Zukunftschancen betroffen. Von einer Flächenwirkung bei den versprochenen Investitionen in die Zukunft aller Kinder in NRW kann kaum die Rede sein. Jenseits des Modellprojektes sind die Probleme offenkundig. Zum Beispiel bei den Grundschulen, der wichtigsten Einrichtung für die Zukunft der Kinder. NRW ist hier bundesweit Schlusslicht bei den Investitionen. Kein Land gibt weniger je Grundschüler und Jahr aus. NRW investiert nur 4800 Euro. Zum Vergleich. Hamburg investiert rund 8700 Euro je Grundschulkind und Jahr.

An der Ausweitung von „KeKiz“ wird trotzdem festgehalten. Gerade sucht Landesfamilienministerin Christina Kampmann (SPD) 22 weitere Städte und Gemeinden, die sich für das Modellvorhaben zu bewerben: „Ausgehend von den positiven Ergebnissen und Erfahrungen des Modellvorhabens ‚Kein Kind zurücklassen! Kommunen in NRW beugen vor‘ wollen wir die Politik der Vorbeugung schrittweise in die Fläche des Landes bringen.“

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Der Autor ist Reporter des Recherchenzentrums CORRECTIV.RUHR. Die Redaktion finanziert sich ausschließlich über Spenden und Mitgliedsbeiträge. Ihr Anspruch: Missstände aufdecken und unvoreingenommen darüber berichten. Wenn Sie CORRECTIV.RUHR unterstützen möchten, werden Sie Fördermitglied. Informationen finden Sie unter correctiv (http://correctiv.ruhr).

Der Arbeiterpakt in der AfD: Der Essener Bergmann Guido Reil soll für die AfD Arbeiter in NRW einfangen

Der Gewerkschafter und ehemalige Sozialdemokrat Guido Reil (Mitte) soll in NRW den Landesverband der AVA aufbauen. (foto: David Schraven)
Der Gewerkschafter und ehemalige Sozialdemokrat Guido Reil (Mitte) soll in NRW den Landesverband der AVA aufbauen. (foto: David Schraven)
Der frühere SPD-Mann Guido Reil wird nach seinem Übertritt zur AfD deren Arbeitnehmerlandesverband aufbauen. Reil rechnet mit weiteren Übertritten von Gewerkschaftern und Betriebsräten in die rechtsnationale Partei.

Von Markus Bensmann (correctiv.ruhr)

Während die Vorsitzende der AfD, Frauke Petry, ihre Partei öffentlich als völkische Vereingung positioniert und damit rechtspopulistisch verankert, wächst die AfD gerade auf dem linken Flügel. Denn die AfD hat einen Arbeitnehmerflügel. Das ist für viele neu.

Dieser Arbeitnehmerflügel nennt sich Alternative Vereinigung der Arbeitnehmer (AVA) in der AfD. Und diese Vereinigung setzt in NRW nun auf den Essener Bergmann Guido Reil.

Der Gewerkschafter und ehemalige Sozialdemokrat soll in NRW den Landesverband der AVA aufbauen. Und der SPD Wählerstimmen vor allem im Ruhrgebiet abjagen. Das bestätigte der AVA-Bundesvorsitzende Uwe Witt nun correctiv.org.

Fernsehen als Karriereschritt

Nach Reils Auftritt bei „hart aber fair“ am 5. November habe der Bundesvorstand der Arbeitnehmervertretung in der AfD den ehemaligen Sozialdemokraten mit der Gründung des Landesverbandes in NRW betraut, sagte Witt: „Unsere Mitglieder aus ganz Deutschland waren von Reil begeistert.“

Reil habe in der Talkshow  in der ARD die richtigen Themen angesprochen, sagte Witt. Anfänglich sah die AVA Reils Übertritt von der SPD zur AfD skeptisch. Er habe als möglicher Karrierist gegolten, der nur einen politischen Job wolle. Nun aber sei klar, dass man mit dem Bergmann den richtigen Mann in den Reihen der AVA habe, sagte Witt.

Reils Parteiübertritt aus der SPD in die AfD im Juli hatte bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. Der direkt gewählte Ratsherr aus Essen ist politisch im Norden von Essen, im Stadtteil Karnap, aktiv.

