Von Wahlkämpfern, reichen Frauen und Peco: Marion bei den Mexis, Teil 23

Dieser Artikel ist der 23. Teil einer persönlichen Serie über das Leben in Mexico und Mexico-City. Heute berichtet unsere Autorin über den Wahlkampf in Mexico, Lehrer, Epileptiker und reiche Frauen. Wir wünschen viel Spaß beim Lesen.

Hola a todos!

schmierig
Und bei diesem schmierig grinsenden Mann wird es bald keine Lehrerverträge mehr geben. Dafür aber umso mehr Privatisierungen. (fotos: koerdt)

Wahlkampf

Der PRI-Präsidentschaftskandidat Peña Nieto verspricht auf seinen Wahlplakaten Medizin für alle. Und keine Schulgebühren. Beide Versprechen stehen wohl im eklatanten Widerspruch zur Wirklichkeit.

Wenn er Präsident werde, hat er verkündet, werde er sämtliche Lehrerverträge aufkündigen. Seine Begründung: Viele Lehrkräfte seien für den Schuldienst überhaupt nicht qualifiziert. Dem kann man nicht direkt widersprechen.

Auf dem Lande werden Lehrerstellen wohl gerne vom Vater an den Sohn vererbt oder es wird einfach jemand vor die Klasse gestellt, der sich dafür bereit erklärt hat. Die Befürchtung aber ist: Peña Nieto will das Bildungswesen komplett privatisieren. Wie das ohne Gebühren gehen soll, ist mir schleierhaft.

Die Sache mit Paco

Und Medizin für alle? Die gibt es -jedenfalls in den Städten- bereits in gewisser Weise schon heute. Zum Beispiel bietet das „Centro Medico“ in der Innenstadt Epileptikern jeden Samstag eine kostenlose Beratung und Behandlung an. Warum ich das nun weiß, hat einen Hintergrund:

Unser informeller Hausmeister und Parkplatzeinweiser Paco ist Epileptiker. Das hat in der Vergangenheit öfter mal dazu geführt, dass er auf der Straße zusammengeklappt ist. Nach einem Anfall ist er dann auch nach Hause gefahren. Nicht so in der letzten Woche. Bis zum frühen Nachmittag hatte er-laut Salvatore, der unten in unserem Haus ein Geschäft für Küchengeräte und-zubehör hat- bereits drei Anfälle gehabt.

Nun lag er wieder auf dem Bürgersteig und Salvatore wurde langsam sauer. Denn ein umgekippter, winselnder Mann vor dem Laden ist ja nicht gerade geschäftsfördernd. Den ersten Anfall hätte er wohl schon morgens in der Metro gehabt. Jedenfalls hatte Paco dort seinen Rucksack verloren, in dem seine Medikamente waren. Ob er ihn vergessen hatte oder ob er ihm geklaut wurde, konnte Paco nicht mit Gewissheit sagen.

Nun lag er wieder dort und als wieder bei Bewusstsein war, redeten wir auf ihn ein, nach Hause zu fahren. Doch Paco fuhr nicht und bekam kurz darauf den nächsten Anfall. Nun wurde ein Krankenwagen gerufen. Doch Paco wehrte sich. Er wollte auf keinen Fall ins Krankenhaus. Verwirrt irrte er über den Bürgersteig, stürzte wieder. Die Sanitäter rückten wieder ab.

Die Mitarbeiter im Geschäft und wir alle aus dem Haus waren ratlos. Was nun? Paco war offensichtlich verletzt und verwirrt. Ein Geschäftsmitarbeiter setzte ihn in seinen Wagen und dort schlief Paco sofort ein. Gegen Abend sah ich wie Paco seine Sachen zusammenräumte und ich war froh, dass er nun endlich nach Hause fahren würde. Doch dann hörte ich einen ohrenbetäubenden Knall unten im Hausflur. Als ich nachschaute, lag dort Paco in seinem Blut.

