Nur etwa jede vierte Arztpraxis ist barrierefrei. Sozialheld*innen fordern lückenlose Gesundheitsversorgung für Menschen mit Behinderungen.

Sozialheld*innen Team 2021 ++ am 28.09.2021 in Berlin. ((c) Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de)

Zum internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen (3.12.) fordern die Sozialheld*innen die künftige Bundesregierung auf, einen barrierefreien Zugang zur Gesundheitsversorgung zu schaffen. Durch mangelnde Barrierefreiheit, fehlendes Wissen um seltene Erkrankungen und unzureichende Kommunikationsmöglichkeiten können Menschen mit Behinderungen noch immer die medizinische Grundversorgung nicht in vollem Umfang wahrnehmen. So sind laut einer Erhebung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung aus dem Jahr 2019 nur knapp 26 Prozent der hausärztlichen und fachärztlichen Praxen in Deutschland barrierefrei zugänglich. Von 1.365 gynäkologischen Arztpraxen wurden laut einer Studie der Universität Bielefeld sogar nur 6 Prozent als barrierefrei erfasst.

„Es ist wirklich kaum zu glauben, dass es im Jahr 2021 noch immer kein Gesetz gibt, dass das Gesundheitswesen sektorenübergreifend zur Barrierefreiheit verpflichtet“, kritisiert Inklusionsaktivist Raul Krauthausen. „Und wenn ich von Barrierefreiheit spreche, meine ich nicht, dass der Eingang zur Arztpraxis keine Stufen hat.“ Ein barrierefreier Zugang zu Gesundheit umfasse die Behandlung in verständlicher Sprache, verfügbare Gebärdensprachdolmetschung, flexible Untersuchungseinrichtungen und Personal, das im Umgang mit Menschen mit Lernbehinderungen und Mehrfachbehinderungen geschult ist, so Krauthausen weiter.

Die neue Regierung deutet im Koalitionsvertrag nur sehr vage an, dass sie das Problem der Gesundheitsversorgung für Menschen mit Behinderungen auf dem Schirm hat. Neben allerlei anderer Lebensbereiche wolle man das öffentliche und private Leben auch im Gesundheitsbereich barrierefrei machen. Wie und wann – darüber schweigt sich die neue Regierung leider aus.

Der einzige konkrete Bezugspunkt: ein Aktionsplan für ein barrierefreies Gesundheitssystem soll erarbeitet werden. „Wir brauchen nicht den 48. Aktionsplan zum Thema Gesundheit, wir brauchen Taten“, erklärt Constantin Grosch von den Sozialheld*innen. „Bis heute gibt es nicht einmal einheitliche Erhebungen und Standards, mit denen Informationen zur Barrierefreiheit von Arztpraxen für Menschen mit Behinderungen zur Verfügung gestellt werden. Das muss sich schleunigst ändern.“

Ihrem Motto „Einfach mal machen“ bleiben die Sozialheld*innen auch bei diesem Thema treu: Am 1. Dezember startete ein von der Robert Bosch Stiftung gefördertes Projekt, mit dem die Sozialheld*innen untersuchen, welche Informationen behinderte Menschen brauchen, um eine für sie geeignete haus- und fachärztlichen Praxis aufsuchen zu können. „Wir arbeiten daran, Standards für die Erfassung und Dokumentation von Barrierefreiheitskriterien in der Gesundheitsversorgung zu entwickeln, die sich an den Bedürfnissen der Patient*innen orientieren“, so Constantin Grosch. „Die neue Regierung muss dann dafür sorgen, dass es für Arztpraxen verpflichtend wird, Informationen über den barrierefreien Zugang zur Verfügung zu stellen. Und die Praxen müssen natürlich auch in der Lage sein, Menschen mit Behinderungen überhaupt adäquat versorgen zu können.“

Weitere Informationen:

„Gesundheit für alle“ – Webseite des Sozialheld*innen Projekts BarrierenBrechen: https://barrierenbrechen.de/gesundheit-fuer-alle