AfD für Arbeiter öffnen

Das Mitglied der Bergbaugewerkschaft IGBCE hatte sich Ende letzten Jahres mit der Parteiführung der SPD in Essen und NRW überworfen. Er hatte kritisiert, dass vor allem in den verarmten Norden der Ruhrgebietsstadt die Flüchtlingsheime kämen. 

Nun will Reil die AfD für die Arbeiter öffnen. Weitere Gewerkschafter und auch Betriebsräte hätten ihn kontaktiert,  sagte Reil correctiv.org. „Sie wollen in die AfD“.  Er werde den Landesverband der AVA aufbauen und dann für deren Vorsitz kandidieren, sagte Reil.

Für Witt von der AVA ist der Bergmann Reil ein wichtiges Zugpferd.

Inhaltlich habe die AVA in der AfD schon viel erreicht, sagt Witt. So konnte die AVA etwa den Mindestlohn im Parteiprogramm gegen den Co-Sprecher der AfD, Jörg Meuthen, und das Vorstandsmitglied Beatrix von Storch durchsetzen. Grundsätzlich vertritt die AfD in Wirtschaftsfragen neoliberale Thesen. Mit dem völkischen Flügel um den Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke aus Thüringen hat Witt wenig am Hut.

AVA macht Punkte

Im AfD-Wahlprogramm für die NRW-Landtagswahlen konnte die AVA ebenfalls Punkte machen. Die Forderungen nach einer Grundsicherung im Alter, nach einer verlängerten Bezugsdauer für das Arbeitslosengeld I und die Begrenzung der Werkverträge flossen auf Druck der AVA in das Landesprogramm der AfD von NRW. Nur bei der Begrenzung der Leiharbeit hätten sich die Arbeitnehmervertreter in NRW nicht durchsetzen können. „Da war die Lobby der Leiharbeitsfirmen zu stark“, sagte Witt.

Witt hat früher bei Thyssen gearbeitet, dann wurde er Personalchef bei einem mittelständischen Unternehmen und ist heute in der Behindertenbetreuung aktiv. Das AfD-Mann war früher Mitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes DGB. „Solidarität ist für mich wichtig“, sagte Witt. In der AfD wird Witt nach eigenen Worten als „Sozialist“ beschimpft.

Witt ist überzeugt, dass sich seine Positionen in der AfD durchsetzen werden. „NRW ist der stärkste Landesverband“, sagte Witt. Wenn sich hier die AVA-Thesen durchsetzen würden, könnte das die Bundespartei verändern.

Arbeiter bislang Außenseiter

Beim Verteilen der Machtposten in der AfD sind die Arbeitnehmervertreter unter Witt aber bisher schwach. Im westfälischen Werl wird dieses Wochenende die Kandidatenfindung der AfD für die kommende Landtagswahl fortgesetzt. Bisher waren Arbeitnehmervertreter nicht unter den gewählten Kandidaten. Es kommen Anwälte, Beamte oder Ärzte zum Zuge.

Bei dem bisherigen Stimmungsbild für die AfD gelten in NRW 30 Plätze als aussichtsreich. Die zwei AVA-Kandidaten Günther Koch und Horst Gilles wollten ihre Kandidatur erst ab Listenplatz 30 riskieren. Doch dann ging Gilles auf Risiko und kandidierte am Sonntag auf Listenplatz 22 gegen fünf Mitbewerber und scheiterte, der AVA-Schatzmeister bekam nur 12 Stimmen. 

Das war auch die letzte Wahl der zweiten Runde der Kandidatensuche in Werl am Sonntag. Die AfD-Delegierten in NRW müssen also nachsitzen. Bei der dritten Runde hätte dann auch der Bergmann Reil noch Chancen auf einen sicheren Listenplatz. Vermutlich soll die Wahlversammlung im November fortgesetzt werden, heisst es aus Parteikreisen. Bis dahin hätte Reil genug Zeit den AVA-Landesverband aufzubauen und Truppen zu sammeln.

Reil will mit einer Kandidatur für die Liste bislang bis zur dritten Wahlrunde im November warten. Der Bergmann plant allerdings bereits jetzt in Essen den Justizminister und den SPD-Vorsitzenden von Essen, Thomas Kutschaty, als Direktkandidaten herausfordern.