Wieder wurde ein Krankenwagen gerufen. Wieder weigerte sich Paco, der mittlerweile wieder bei Bewusstsein war, mitzufahren. Wir Hausbewohner versuchten ihn zu beruhigen und zu überreden, sich in ärztliche Behandlung zu geben. Unsere Nachbarin, die „Drogenbaronin“, hatte ein Epilepsie-Medikament aus der Apotheke geholt. Ein Sanitäter wollte ihm das geben. Paco wehrte sich. Die Sanitäter rückten unverrichteter Dinge ab.

Hätten sie ihn gezwungen mitzukommen, wäre das als Entführung ausgelegt worden. Paco schlief auf einem Stuhl im Flur ein. Er sah schrecklich aus: eingepinkelt, die Klamotten verschmutzt, Blut im Gesicht, verschrammt, total verschwitzt. Wir waren ratlos. Letztendlich riefen wir ein Taxi, denn Paco war wieder bei Bewusstsein und konnte uns seine Adresse nennen.

Dann hörten weder die Leute im Geschäft noch wir im Haus etwas von Paco. Zwischenzeitlich beschlich mich das ungute Gefühl, dass der Taxifahrer Paco einfach ausgesetzt und mit seinem Geld abgehauen ist. Doch gestern stand er auf einmal wieder auf der Straße, als sei nichts gewesen. Als ich auf ihn zugehen wollte, spürte ich, er weicht mir aus und grüßte lediglich.

josefina
Die Dritte im Bunde ist Josefina (der Nachname wird im allgemeinen Sprachgebrauch, besonders von Frauen, unterschlagen). Dieses Plakat will uns weismachen, dass sie Worte hat. Welche? Keine Ahnung.

Die Sorgen reicher Mütter

Entschieden dagegen bin ich, dass Deutschland die Kosten für das mexikanische Gesundheitssystem übernehme. Wie ich auf diesen Unsinn komme? Vor eineinhalb Wochen war ich zu einem Essen eingeladen worden. Dort saßen auch Mütter, deren Kinder aufs Colegio Alemán gehen. Merke wohl, mexikanische Mütter. Und ich rutschte in ein Gespräch über die anstehenden Wahlen.

praesident
Falls dieser freundlich lächelnde Mann Präsident wird, wird es eine Auswanderungswelle der Reichen geben. Schließlich sei er Kommunist, so die Ansicht einer mexikanischen Schicht. Damit lässt sich wohl heute kein Staat mehr machen – außer in Kuba und Nordkorea.

Die Frauen waren sich einig: Alles ist korrupt in diesem Land. Und eine Frau wusste auch schon, was passieren wird, wenn der linke Präsidentschaftskandidat López Obrador die Wahlen gewänne. Dann würden ihr Mann und sie das Land verlassen. Und sie seien bestimmt nicht die einzigen. Auch eine Lösung.

Doch wenn die Reichen das Land verlassen, wer soll dann die Bekämpfung des Drogenhandels bezahlen? Denn das erkannten die Frauen als drängendes Problem. Auch hier hatte eine Frau die Lösung: Das könnten ja dann die Deutschen bezahlen. Allgemeines Gelächter – nur ich stand kurz vor einem Wutanfall.

Da kann ich tatsächlich nur EU-Kommissionspräsident Barroso zustimmen. Er hatte an diesem Montag beim G-20-Treffen in Los Cabos gesagt, dass sie sich von niemanden Lektionen erteilen lassen. Damit hatte er zwar nicht direkt die Mexikaner angesprochen. Aber wenn ich hier die eine oder andere Bemerkung aufschnappe, denke ich auch manchmal, eure Meinung ist bestimmt nicht meine Meinung.

Ich hoffe euch allen geht es gut!

Muchos saludos,
Marion

‚Te gusta México?‘ Eine schwierige Frage: Gefällt mir dieses Land? Marion bei den Mexis, Teil 21

Dieser Artikel ist der 21. Teil einer persönlichen Serie über das Leben in Mexico und Mexico-City. Heute denkt unser Autorin darüber nach, ob ihr das Leben in Mexiko gefällt – und kommt dabei zu ganz widersprüchlichen Ergebnissen. Viel Spaß beim Lesen.

