Es ist wieder soweit. Halbjahreszeugnisse: Noten ohne Not

Unser Autor Detlef Träbert  fordert eine humane Schule.
Unser Autor Detlef Träbert fordert eine humane Schule.

Immer, wenn die Zeugnistermine vor der Tür stehen, weisen (schul-) psychologische Beratungsstellen auf ihr Zeugnis-Sorgentelefon hin. Ist das nicht verrückt?

(WENN IHR KIND MIT DEN NOTEN NACH HAUSE KOMMT:  Zehn Tipps für Eltern  )

Die Bildungspolitik hat festgelegt, dass allen Schülerinnen und Schülern fast überall in Deutschland ab dem dritten Schuljahr Noten und zweimal im Jahr Zeugnisse erteilt werden. Diese Praxis löst regelmäßig Ängste, Tränen und Panikreaktionen in einem solchen Ausmaß aus, dass psychologische Hilfe vonnöten ist – und die Nöte sind groß! Es muss ja nicht immer gleich ein Weglaufen oder gar ein Suizidversuch sein, was zur Zeugniszeit häufiger passiert als sonst im Jahr. Dass sich eine Sechstklässlerin stundenlang in der Schultoilette einsperrt, weil sie angesichts ihres Zeugnisses Angst vor den Reaktionen ihrer Eltern hat, war nicht das einzige Erlebnis dieser Art in meiner Zeit als Lehrer.

Nötigung durch die Noten

Liegt es also an den Eltern, wenn Noten und Zeugnisse derart angstbesetzt sind? Aus der Beratungsarbeit mit Müttern und Vätern weiß ich, dass viele von ihnen selber in großer Not sind. Sie möchten alles richtig machen und dem Kind eine gute Zukunft ermöglichen. Gerade darum reagieren sie auf Zensuren, die schlechter als erwartet ausfallen, häufig im Stress – also tendenziell eher unvernünftig. Der Schulerfolg gilt Eltern nun einmal als Schlüssel für eine sichere Zukunftsperspektive – und der wird in Noten gemessen.

Dabei sind Noten als Messinstrument für Lernleistungen denkbar ungeeignet. Wenn man mit einem Maßband beispielsweise die Weite eines Sprungs misst, kann man es zehn Mal anlegen und liest stets das gleiche Ergebnis ab. Noten hingegen sind wie ein Gummiband als Messinstrument; jedes Mal gibt es ein anderes Resultat. Das liegt längst nicht nur an vermeintlichen und tatsächlichen Ungerechtigkeiten der Lehrerinnen und Lehrer, sondern vor allem an systembedingten Messfehlern. Karlheinz Ingenkamp hat schon vor über 40 Jahren wissenschaftlich nachgewiesen, dass unser schulisches Berechtigungswesen mit seinen Übergängen und Abschlüssen auf der Basis von Noten äußerst fehlerhaft ist. „Die Fragwürdigkeit der Zensurengebung“ hieß sein berühmt gewordenes Buch, das erhebliche Benotungsfehler für alle Fächer nachwies, auch die mathematisch-naturwissenschaftlichen.

Trotzdem gibt es Noten und werden Zukunftsentscheidungen auf ihrer Grundlage getroffen. Eltern und Kinder unterwerfen sich notgedrungen, also von der Not gedrängt, diesem fehlerhaften System, das in keinem europäischen Land so früh praktiziert wird wie bei uns. Es behindert übrigens auch die Entfaltung demokratischer Grundtugenden wie der freien Meinungsäußerung, denn oft genug beißen sich Kinder wie Eltern aus Angst vor negativen Folgen für die Noten lieber auf die Zunge, anstatt sich konstruktiv-kritisch am Schulleben zu beteiligen.

Auch Lehrerinnen und Lehrer sind längst nicht alle glücklich mit den Ziffernzensuren, weil sie merken, dass ihre pädagogische Arbeit durch sie behindert wird. Wie soll man Menschen auf der Basis von Vertrauen beratend helfen, wenn man gleichzeitig für ihre Beurteilung und Zukunftschancen zuständig ist? Genau das ist es ja, was im aktuellen Film „Frau Müller muss weg“ Eltern dazu veranlasst, die Lehrerin ihrer Kinder „abzuschießen“.

Die Noten müssen weg

Was wir stattdessen beseitigen sollten, ist das schulische System der Leistungsbeurteilung mit Noten, zumal es längst sinnvollere und praktikable Alternativen dazu gibt. Die Erfüllung der heutigen kompetenzorientierten Lehrpläne beispielsweise wird an immer mehr Schulen mit so genannten Kompetenzrastern überprüft, die wesentlich detaillierter als Zensuren Auskunft darüber geben, was die Schüler hinsichtlich der vorgegebenen Lernziele schon erreicht haben und woran genau sie noch arbeiten sollten. Verschiedenste Verfahren des Eigen-Feedback wie Lerntagebuch, Portfolio u.a.m. werden zusammen mit dem Lehrer-Feedback praktiziert, um das Lernbewusstsein der Kinder zu fördern. Mit solchen Methoden wird das Lernen zu „ihrem Ding“ – Motivationsprobleme treten seltener auf, wie die Erfahrungen aus derart arbeitenden Schulen zeigen.