Im Tandem AVA und Reil könnte die AfD für das klassische Wählerpotenzial der SPD im Ruhrgebiet tatsächlich gefährlich werden. Allerdings läuft die Kandidatenfindung der AfD nicht nach Grundsätzen des möglichen politischen Erfolges. Wer auf einen aussichtsreichen Posten der Kandidatenliste kommt, bestimmen vor allem die Bezirkschefs, sagte ein Delegierter correctiv.org. Selbst der Landessprecher Marcus Pretzell kassierte letztes Wochenende bei der Wahl als Spitzenkandidat eine Demütigung. Er konnte sich nur mit knapp über 50 Prozent gegen einen blassen Gegenkandidaten durchsetzen.

Gerüchten auf dem Parteitag zufolge, plant Pretzell direkt neben Reil in Essen-Kray als AfD-Direktmandat anzutreten. Der Spitzenkandidat der AfD wollte correctiv.org auf der Wahlversammlung in Werl keine Auskunft geben. Allerdings würde das Gespann Reil und Pretzell in Essen Sinn machen, sagte ein AfD-Mitglied in Werl.

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Markus Bensmann ist Redakteur des Recherchezentrums CORRECTIV.RUHR. Die Redaktion finanziert sich ausschließlich über Spenden und Mitgliedsbeiträge. Ihr Anspruch: Missstände aufdecken und unvoreingenommen darüber berichten. Wenn Sie CORRECTIV.RUHR unterstützen möchten, werden Sie Fördermitglied. Informationen finden Sie unter correctiv (http://correctiv.ruhr).

Eine Frau für die AfD in NRW. Die rechte Partei geht mit nur einer Kandidatin unter den Top Ten in den Wahlkampf. Und gerade diese Kandidatin ist sehr speziell.

Iris Danielowski. Dokument der Kandidatenaufstellung. (screenshot: correctiv.ruhr)
Iris Dworeck-Danielowski. Dokument der Kandidatenaufstellung. (screenshot: correctiv.ruhr)

Die AfD-Politikerin Iris Dworeck-Danielowski aus Köln ist die bisher einzige Frau, die es bei der Wahlversammlung der AfD auf einen Listenplatz geschafft hat. Sie kommt von ganz Links. Die Kölner Heilpraktikerin begann ihre politische Karriere in der PDS.

von Marcus Bensmann (correctiv.org)

Die AfD steht für ein klassisches Familienbild. Bei der Nominierung der ersten zehn Kandidaten für den NRW-Landtagswahlkampf letzte Woche blieb sich die Partei treu. Nur eine Frau hat es bisher auf die Liste geschafft. Iris Dworeck-Danielowski aus Köln konnte am letzten Sonntag in Soest den zehnten Platz ergattern. An diesem Wochenende wird die Kandidatensuche in Werl fortgesetzt. Die ersten 30 Plätze gelten als aussichtsreich, um in den Landtag einzuziehen, falls die AfD über fünf Prozent kommt.

Die Nominierung der Kandidaten für diese Plätze verläuft zäh. Es geht um viel Geld. Ein Landtags-Abgeordneter bekommt im Jahr knapp 120.000 Euro brutto und dazu kommen noch rund 48.000 Euro für Mitarbeiter. In der gesamten Wahlperiode kommt ein Abgeordneter so auf weit über 500.000 Euro an privaten Einnahmen.

Die Aussicht auf diese Fleischtöpfe macht die 400 AfD-Delegierten auf der Wahlversammlung in NRW unberechenbar. Selbst der bundesweit bekannte NRW-Sprecher Marcus Pretzell schrammte letzten Samstag für die Spitzenkandidatur an einer Niederlage vorbei und erhielt gegen einen blassen Gegenkandidat nur knapp über 50 Prozent.

Die 38jährige Dworeck-Danielowski hat es aber nun geschafft. Sie ist auf einem aussichtsreichen zehnten Platz der Landesliste und kann damit rechnen, ab dem nächsten Jahr über 500.000 Euro zu verdienen.