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DVD-Abteilung in einer christlichen Buchhandlung im Stadtteil
Coyoacán. Nach welchem System die Filme geordnet sind, ist nicht ganz
deutlich. Wenn Jesus Österreicher gewesen wäre, hätte das die Reihe
„Berühmte Österreicher“ gewesen sein können (fotos: koerdt)

Hola a todos!

„Gefällt Ihnen Mexiko?“ Ich weiß nicht, wie oft mir diese Frage in den letzten zwei Jahren gestellt worden ist. Gefühlt jeden Tag. Erst wieder vor zwei Tagen in einem Büroartikelgeschäft, als zu Hause mal wieder das Internet nicht ging und ich an den dortigen Terminals nach meinen Mails schauen wollte. Der Mann am Rechner neben mir wusste nicht, wie er eine bestimmte Einstellung in Word machen sollte und fragte mich. Kaum hatte ich ihm die Tastenkombination gezeigt, kam die Frage: „Te gusta México?“ Und dieses Mal war ich kurz davor mit der mir selbst zurechtgelegten Wahrheit rauszurücken:

Kollegin überfallen und ausgeraubt

Letzte Woche ist meine ehemalige mexikanische Kollegin aus der Schulbibliothek morgens auf dem Weg zur Arbeit überfallen worden. Sie hat sich ein Taxi heran gewunken. Kurz danach, als der Wagen an einer Ampel hielt, sprangen zwei Typen in den Wagen und keilten sie auf dem Rücksitz ein. Sie solle einfach die Augen zumachen und der Taxifahrer solle ihren Anweisungen folgen. Was dieser klugerweise auch tat, denn einer der Typen fuchelte mit einer Waffe herum. Dann musste sie, eine 24jährige Germanistikstudentin, ihr Konto leerräumen und ihnen ihr Handy überlassen. Nach einer halben Stunde war der Horror vorbei. Dass sie Todesangst hatte, ist mehr als verständlich, wenn ich hier in den Zeitungen fast jeden Tag lese, wie wenig ein Menschenleben wert sein kann.

Es geht nur ums Geld

Und wenn mir mein etwas dunkelhäutiger Bekannter Fernando erzählt, wie er aufgrund seiner Hautfarbe diskriminiert wird. Und er mir sagt, die Mexikaner kennen keine Solidarität. Für die meisten hier sei der einzige Wert Geld. Das würde auch erklären, warum eine 24jährige Studentin überfallen wird. Es ist einfach egal, wie viel zu holen ist. Hauptsache es wird geholt.

Die Polizei als Freund und Helfer – ein Witz

Ich fragte Fernando, ob das ein Armutsproblem sei. Er verneinte. Auch die Reichen würden raffen und rauben. Besonders die Politiker. Ob ich denn hier der Polizei vertrauen würde. Ich lächelte und schüttelte den Kopf. In Deutschland gebe es den Spruch „Die Polizei “ dein Freund und Helfer“, da musste Fernando lachen.

In neun Monaten 75 ermordete Journalisten

Fernando arbeitet mittlerweile als Spanischlehrer an der Uni. Zuvor war auch für kurze Zeit Zeitungsredakteur. Warum er denn aufgehört hätte? Er hätte auf Honorarbasis gearbeitet und sein Chef hat häufig seine Artikel nicht drucken wollen. Aus Angst, die Werbekunden würden sich beschweren. Nur die Werbekunden? Fernando zuckt die Schultern. Hier gebe es eine Zensur, die eben nicht nur den Werbekunden dient. Heute steht in „La Jornada“, dass zwischen September 2010 und Juni 2011 (also in neun Monaten) 75 Journalisten in Mexiko umgebracht worden sind. Fernando hat einen Sohn. Da ist es nur allzu verständlich, warum er sich eine andere Tätigkeit gesucht hat.

„Te gusta México?“ Nein, in solchen Fällen nicht.

