Der Jüdische Friedhof Winterberg: erschütternd ungepflegt

Das, was der Sauerländer gemeinhin Unkraut nennt, wächst üppig auf dem Jüdischen Friedhof in Winterberg. (foto: zoom)

Nachdem ich gestern den wunderbar restaurierten und gepflegten Jüdischen Friedhof in Willebadessen und vor einiger Zeit ebenfalls den Jüdischen Friedhof in Olsberg-Bigge besucht hatte, bin ich heute Abend kurz zum Jüdischen Friedhof in Winterberg gefahren.

Für ein geplantes Projekt wollte ich die Grabsteine fotografieren. Um es kurz zu halten: ich war entsetzt über den ungepflegten Zustand der Anlage.

Ich frage mich, wer für diesen Zustand verantwortlich ist.

Im Gesetz steht:

„Das Land fördert weiterhin neben den Leistungen nach Artikel 1 eine der jüdischen Tradition entsprechende Erhaltung und Pflege der geschlossenen jüdischen Friedhöfe in Nordrhein-Westfalen.“

Das heißt nach meiner Lesart, es fließen Gelder für die Pflege des Jüdischen Friedhofs in Winterberg.

Sind die Gelder jetzt, Mitte des Jahres, schon aufgebraucht, sodass trotz Dürre das Kraut in eine derartige Höhe schießen kann?

Oder ist es einfach nur geschichtsvergessene Schlampigkeit?

Ergänzung:

„Kultusministerkonferenz
Bericht und Empfehlungen zur Erhaltung und Pflege jüdischen Kulturguts in Deutschland

[…]

2. Pflege jüdischer Friedhöfe
Die Friedhöfe der ehemaligen jüdischen Gemeinden in Deutschland bedürfen einer ständigen Pflege und Betreuung. In den alten Ländern wird diese Betreuung auf der Grundlage einer Absprache zwischen Bund, Ländern und Vertretern jüdischer Organisationen in Deutschland vom 21.6.1957 durchgeführt. Die Mittel für die Betreuungs- und Pflegemaßnahmen werden nach dieser Absprache vom Bund und von den Ländern je zur Hälfte aufgebracht. Nach dem Inhalt der Absprache müssen die Betreuungsmaßnahmen den religiösen Überzeugungen und der jahrtausendealten Tradition des Judentums Rechnung tragen.

Danach ist der jüdische Friedhof eine Stätte der Totenruhe. Die Ruhe der Toten gilt als unantastbar. Der jüdische Friedhof muß daher als eine in die Landschaft eingefügte Gesamtheit dauernd erhalten bleiben. Dazu gehören nach der erwähnten Absprache:

Erhaltung einer sicheren Einfriedung mit verschließbarem Tor, ordnungsmäßige Unterhaltung der Zugangswege und der Hauptwege auf dem Friedhof, regelmäßiges Schneiden des Grases und Beseitigung des Unkrautes. Umgefallene Grabsteine sind wieder aufzurichten. Eine individuelle Pflege des Einzelgrabes bleibt den Angehörigen des Verstorbenen bzw. den zuständigen jüdischen Stellen überlassen. Einzelfragen sind in Verbindung mit den zuständigen jüdischen Stellen zu klären.“

[…]

Quelle: http://www.dnk.de/_uploads/media/218_1996_KMK_juedKulturgut.pdf

Ich wollte zum zehnten Blog-Geburtstag Schmetterlinge und bekam eine Lehrstunde in Geschichte

Einstieg in den Schmetterlingspfad bei Willebadessen (foto: zoom)

Das Blog ist am 5. August 2008 „auf Sendung gegangen“. Am zehnten Geburtstag wollte ich einfach irgendwohin, wo ich noch nicht war. Mein Finger senkte sich auf der Landkarte über Willebadessen: Schmetterlingspfad.

Ein Kollege hatte mir den Ort empfohlen.

Makroobjektiv auf die Spiegelreflex geschraubt, Kompaktkamera in die Hosentasche gesteckt und neunzig lange Autominuten in den Osten des Regierungsbezirks Detmold gejückelt.