Pflaster & Co. für alle: Apotheken müssen barrierefrei sein: https://barrierenbrechen.de/wheelmapotheke

Über die Sozialheld*innen
Die Sozialheld*innen arbeiten seit über 15 Jahren an Lösungen für mehr Teilhabe und Barrierefreiheit. Sie verstehen sich als konstruktive Aktivist*innen, die sich mittels moderner Kommunikation und Technologien für eine bessere Welt für alle einsetzen. Dafür wurden sie unter anderem mit dem Deutschen Engagementpreis, dem Deutschen Bürgerpreis, dem World Summit Award, dem Smart Accessibility Award und dem Deutschen Nachhaltigkeitspreis ausgezeichnet.

Zehn Jahre UN-Behindertenrechtskonvention – Ist Deutschland rollstuhlgerechter geworden?

Barrierefreiheit im Friedrichstadt-Palast++ November 2017 in Berlin (Berlin). (c) Friedrichstadt-Palast, Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de

Vor zehn Jahren trat in Deutschland am 26. März 2009 die Behindertenrechtskonvention, die die Rechte von Menschen mit Behinderung verankert, in Kraft. Barrierefreie Zugänglichkeit zu schaffen ist darin eine wichtige Verpflichtung der unterzeichnenden Vertragsstaaten.

Die Berliner Sozialhelden, Betreiber der Online-Karte Wheelmap.org, haben verglichen, ob und wie sich die Rollstuhlgerechtigkeit der Orte auf Wheelmap.org in Deutschland in den letzten Jahren entwickelt hat. Sie wollten untersuchen, ob tatsächlich Verbesserungen eingetreten sind. Die Datenbasis dazu stellten die ca. 490.000 Bewertungen dar, die in Deutschland auf Wheelmap.org mithilfe der Community über die letzten Jahre zusammengekommen und stetig mehr geworden sind.

 

Wie schneiden die einzelnen Bundesländer ab? (Grafik: Sozialhelden)

Auch die Stadt Olsberg-Bigge ist in der Online-Karte von Wheelmap.org mit einigen mehr oder weniger behindertengerechten Geschäften, Gebäuden, öffentlichen Einrichtungen usw. verzeichnet. Das Josefsheim Bigge beherbergt eine große Zahl von behinderten Menschen, die hier zum Stadtbild gehören.

„Willst du dich für mehr Barrierefreiheit engagieren? Dann werde Wheelmap Botschafter oder Botschafterin! Hier findest du einige Vorschläge, was du als Botschafter*in tun kannst. Wir freuen uns aber natürlich auch, wenn du andere Ideen hast, wie du dich engagieren kannst. Melde dich einfach bei uns!“

Hier anmelden: https://news.wheelmap.org/wheelmap-botschafter/

Die Sozialhelden haben sich den aktuellen Stand in den Bundesländern und in den Landeshauptstädten angeschaut und verglichen, was es in den letzten fünf Jahren für eine Entwicklung auf Landesebene gab.

Der Anteil der rollstuhlgerechten Orte ist dabei nur leicht gestiegen.

Raul Krauthausen, Aktivist und Wheelmap.org-Gründer:

“Es ist schön, dass wir in den meisten Bundesländern einen positiven Trend sehen, aber Verbesserungen von durchschnittlich 6 Prozent innerhalb von 5 Jahren ist noch ausbaufähig. Hier müssen öffentliche Hand und Privatwirtschaft mehr Verantwortung übernehmen, um auch der UN-Behindertenrechtskonvention gerecht zu werden.”

Den vollen Beitrag, der Analyse samt Infografiken findet man unter https://news.wheelmap.org/10-jahre-un-brk-ist-deutschland-rollstuhlgerechter-geworden/

Darüber hinaus werden morgen auf dem Twitter- und Facebook-Kanal von Wheelmap.org Zahlen und Infografiken veröffentlichen.