„Te gusta México?“ Wenn die Menschen in Mexiko-Stadt dem Verkehrsirrsinn tagtäglich standhalten, wie gelassen sie auf chaotische Situationen reagieren und erst recht, wenn sie feiern. Dann mag ich Mexiko. Ich mag die phantastischen Landschaften, die kargen Plateaus, die beeindruckenden Vulkane. Und ich mich immer wieder frage, wie viel Mexiko kenne ich überhaupt und was verstehe ich überhaupt von dem, was ich sehe und erlebe. Dann mag ich Mexiko.

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Ein Land auf dem Eco-Tripp: Mit dem Fahrrad unterwegs

Und ich mag eben auch die Absurditäten, wenn versucht wird, Ideen zu kopieren. Seit geraumer Zeit ist ein Schlagwort ganz groß in Mode gekommen: Alles wird nun zu „Eco“ erklärt. So heißen die Leihfahrräder in den etwas besser gestellten Stadtteilen wie zum Beispiel La Condesa „Eco-Bici“ (Bici für Bicicleta, spanisch für Fahrrad). In dem Zusammenhang ergibt das ja noch einen Sinn. Auch wenn das Radfahren hier weniger unter ökologischen Gesichtspinkten betrachtet wird. Denn beim hiesigen Autoverkehr ist es beim Verlassen der ausgewiesenen Radrouten lebensgefährlich. So zeigt sich der hippe Condesa-Bewohner nun gerne mit Rad, um in sein Szene-Café zu gelangen.
Auch dass sich ein paar Nationalparks nun Öko-Parks nennen, erschließt sich mir noch. Aber warum nun in meinem Stadtteil Polanco das Parken zum Eco-Parq erklärt wird, erscheint mir doch der Gipfel der Absurdität.

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Ratlose Menschen vorm Parkautomaten. Zum Glück gibt es aber überall Rat.

Parkraumkonzepte: Ökoparken

Letzten Freitag wurden vor unserem Haus während einer Nacht-und Nebelaktion auf der Straße Parkflächen ausgewiesen und Parkautomaten aufgestellt. Ich erinnerte mich an Bilder von Lía Limón, wie sie bei der Einweihung dieser Parkautomaten etwas weiter südlich in unserem Viertel ihre gebleachten Zähne in Kameras lächelte.

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Das Ganze heißt jetzt Ökoparken und ist nichts anderes als zu bezahlender Parkraum. Dann flog ein Infozettel ins Haus, aus dem hervorging, dass Polanco bald nicht mehr automatenfrei sein wird. Aber nicht, wohin die Einnahmen überhaupt fließen sollen.

Und nunmehr ist Paco, Parkeinweiser vorm Haus und unser informeller Hausmeister, nicht bester Laune. Schließlich machte bislang ein Großteil seines Einkommens aus, dass er sich hier als Parkwächter generierte und die Leute ihm dafür ein paar Pesos in die Hand drückten. Wenn sie nun aber nur noch drei Stunden in der Straße parken dürfen und auch noch dafür zahlen müssen, wird wohl nicht mehr viel für Paco dabei abfallen. Vielleicht wird er bei den anderen Parkwächtern anheuern müssen, die nun ausstaffiert mit Leuchtweste, auf der dick ein P-Emblem gedruckt ist, durch das Viertel ziehen.

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Die Info-Box um Park um die Ecke. Der Andrang hält sich aber in Grenzen.

Im kleinen Park an der Straßenecke gibt es nun eine Eco-Parc-Info-Box. Und Information scheint wohl dringend erforderlich: Mehrere Tasten wollen gedrückt sein, bevor einem das ersehnte Ticket entgegen fliegt. Das Bild dieser Tage: Ratlose Menschen vor Automaten. Als ich heute einkaufen ging, kam mir eine Heerschar junger Leute entgegen, die alle ein P-Winkelement in den Händen hielt. Ich dachte allen Ernstes zuerst, dass seien Studenten, die gegen diesen Irrsinn protestieren. Doch dann sah ich, dass es eine weitere bezahlte Info-Kampagne war. Ich sollte mal meine Wahrnehmungen überdenken: Nicht alles, was knapp über 20 ist und mit einem Pappschild in einer Menschenmenge durch die Straße marschiert, ist zwingend ein demonstrierender Student.