Dworeck-Danielowski vertritt in einer internen Kandidatenvorstellung ein rückwärtsgewandtes Familienbild. Sie sagt, sie sei gegen „Quoten“. Für die AfD sei sie „sofort Feuer und Flamme“ gewesen. Diese sei „endlich eine Partei, die sich gegen die Gleichstellungspolitik und für echte Gleichberechtigung einsetzt.“ Die parteiinterne Kandidatenvorstellung liegt correctiv.org vor.

Der politische Hintergrund der Heilpraktikerin und „Fachfrau für Versicherungen“ ist schillernd. Sie kommt von ganz links. Von 1994 an war sie nach eigenen Angaben zwei Jahre lang Mitglied bei der PDS. So hieß die Linkspartei in NRW damals im Westen. Im Kommunalwahlkampf 2014 entschied sie sich dann für die AfD.

Die verheiratete Frau und Mutter zweier Kinder ist überzeugt, dass die AfD „sich für Familienförderung, besonderes kinderreicher Familien“, einsetzt. Mit dem Parteiprogramm ist diese Aussage nicht wirklich in Übereinstimmung zu bringen – zumindest dann, wenn beide Elternteile berufstätig sind. Im Programm wettert die AfD gegen Krippenbetreuung. Es heißt dort: Die „AfD fordert daher, dass bei unter Dreijährigen eine Betreuung, die Bindung ermöglicht, im Vordergrund steht. Die Krippenbetreuung darf nicht einseitig staatlich bevorzugt werden.“

Zu ihren Stärken zählt Dworeck-Danielowski ihr „sprachliches Geschick” und ihre „Kommunikationsstärke“. Sie schreibt: „Die Parlamente sind voll von Frauen, die durch Quoten ihre Mandate erlangt haben und die lediglich am Kuchen der männlichen Macht beteiligt werden wollen.“ Das Land brauche stattdessen Frauen, die das Mutterbild mit Hingabe repräsentieren.

Dworeck-Danielowski schreibt, sie habe die „Fähigkeit mit Charme und Intellekt Menschen für meine Interessen bzw. die Interessen meines Arbeitgebers oder die Interessen unserer Partei zu gewinnen.“ Nach eigenen Angaben ist Dworeck-Danielowski seit 10 Jahren für einen Versicherungskonzern im Direktvertrieb tätig.

Im AfD-Bezirk Köln ist Dworeck-Danielowski bisher stellvertretende Vorsitzende, zuvor war sie dort als Pressesprecherin tätig.

Mit der Presse reden, mag sie aber offenbar nicht. Correctiv.org hat vergeblich versucht, die Landtagskandidatin zu erreichen. Auf der Webseite des Kreisverbandes Köln steht keine Telefonnummer. Auf Emails haben weder Dworeck-Danielowski noch der Vorstand des Bezirks Köln reagiert; und auch die Pressesprecherin der AfD in NRW, Renate Zillessen wollte auf Nachfrage keine Telefonnummer nennen und verwies stattdessen auf die Emailadresse, über die keine Reaktion kam.

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Der Autor ist Redakteur des Recherchezentrums CORRECTIV.RUHR Die Redaktion finanziert sich ausschließlich über Spenden und Mitgliedsbeiträge. Ihr Anspruch: Missstände aufdecken und unvoreingenommen darüber berichten. Wenn Sie CORRECTIV.RUHR unterstützen möchten, werden Sie Fördermitglied. Informationen finden Sie unter correctiv (http://correctiv.ruhr).

AfD-NRW: Die gespaltene Partei. Ein Schaukampf der völkischen Patriotischen Plattform zeigt, wie zerrissen die rechte Bewegung in NRW ist.

Thomas Matzke hat den Widerstand gegen Pretzell organisiert. Er wird im nächsten halben Jahr eine wichtige Rolle in der AfD spielen. (foto: Markus Bensmann (correctiv.ruhr) )
Thomas Matzke hat den Widerstand gegen Pretzell organisiert. Er wird im nächsten halben Jahr eine wichtige Rolle in der AfD spielen. (foto: Markus Bensmann (correctiv.ruhr) )

Marcus Pretzell ist Landeschef der AfD in NRW. Eigentlich wäre es normal, dass er mit großer Zustimmung als Spitzenkandidat seine Partei in den NRW-Wahlkampf führt. Doch Pretzell wird bei der Listenaufstellung düpiert. Gegen einen blassen Gegenkandidaten erhielt er nur knapp 50 Prozent der Stimmen. Die völkischen Rechten in der AfD hatten Widerstand organisiert.