Google Maps hat mich exakt auf den Parkplatz vor dem Schmetterlingsschild dirigiert. Die Lieblingsblüten der Schmetterlinge waren verblüht. Hier und da flatterte ein Bläuling und ab und zu auch ein Weißling unruhig aus dem Bildfeld heraus. So sind sie. Gerade, wenn du sie scharf im Fokus hast, wenn die VR (Vibration Reduction) nicht mehr pumpt, sind sie weg.

Einen Vertreter habe ich halbwegs akzeptabel erwischt, auch wenn der hintere Flügel schärfer abgebildet ist als der vordere. Was soll’s. Im nächsten Jahr komme ich wieder, besser im Juni.

Ich nenne ihn Bläuling, solange bis ich im Bestimmungsbuch für Schmetterlinge nachgeschaut habe. (foto: zoom)

Nachdem ich lange auf der Hochfläche zwischen Windrädern und Scheunen umher geirrt war, einen Bauern mit Heuballen zwei Mal getroffen und zwei Mal gegrüßt hatte, wollte ich frustriert zurück zum Parkplatz. War’s das schon mit dem Schmetterlingspfad?

Zehn Jahre Blog und gerade mal ein Bläuling. Ein älteres Ehepaar kam mir entgegen. Ja, im Grunde wäre es das, aber man könne noch eine Runde gehen. Wieder ein Stück zurück und dann …

… am jüdischen Friedhof vorbei zurück zum Parkplatz.

Der jüdische Friedhof in Willebadessen (foto: zoom)

Das Ehepaar war eine wandelnde Geschichtsquelle, und nicht nur das. Sie haben, so erzählten sie mir, mit dafür gesorgt, dass der Friedhof heute so gepflegt aussieht, wie ich ihn vorgefunden und gesehen habe.

Julius Stern: Ein Grabstein. Ein Name, eine Geschichte (foto: zoom)

Eine spannende Erzählung, die mit einem unter Büschen verborgenen Grabstein begann und viele Nebengeschichten hervorgebracht hat. Die Familiengeschichte des Mannes. Seine eigene Betroffenheit. Seine Motivation sich als nach Willebadessen Zugezogener zu engagieren. Seine Verbindungen. Seine Quellen.

Als wir den Parkplatz erreichten, unterhielten wir uns schon über „Gott und die Welt“. Mir schwirrte der Kopf. Wir haben unsere Email-Adressen ausgetauscht.

Ich bin ziemlich sicher, dass dieser Blogeintrag der Beginn einer wunderbaren neuen Entdeckung ist und den vagen Andeutungen (s.o.) demnächst Fakten und Narrative folgen werden.

Eine solche Informationstafel fehlt beispielsweise an den jüdischen Friedhöfen in Winterberg und Olsberg. Vorbild Willebadessen. (foto: zoom)

Der Besuch in Willebadessen war ein schönes Geburtstagsgeschenk. Das Blog dankt.

Der jüdische Friedhof in Olsberg Bigge … ein Anfang

Der jüdische Friedhof in Olsberg-Bigge Ende Mai (foto: zoom)

Bis vor kurzem wusste ich nicht, dass es in Olsberg-Bigge einen jüdischen Friedhof gibt. Der Hinweis einer Olsberger Bürgerin („schwer zu finden, keine Hinweisschilder, im Gewerbegebiet vor HSK Duschkabinen links halten“) hat mich neugierig gemacht.

Gesucht. Gefunden. Nicht ganz leicht.

Der Friedhof liegt sehr gepflegt unter Bäumen, direkt neben der Umgehungsstraße. Wenn der Verkehrslärm nicht wäre, könnte man den Ort idyllisch nennen.

Ein Holzzaun, ein schmiedeeisernes Tor, etwas hakelig zu öffnen.

Ich schaue mich um, fotografiere die Grabsteine. Eine erste Internetrecherche verläuft recht dürftig.