Geschönte Frauen im Wahlkampf

Nun bin ich gespannt, was als Nächstes zu Öko erklärt wird. Ich glaube die Obst- und Gemüseabteilung im Supermarkt hat da noch Nachholbedarf. Vielleicht ein weiterer Einsatz für Lía Limón. Mir konnte ja niemand von meinen mexikanischen Bekannten erklären, was diese Frau will, welche Funktion sie hat und woher sie überhaupt kommt.

Im Gegensatz zu Josefina Vázquez Mota. Von der hingen zum Glück bislang noch keine Plakate in meinem Viertel. Die Frau hat so viele scheinbar nicht ganz geglückte Schönheitsoperationen hinter sich, so dass ich bislang bei ihrem Anblick auf Zeitungsfotos immer zusammengezuckt bin. Wahrscheinlich der Kitzel, der einen auch beim Horrorfilmgucken erwischen kann. Aber wahrscheinlich ist das nur eine Frage der Zeit, bis die Plakate kommen. Schließlich ist sie Präsidentschaftskandidatin der regierenden, konservativen PAN. Ich bin gespannt, welche Losung sie wohl bei einem Wahlsieg herausgeben wird: Kostenlose Schönheitsoperationen für alle?

Papst im Anmarsch

Zur Abwahl steht leider nicht ein Mann, der in ein paar Tagen das Land besuchen wird. Und der mittlerweile die Berichterstattung beherrscht und die gesamte Stadt in Aufruhr versetzt: Der Papst kommt und die Mexis (zum Glück nicht alle) sind total aus dem Häuschen. Ob Benedikt XVI. es schaffen wird, die Popularität seines Vorgängers abzulösen bleibt abzuwarten. Noch bekommt fast ausschließlich Johannes Paul II.-Devotionalien. Aber vielleicht ist es auch geschickt, erst einmal zu versuchen den alten Schrott wegzubekommen. Wie es wird, davon dann vielleicht demnächst mehr. Momentan steht mir der Sinn eher danach, die Stadt zu verlassen.

Hoffe, euch allen geht es gut!
Muchos saludos,
Marion

„Quién es Wulff?“ und wo die Köpfe wirklich rollen: die Präsidentenwahlen in Mexico. Marion bei den Mexis, Teil 20.

Dieser Artikel ist der 20. Teil einer persönlichen Serie über das Leben in Mexico und Mexico-City. Heute erfahren wir unter anderem, wie fünf abgeschlagene Köpfe über eine Tanzfläche in Michaocán rollen. Trotzdem viel Spaß beim Lesen.

Mir hat sich nicht erschlossen, warum sich die grûne Partei in Mexiko fûr die Todesstrafe einsetzt. Jedenfalls wollen sie diese "anbieten". (fotos: koerdt)
Mir hat sich nicht erschlossen, warum sich die grûne Partei in Mexiko fûr die Todesstrafe einsetzt. Jedenfalls wollen sie diese „anbieten“. (fotos: koerdt)

Hola a todos!

Wegen „der Entdeckung korrupter Praktiken“ sei er zurückgetreten, so die mexikanische Tageszeitung „La Jornada“ am letzten Wochenende.

„Quién es Wulff?“ („Wer ist Wulff?“)
Immerhin hat er es auf die dritte Seite der internationalen Meldungen geschafft (nach Syrien und den USA) und hier hat sich wohl auch mancher verwundert die Augen gerieben: „Quién es Wulff?“ („Wer ist Wulff?“)

„Mörkel“ – la presidente
Schließlich wird vom mexikanischen Großteil angenommen, dass die „Mörkel“ „la presidente“ sei und somit bekam mancher Mexikaner nun eine Lektion ins politische System der Bundesrepublik Deutschland. Und es mangelt auch nicht an freundlicher Häme: Ja, auch die Politiker in Deutschland sind korrupt, nicht nur unsere.