Von Marcus Bensmann[1] (correctiv.ruhr)

Der Landesverband der AfD in NRW ist tief gespalten. Zum ersten Mal wurde das ganz deutlich bei der AfD-Landesversammlung, auf der an diesem und am kommenden Wochenende die Listenplätze für die Landtagswahl im kommenden Jahr verteilt werden sollen.

Der Landessprecher der AfD – so nennen sich die AfD-Parteichefs in den Ländern – Marcus Pretzell wurde nur mit knapp 53 Prozent der 403 Delegiertenstimmen auf den ersten Listenplatz für die kommende Landtagswahl gewählt. Er ist damit Spitzenkandidat und schon angeschlagen. Für das knappe Ergebnis machte Pretzell später AfD-Politiker aus dem Bund verantwortlich, die seine Kandidatur hintertrieben hätten. Er nannte keine Namen.

Die Listenwahl der AfD in NRW wird an diesem Wochenende in Soest und am nächsten Wochenende in Werl fortgesetzt. Die ersten 30 Plätze gelten als aussichtsreiche Startnummern für ein Landtagsmandat, wenn die AfD in NRW über fünf Prozent kommen sollte.

Der organisierte Denkzettel
Das knappe Ergebnis für Pretzell lässt sich nicht mit einem starken Gegenkandidaten erklären. Thomas Röckemann war der Konkurrent um die Spitzenkandidatur. Im Vergleich zu dem bundesweit bekannten Pretzell sprach Röckemann schwach. Der frühere Polizeibeamte und heutige Anwalt aus Minden hielt einen stockenden Vortrag, dessen Pointen verpufften. Er bekam lediglich spontane Zustimmung als er die Antifa attackierte, die vor dem Kongresszentrum in Soest demonstrierte.

Ein zweites Mal wurde der Anwalt Röckemann beklatscht, als er den Grund erklärte, warum beide Sprecher der Jungen Alternative für Pretzell seien. Die beiden jungen Alternativen seien entweder bei Pretzell oder bei dessen momentaner Lebensgefährtin beschäftigt – der Bundeschefin der AfD Frauke Petry. Eine Anspielung auf Vetternwirtschaft in der AfD.

Allerdings blieb der Applaus für Röckemann trotz dieser Pointen im Gegensatz zu Pretzell sehr bemüht.

Doch Pretzell hatte auch so genügend Gegner am äußersten rechten Rand. Der Vorsitzende der AfD im Kreis Rhein-Sieg, Thomas Matzke, organisierte im Saal und auf den Gängen die Stimmung gegen Pretzell. Er habe gehört, dass Pretzell gesagt haben soll, er sei kein Patriot, sagte Matzke bei einer Raucherpause im Innenhof des Kongresszentrums. „Ich mag keine Politiker,  die sich nicht als Patrioten bezeichnen“, so Matzke.

Hin und wieder kam ein stiernackiger Mann mit Glatze zu Matzke, reichte ihm Zettel in die Hand und raunte dem Kreisvorsitzenden aus Rhein-Sieg etwas ins Ohr. Matzke überlässt nichts gerne dem Zufall. „Ich führe Dossiers“, sagt Matzke einem Parteimitglied bei der Raucherpause. Er könne organisieren und betreibe Politik „systematisch.“

Matzke gehört der Patriotischen Plattform an und bewundert den völkischen Rechtsaußen der AfD aus Thüringen, Björn Höcke. Dessen jährliche Treffen auf dem Kyffhäuser sind für Matzke nach eigenen Worten Pflichttermine.