Auf dem Wiki des Heimatbundes der Stadt Olsberg lese ich:

„Der Jüdische Friedhof, im Volksmund „Judenfriedhof“ genannt, wurde Ende des 19. Jahrhunderts angelegt. Der Friedhof wurde ausgelegt für 10 Familien. Bis dahin wurden die Toten der jüdischen Gemeinde aus Bigge, Olsberg und Assinghausen in Brilon beerdigt worden.
Das Grundstück ist damals von jüdischen Familien gespendet worden und in der Flurbereinigung 1903 – 1906 an die jüdische Synagogengemeinschaft Bigge übergegangen.
Die Grabsteine sind teilweise noch gut erhalten, einige Schriften lassen sich noch gut lesen, teilweise in hebräischer und deutscher Schrift.
Die ehemals vorhandenen Grabplatten sind spurlos verschwunden.

Die ältesten Gräber datieren von 1895 . Die letzte Beerdigung fand 1935 statt.

Heutiger Besitzer ist die jüdische Gemeinde in Dortmund“

Die Projektseite namens „Vile“ bietet als Text lediglich einen kurzen Absatz („Der Friedhof datiert von 1873, liegt am Ortsausgang neben einer Bundesstrasse. Es sind noch 25 Grabsteine vorhanden.“), darüber hinaus aber 15 Fotos, die den Friedhof und seine Umgebung recht authentisch abbilden.

Das Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland listet zwar den jüdische Friedhof Olsberg-Bigge auf, es sind dort aber keine Informationen hinterlegt/verlinkt.

Im „Strunzerdaal 14“ von 1995 ist (nach bibliografischen Angaben) ein Artikel von Paul Schikora und Heinz Lettermann mit dem Titel „Der jüdische Friedhof „Am Grümmeckeberge“ in Bigge“ erschienen. Dieses Heimatheft muss ich noch in die Hände bekommen.

Soweit erst einmal. Über das Internet komme ich zur Zeit nicht weiter.

Mein nächster Ansprechpartner wird der Heimatbund der Stadt Olsberg sein.

Winterberg: Der jüdische Friedhof

Heute habe ich zum ersten Mal seit ich im Hochsauerland wohne den jüdischen Friedhof in Winterberg besichtigt.

Gegenüber dem Aufgang zum Friedhof
Gegenüber dem Aufgang zum Friedhof

Der Aufgang zum Friedhof befindet sich am Ende der Wernsdorfer Straße, gegenüber dem ehemaligen „Müttergenesungsheim“, jetzt „Landhaus Fernblick“, in Trägerschaft der Arbeiterwohlfahrt(AWO).

Aufgang zum Friedhof
Aufgang zum Friedhof

Als ich die Treppen hochstieg war der Schnee noch ohne Trittspuren von Besuchern. Ich habe das Tor geöffnet und sah als erstes den Gedenkstein.

Die Gedenktafel
Die Gedenktafel

Ich habe versucht, einen Überblick zu gewinnen.

Zahl der Gräber: Sieben
Zahl der Gräber:Acht

In dem Moment als ich das Foto aufnahm, fuhr eine Pferdekutsche mit Touristen vorbei. Sie nahmen mich wahr. Daraufhin ging der Kutscher auf den historischen Ort ein: „Das da rechts ist der Judenfriedhof“, hörte ich mit halbem Ohr und die beiden Pferde klapperten samt Kutsche weiter über den Straßenasphalt Richtung Schmantel-Rundweg.

Schmantel: Blick Richtung Dumel
Schmantel: Blick Richtung Dumel

Es gibt nach meinem Eindruck keine hinreichende Geschichtsschreibung über die (ehemalige) jüdische Bevölkerung Winterbergs.