Wenn einer nicht korrupt ist, ist er kein Politiker
Aber vielleicht mit einem feinen Unterschied: Wulff ist wohl eher von spießigen Kleinbürger-Wünschen angetrieben worden, in Mexiko geht es dann doch gleich immer um andere Dimensionen. Wie sagte mir ein Bekannter in der letzten Woche? Wenn einer nicht korrupt ist, ist er kein Politiker oder er wird von den anderen als beschränkt wahrgenommen.

Die Präsidentenwahlen stehen im Sommer an
Dieses Jahr wird es spannend in Mexiko: Die Präsidentenwahlen stehen im Sommer an. Und es ist bislang noch kein Präsident wegen Korruptionsvorwürfe zurückgetreten. So wird es wohl auch der stocksteife, konservative Felipe Calderón schaffen seine sechsjährige Amtszeit bis Juni ohne Straucheln über die Ziellinie zu bringen.

Calderóns Kampf gegen den Drogenterrorismus
Wie seine Bilanz aussehen wird, kann man vielleicht bereits jetzt schon an bestimmten Zahlen ablesen. Jeder Präsident gibt zu Beginn seiner Amtszeit eine Losung aus, die dann ohne Wenn und Aber verfolgt wird. Calderón hat sich dem Kampf gegen den Drogenterrorismus verschrieben. Somit wurde besonders im Norden des Landes Militär zur Bekämpfung eingesetzt. Dabei wurde aber auch einmal ausgeblendet, dass das mexikanische Militär gar nicht im Inlandseinsatz sein darf.

50 000 Toten in den letzten sechs Jahren
Zahlreiche Polizisten haben ihr Leben gelassen oder die Seiten gewechselt, die Kartelle sind nach wie vor stark, die Waffen schaffen immer wieder ihren Weg über die Grenze im Norden des Landes. Man spricht von 50 000 Toten in den letzten sechs Jahren, deren Tod im Zusammenhang mit Narco stand. Wie viele es wirklich sind, wird wohl nie herausgefunden werden. Täglich werden neue Leichen entdeckt.

Damit hier kein Missverständnis entsteht: Das Drogenproblem gab es auch schon vor Calderón. Doch die Situation hat sich in den letzten Jahren zugespitzt.

Auch Calderón soll seinen Lieblings-Capo haben. Ausgerechnet seit 2006 taucht ein Kartell verstärkt auf der nationalen Bühne auf: La Familia aus dem Bundesstaat Michaocán, Calderóns Heimat. Ein Schelm, der dabei Böses denkt. Mittlerweile soll das Kartell La Familia, das sich wohl vom berüchtigten Golf-Kartell abgespalten haben soll, bis zu 4000 Mitgliedern haben und in allen 113 Gemeinden des Bundesstaates präsent sein.

Eine x-beliebige Zufahrt an einem x-beliebigen Tag an der Reforma. Sicher ist: Allein ist man nie.
Eine x-beliebige Zufahrt an einem x-beliebigen Tag an der Reforma. Sicher ist: Allein ist man nie.

In Michaocán rollten fünf abgeschlagene Köpfe über die Tanzfläche
Die Bezahlung der „Angestellten“ soll für mexikanische Verhältnisse mehr als sehr gut sein: Zwischen 1500 und 2000 US-Dollar soll es monatlich geben. Mit quasi-religiösen Botschaften geht La Familia an die Öffentlichkeit, um –wie sie in einer Zeitungsanzeige selbst klargemacht haben- „die Ordnung wiederherzustellen“. Und das kann auch mal wie in einer Kleinstadt in Michaocán aussehen: Dort rollten fünf abgeschlagene Köpfe über die Tanzfläche.