Die bislang übliche Art der schulischen Leistungsbeurteilung hingegen fördert die Entmutigung vieler Kinder und Jugendlicher. Sie lernen nicht mit Freude, weil Lernen für Noten, ohne Interesse an der Sache, auf Dauer eine ziemlich freudlose Angelegenheit ist. Schule behindert also den Erfolg ihrer Unterrichtsarbeit ungewollt selbst. Und eines kann sie mit Noten ganz gewiss nicht leisten, was man dennoch von ihr verlangt: Inklusion. Der Verschiedenheit aller Kinder und Jugendlichen wird man einfach nicht gerecht, wenn man sie alle am gleichen Maßstab misst.

Tipps (nicht nur) für den Zeugnistag

Doch noch erhalten unsere Kinder Noten und Zeugnisse. Können wir dann wenigstens etwas gegen ihre Angst tun? Als Eltern ganz gewiss, zumal, wenn wir uns der Tatsache bewusst sind, dass Zensuren kaum Aussagekraft besitzen.

Allerdings lösen sie Emotionen aus – auch bei Eltern, aber zunächst einmal beim Kind. Deswegen braucht es Eltern, die seine Gefühle ernst und vor allem annehmen. Das bedeutet, ihm seine Angst nicht auszureden („Du brauchst doch keine Angst zu haben!“), sondern es sie mitteilen zu lassen. Wenn Eltern anteilnehmend darauf eingehen, kann es seine Gefühle verarbeiten und eher überwinden.

Das gilt auch für Ärger. Statt einem „Das ist doch nicht so schlimm!“ hilft es eher, verstehend mitzufühlen. Dabei sollte man allerdings nicht Partei ergreifen, wenn der Ärger beispielsweise der „ungerechten Lehrerin“ gilt. Das reine Verständnis im Sinne von „Ich merke, wie sehr Du Dich ärgerst“ genügt, um das Kind nach und nach aus dem Ärger eine konstruktive Perspektive zur Situation entwickeln zu lassen.

Die gleiche elterliche Haltung gilt auch für positive Emotionen wie Freude. Ist beispielsweise die Note in Deutsch gut ausgefallen, wäre ein Kommentar wie „Jetzt musst du halt auch noch in Mathematik besser werden!“ ausgesprochen niederschmetternd. Aufbauend hingegen ist ganz einfach uneingeschränktes Mitfreuen.

Wichtiger als die Noten ist es allemal, dass ein junger Mensch neugierig ist und mit Freude daran arbeitet, seinen Fragen nachzugehen, Antworten zu suchen, sich Fähigkeiten anzueignen, die im Leben weiterhelfen. Viele Erwachsene haben selbst erfahren, dass nach dem Schul- oder Studienabschluss ihre Noten kein Thema mehr waren. Motivation und Engagement hingegen sind Eigenschaften, die für ein glückliches und erfolgreiches Leben nie unwichtig werden, ob beruflich oder privat.

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Der Bundesverband Aktion Humane Schule e.V. gibt die Zeitschrift „Humane Schule“ heraus. Das aktuelle Heft mit dem Themenschwerpunkt „Die Not mit den Noten“ (40. Jg., Dez. 2014, 32 S.) kann zum Preis von € 5,- zzgl. Versand bestellt werden bei:

Bundesverband Aktion Humane Schule e.V.
Geschäftsstelle: Dutzendteichstr. 24 – 90478 Nürnberg
E-Mail: ahs@aktion-humane-schule.de
Tel.: 09 11 / 98 03 45 84
Internet: www.aktion-humane-schule.de

Zeugnis – Was tun bei schlechten Noten?

„Zeugnis – Was tun bei schlechten Noten?“, fragt Anja Schimanke auf der Website des Schulministeriums NRW den Pädagogen Detlef Träbert*** sowie den Schulpsychologen Andreas Heidecke.

Alle Eltern, die mit den Zeugnisnoten ihrer Kinder unzufrieden sind, sollten sich die Zeit nehmen, die Antworten der beiden Experten zumindest durchzulesen, bevor sie falsche oder unsinnige Maßnahmen  androhen oder ergreifen.

Ärger wirke beispielsweise demotivierend, das Kind erlebe sich als Auslöser dieser elterlichen Reaktion, habe Schuldgefühle und in der Konsequenz keine Hoffnung auf Erfolge in der Schule.

„Druck erzeugt Angst und Angst blockiert das Gehirn. Wenn Eltern ihren Ärger über schlechte Noten kundtun und Druck ausüben, bringen sie ihr Kind in eine ausweglose Situation, denn es hat keine Strategie, wie es da wieder herauskommt. Dadurch werden die Noten nicht besser. Und die Beziehung zwischen Eltern und Kind leidet!“, so Detlef Träbert.

Die Eltern sollten sich vielmehr als Unterstützer und Helfer ihrer Kinder sehen.