Die völkischen Patrioten in der AfD
Die Patriotische Plattform, zu der Matzke gehört, ist ein Netzwerk von AfD-Politikern, die für eine „Zusammenarbeit“ mit der Identitäten Bewegung werben. Letztere gilt als rechtsextrem und wird vom Verfassungsschutz beobachtet. Auf der Internetseite „Patriotische Plattform“ schrieben Mitglieder des rechten Flügels der AfD erst vor wenigen Wochen unter der Überschrift „Wir sind Identitär“: „Wir wünschen uns eine engere Zusammenarbeiten zwischen Identitärer Bewegung und AfD, denn auch die AfD ist eine identitäre Bewegung und auch die Identitäre Bewegung ist eine Alternative für Deutschland.“

Die Identitäre Bewegung glaubt an den völkische These vom “großen Austausch”, wonach finstere Kräfte gezielt die Völker Europas und Deutschlands durch Einwanderung aus islamischen Gebieten vernichten wollen. Der Bundesvorstand der AfD hat eine  Zusammenarbeit mit der Identitäten Bewegung ausgeschlossen.

Nach eigenen Worten hält sich der AfD-Rechtsaußen aus Rhein-Sieg Matzke zwar an den Beschluss des Bundesvorstandes, aber er ist dagegen, Bewegungen zu verdammen, sagt Matzke.

Mehrere Delegierte auf dem Parteitag sagten, Matzke habe die Fäden für die Kandidatur des blassen Anwalts Röckermann gegen Pretzell gezogen. Dabei ging es offenbar nicht um einen Sieg Matzkes, sondern darum Pretzell einen Denkzettel zu verpassen.

Vor der Wahl des Spitzenkandidaten sagte Matzke, selbst wenn Pretzell mit knapp 60 Prozent die Stichwahl gewinnen würde, sei dies ein Beleg, dass der Landesverband gespalten sei. Daran sei Pretzell schuld, weil er nicht alle Strömungen der Partei einbinden würde. Bei der Wahl für die Spitzenkandidatur erhielt Pretzell nur knapp über 50 Prozent.  Der Plan des Höcke-Verehrers Matzke ist aufgegangen.

Neben Pretzell war in Soest häufig AfD-Bundesschefin Petry zu sehen. Nach dem knappen Sieg sagte sie, es gäbe keine inhaltliche Differenz zum Rechtsaußen der Partei Björn Höcke – man würde sich lediglich in der Rhetorik unterscheiden.

In seiner Antrittsrede nach der Wahl zum Spitzenkandidaten der AfD in NRW wetterte Pretzell vor allem gegen Flüchtlinge. Abgelehnte Flüchtlinge, die nicht in ihre Heimatländer zurückgebracht werden könnten, sollten auf eine Insel deportiert werden.

In NRW sah Pretzell „Verfall“ und „Verwesung“. Ideen, wie er es besser machen könnte, hatte er nicht. Seine wenigen konkreten Vorschlägen drehten sich um alte Hüte. Infrastruktur und Datennetze sollten ausgebaut werden.

Arbeitnehmervertreter schwach
Die wenigen Arbeitnehmervertreter in den Reihen der AfD konnten den Machtkampf zwischen Röckermann und Pretzell lediglich beobachten.

Der Bergmann und ehemalige Sozialdemokrat aus Essen Guido Reil will erst morgen entscheiden, ob er für einen Listenplatz kandidieren wird. „Das Ergebnis für Pretzell war recht knapp“, sagt Reil, der auch Mitglied der Bergarbeiter-Gewerkschaft IGBCE ist. Seine Chancen bei den Delegierten stehen schlecht.

Am Morgen hatten vor dem Kongresszentrum in Soest über 100 Menschen demonstriert. Ein Bündnis aus SPD, Linken, Grüne und DGB hatten zu einer Gegendemo aufgerufen.

Der DGB-Vorsitzende von Soest Holger Schild kann nicht verstehen, dass überhaupt Gewerkschafter zur AfD gingen. Sollte der Übertritt von Reil kein Einzelfall bleiben, „müssen wir uns eine Strategie“ überlegen, sagte Schild.

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[1] Der Autor ist Redakteur des Recherchezentrums CORRECTIV.RUHR. Die Redaktion finanziert sich ausschließlich über Spenden und Mitgliedsbeiträge. Ihr Anspruch: Missstände aufdecken und unvoreingenommen darüber berichten. Wenn Sie CORRECTIV.RUHR unterstützen möchten, werden Sie Fördermitglied. Informationen finden Sie unter correctiv.ruhr