In zahlreichen Schulen fehlt es an jeder Grundausstattung
Manchmal überkommt einen dabei das Gefühl, dass die gesamte Politik derartig auf diese Terrorbekämpfung ausgerichtet ist, so dass andere Bereiche völlig ausgeblendet worden ist. In zahlreichen Schulen fehlt es an jeder Grundausstattung – und damit sind nicht Computer, sondern zum Beispiel Stühle gemeint. Mal sehen, ob der nächste Präsident mal wieder ein Herz für Bildung hat. Oder in welchem Bundesstaat das nächste Kartell erstarkt.

Vermutung der Wahlfälschung
Der Auftakt für Wahlveranstaltungen jeglicher Art ist bereits getan. Im vergangenen November gab es eine kleine Überraschung, als nicht der regierende Bürgermeister von Mexiko-Stadt, Marcelo Ebrard, für die linksliberale PRD (Partei der Demokratischen Revolution) seinen Hut in den Ring warf, sondern der bereits vor sechs Jahren gescheiterte Präsidentschaftskandidat Andrés Manuel López Obrador. Der hatte die letzte Wahl dermaßen knapp verloren (mit einer Differenz von 0,58% der abgegebenen Stimmen), so dass die Vermutung der Wahlfälschung vielen Mexikanern sehr schnell kam.

Politischer Fehler: zentrale Verkehrsader der Stadt verstopft
López Obrador sah sich als moralischen Sieger und genoss mit seinen anfänglichen Protesten auf dem zentralen Platz Zócalo auch die Sympathien der Bevölkerung. Die verspielte er allerdings, als er dann knappe eineinhalb Monate den Prachtboulevard Reforma besetzte und damit eine zentrale Verkehrsader der Stadt verstopfte.

Illustre Persönlichkeiten: Lía Limón
Aber auch auf lokaler Ebene gibt es illustre Persönlichkeiten: So hingen in den letzten Wochen in meinem Viertel Polanco überall Plakate von Lía Limón. Ihr Name weckte bei mir die Assoziation, sie könne eine Freundin von Emily Erdbeer sein (die hier Rosita Fresita, also Röschen Erdbeerchen, heißt) sein. Aber sie ist wohl Stadtabgeordnete von Polanco.

Mexikanische Koch-Mehrin: dieses gebleachte Lächeln kam mir in den letzten Wochen an jeder Straßenseite entgegen. Grusel...
Mexikanische Koch-Mehrin: dieses gebleachte Lächeln kam mir in den letzten Wochen an jeder Straßenseite entgegen. Grusel…

Inhaltsleere „100% a tu lado“, also 100% an deiner Seite
Weder auf den Plakaten noch auf ihrer Internetseite konnte ich herausfinden, in welcher Partei sie ist, geschweige für welche Positionen sie steht. Sie stehe „100% a tu lado“, also „100% an deiner Seite“ das war die einzige Aussage auf dem Plakat und das klingt schon fast mehr wie eine Drohung. Dafür gibt es auf ihrer Seite schöne Bilderreihen, auf denen sie mich manchmal an Super-Nanny Katharina Saalfrank erinnert. Dabei bewundert sie unter anderem die neu aufgestellten Parkautomaten im Viertel, die bei den hiesigen Anwohnern einen regelrechten Aufstand ausgelöst haben. Ich halte es aber für sehr unwahrscheinlich, dass Frau Saalfrank nach der Absetzung ihrer Sendung in die mexikanische Lokalpolitik eingestiegen ist.

Warten auf die Sündenbockverbrennung
Und während in der letzten Woche im Rheinland mit dem Nubbel sämtliche Sünden der Karnevalszeit in Rauch aufgegangen sind (ich habe gehört, mittlerweile soll dieser Brauch auch im Sauerland angekommen sein), müssen die Mexikaner noch ein paar Wochen mit ihrer Sündenbockverbrennung warten.