Andreas Heidecke: „Eltern können ihr Kind begleiten, indem sie sich beispielsweise die Klassenarbeiten zeigen lassen und konkret fragen: „Wie kann ich dir helfen?“ Erst wenn das Kind keine Idee hat, sollten Eltern einen Vorschlag machen.“

Wie das gehen soll, wird ausführlich und anregend erklärt. Wem das nicht reicht, der findet am Ende des Interviews sowohl die Beratungsstellen des schulpsychologischen Dienstes als auch die Beratungstelefone der Bezirksregierungen:

Arnsberg: 02931 82 3330, Mo. bis Do. 8:30 – 16:30 Uhr, Fr. 13:30 – 15:30 Uhr

Detmold: 05231 71 48 48, 13. bis 16. Juli, Mo. bis Fr. 8:00 – 16:00 Uhr

Düsseldorf: 0211 475 4880, 9. Juli, 12. bis 14. Juli, 8:00 – 16:00 Uhr

Köln: 0221 147 2000, 12. bis 16. Juli, 9:00 – 15:00 Uhr

Münster: 0251 411 4113, Mo. bis Fr. 8:00 – 16:00 Uhr
Zum Schluss die gute Nachricht zu Ferienbeginn: „Schulprobleme löst man in der Schulzeit! Und Ferien sind Ferien!“

*** Detlef Träbert dürfte aufmerksamen Leserinnen und Lesern unseres Blogs kein Unbekannter sein. Er ist Autor einiger pädagogischer Artikel und Aphorismensammlungen zu kulturpolitischen Themen.

Umleitung: Zeugnisse, Bildung, Darwin, Auschwitz, Krieg in Syrien und die Marotten im Journalismus.

Winter in Bigge an der Ruhr (foto: zoom)
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Zeugnisausgabe in NRW: Schule nun doch wieder nach der dritten Stunde aus.

Geschwister-Scholl-Gymnasium Winterberg (archivfoto: zoom)
Zeugnisse in der 3. Stunde und dann nix wie weg? (archivfoto: zoom)

Freitag, der Dreizehnte war ein Glückstag für die LehrerInnen und SchülerInnen im Bundesland Nordrhein-Westfalen. Ihnen wurden drei Stunden Unterricht erlassen, die ihnen das Schulministerium am 13. Oktober 2011, einem Donnerstag, geklaut hatte.

Na, ja – nicht wirklich geklaut, sondern nur als Option auf den Tag der Zeugnisausgabe.

Trotzdem:

Was war das für eine Aufregung landauf und landab. Die Schule in NRW sollte nach einem Beschluss des Schulministeriums auch am Freitag, dem 10. Februar, dem Tag der Zeugnisausgabe, bis zur 6. Stunde dauern, statt in der 3. Stunde mit der mehr oder weniger feierlichen Übergabe der Leistungsberichte zu enden.

Gestern, am Freitag, dem 13. Januar 2012, ruderte das Schulministerium zurück. Nach der 3. Stunde muss wie jedes Jahr mit vermehrtem Auftreten von SchülerInnen und LehrerInnen im Stadtbild gerechnet werden.

Auf Beamtendeutsch liest sich das so:

… der RdErl. d. Kultusministeriums vom 07.05.1985 zum Schulschluss am Tag der Zeugnisausgabe (BASS 12-64 Nr. 2) ist durch Erlass vom 13.10.2011 (ABl. NRW. 11/11 S. 620) hinsichtlich des Schulschlusses am Tag der Ausgabe der Halbjahreszeugnisse geändert worden.
Die Änderung erfolgte aufgrund einer Prüfungsbemerkung des Landesrechnungshofes im Zusammenhang mit dem Unterrichtsausfall an Schulen.
Zu dieser Erlassänderung sind relevante Hinweise und Anregungen bei mir eingegangen, die plausibel darlegen, dass die mit der Änderung beabsichtigte Reduzierung des Unterrichtsausfalls nur quantitativ, nicht jedoch qualitativ erreicht werden kann.
Daher wird die Erlassänderung vom 13.10.2011 mit sofortiger Wirkung rückgängig gemacht. Die ursprüngliche Regelung zum Schulschluss am Tag der Zeugnisausgabe, wie sie in der BASS 2011/2012 abgedruckt ist, wird – schon für die Ausgabe der Halbjahreszeugnisse 2011/2012 – wieder hergestellt.

Diese Nachricht geht doch, trotz der sperrigen Sprache, runter wie Honig, oder?

Morgen gibt es Zeugnisse in NRW ;-)

Manchmal findet mensch doch einen guten Kommentar zu den Artikeln der WAZ-Zeitungen in „Der Westen“.

Der Druck auf Viertklässler und ihre Erziehungsberechtigten ist durch die verbindlichen Grundschulgutachten gestiegen. Streng genommen ist der Druck auf die Drittklässler gestiegen, denn im letzten Halbjahr der Dritten Klasse entscheidet sich hier in NRW meist wie die Empfehlung der Grundschullehrerin Mitte der Vierten Klasse aussehen wird.

Doch nun zum Kommentar (Hervorhebungen von mir): „Morgen gibt es Zeugnisse in NRW ;-)“ weiterlesen