Daher zitiere ich hier einen Auszug aus dem Wikipedia-Eintrag zu Winterberg:

Der Beginn der Diktatur 1933 brachte das Ende der Demokratie und der kommunalen Selbstverwaltung sowie die Verfolgung der Juden in Winterberg. Erstmalig lässt sich eine jüdische Familie in Winterberg für das Jahr 1672 nachweisen. Sie ernährte sich von Schlachterei und vom Handel, nichts Ungewöhnliches in dieser Stadt. 1808 zwangen die Hessen die Juden, erbliche Familiennamen anzunehmen. Seit der Zeit war der übliche Name „Winterberger“. Im 19. Jahrhundert teilte sich die Familie in mehrere kinderreiche Zweige auf, von denen viele erfolgreiche Kaufleute waren.

Unter dem Druck der Nazis wurde 1937 der Verkauf der „Winterberger – Branntwein- und Liquörfabrik“ durchgeführt. Während der Sohn der Eigentümer in die USA auswandern konnte, wurden die Eltern im 2. Weltkrieg in Riga und im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig ermordet. Von einer zweiten Familie, die sich von einem Textilgeschäft ernährte, konnten die beiden Kinder vor Kriegsausbruch in der Schweiz und in Großbritannien in Sicherheit gebracht werden. Die Eltern jedoch wurden 1943 in Auschwitz umgebracht. Das Vermögen der Familie wurde „beschlagnahmt“ und „versteigert“. Eine dritte Familie, eine Jüdin und ihre halbjüdische Tochter, beide katholischen Glaubens, wurden 1944 in ein Arbeitslager verschleppt und haben den Krieg und die Verfolgungen überlebt. Von den überlebenden Juden „Winterberger“ ist keiner mehr zurückgekehrt.[14] Weitgehend verborgen liegt der jüdische Friedhof im Ostteil der Kernstadt.

Umbenannt
Umbenannt: seit 1808 „Winterberger

An dem oben zitierten Text fällt mir der fast durchgängige Gebrauch des Passivs auf.

Beispiel:

„Unter dem Druck der Nazis wurde 1937 der Verkauf der „Winterberger – Branntwein- und Liquörfabrik“ durchgeführt.“

Hier frage ich mich, wie dieser Druck in Winterberg ausgeübt wurde. Geschichte wird von Menschen gemacht.

Wer hat die Fabrik gekauft?

Auch der Ausdruck „durchgeführt“, der heute noch in der Beamtensprache quicklebendig ist, vernebelt die Wirklichkeit anstatt sie zu durchleuchten.

Wer führte, was, wann, aus welchem Grunde durch?

Alte, verwitterte Grabsteine
Alte, verwitterte Grabsteine

Statt Passiva können auch Gruppenzuschreibungen die Zusammenhänge verdunkeln.

Beispiel:

„1808 zwangen die Hessen die Juden, erbliche Familiennamen anzunehmen.“

Alle Hessen? Wie das?

Neue Grabsteine auf alten Gräbern
Neue Grabsteine auf alten Gräbern

Weiter mit den Passiva:

„Das Vermögen der Familie wurde „beschlagnahmt“ und „versteigert“.“

Wer beschlagnahmte und welche Personen versteigerten und ersteigerten die Vermögen?

Inschrift im Detail
Inschrift im Detail

„Von den überlebenden Juden „Winterberger“ ist keiner mehr zurückgekehrt.“

Sind ihre Spuren abgeschnitten? Gibt es sie noch? Wo leben sie oder ihre Nachfahren?

weitere Quellen bei der Universität Heidelberg:

 

Stadt Winterberg, Hochsauerlandkreis
ADRESSE: Wernsdorfer Strasse, am Berghang
BELEGUNGSZEIT: 2. Hälfte 19. Jahrhundert – 1935
GRABSTEINE: 8
DOKUMENTATION:
– 1994 durch Michael Senger (Belegungsliste, Belegungsplan)
– 2000 durch Dieter Peters (7 Fotos: Grabsteine und Friedhofsansichten)
VERÖFFENTLICHUNGEN:

– Geschichte in Westfalen-Lippe 1987, S. 77.
– Belegungsliste, Belegungsplan in Senger 1994, S. 383 – 384.

Sowie:

Nikolaus Schäfer: Juden in Winterberg, in: De Fitterkiste 4 (1992)