„Judasverbrennung“ im Stadtteil Tepito
Zu Ostern gibt es eine „Judasverbrennung“ im Stadtteil Tepito. Da werden aus Pappmaschee und Zuckerrohrstangen gebastelte Figuren nach einer Prozession an einer Laterne aufgehängt und für ihre Untaten zum Tode durch Feuer verurteilt. Auffällig häufig tragen diese Figuren Politikergesichter und diese Verbrennungen erfreuen sich einer unglaublichen Beliebtheit bei der Bevölkerung. Ob ein diesjähriger Nubbel auch das Wullfsche Konterfeit trug, ist nicht zu mir durchgedrungen.

Hoffe, euch allen geht es gut!

Muchos saludos,
Marion

Berichte aus einem mörderischen Tollhaus. Marion bei den Mexis, Teil 18.

Dieser Artikel ist der 18. Teil einer persönlichen Serie über das Leben in Mexico und Mexico-City. Heute lesen wir kleine und lapidare Geschichten vom Leben und Sterben. Wir wünschen viel Spaß beim Lesen.

Hola a todos!

„Ja, und dann bin ich ihr hinten reingefahren.“ Mit diesem lapidaren Satz beendete Agustin in der vergangenen Woche das Gespräch über sein letztes Treffen mit seiner Ehefrau.

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Das ist Chacoron, der beste tierische Freund von Agustin. Mit ihm teilt er sich den Parkplatz, jedenfalls so lange sein Leben nicht noch eine weitere Wende nimmt. (fotos: koerdt)

Ehestreit: Verfolgungsjagd mit Totalschaden
Dabei hatte ich gedacht, dass sich bei ihm die Wogen geglättet hätten. Denn zwei Wochen zuvor erzählte er, er hätte eine Frau kennengelernt und mit ihr die ganze Nacht durchgetanzt. Doch dann wollte sie sich Geld von ihm leihen und er stellte sie auf die Probe: er sei arbeitslos und hätte kein Geld. Daraufhin verlor sie auch jegliches Interesse an ihm. So seien die Frauen hier eben, so Agustin. Dann das Treffen mit seiner noch mit ihm verheirateten Frau in einem Restaurant.

Der Streit eskalierte, sie schlug ihm ins Gesicht und lief zum Auto. Er hinterher. Dann gab es eine Verfolgungsjagd quer durch den Stadtteil Nezahualcóyotl und schließlich fuhr er ihr hinten in den Wagen. Auf die Rückfrage, wie schnell er denn gewesen sei, antwortete er: so ca. 80 km/h. Dass das hätte auch tödlich enden können, hätte er in Kauf genommen. So hatten beide mehr als Glück: so blieben nur Nackenschmerzen und zwei völlig verschrottete Autos zurück. Bei ihm sei eben eine Sicherung durchgebrannt, stellte er dazu fest.

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Dieser grüne Hügel ist die volumenmäßig größte Pyramide der Welt. Sie war aber auch schon so überwuchert, als die Spanier nach Cholula kamen. Das hielt sie aber nicht davon ab, eins der schlimmsten Massaker der Conquista unter den Einheimischen anzurichten und auch noch eine Kirche auf die Pyramide zu bauen.

Vermisst: Hintergründe, die zu einer schrecklichen Tat geführt haben
Der Eindruck, dass hier den Leuten öfter einmal die Sicherung durchbrennt, hat sich bei mir im letzten Monat immer mehr verfestigt. Die Nachrichtenlage gab einiges dazu her: da wurde vor einem Monat in Monterrey (ca. 900 Kilometer nördlich von Mexiko-Stadt) ein Casino angezündet. Bei dem Brand starben 52 Menschen (überwiegend ältere Frauen, die gerne ihre Nachmittage bei einem Zockerspielchen verbracht haben). Darüber wurde ja auch in Deutschland berichtet. Was ich jedoch vermisst habe, waren die Hintergründe, die zu dieser schrecklichen Tat geführt haben: es ist mal wieder die widerliche Verfilzung von Politik und Drogenmafia.

Das Kasino wurde im September 2007 eröffnet – ohne staatliche Konzession. Die Betreiber des Kasinos waren die Cousins des damals amtierenden Bürgermeisters. Der jetzige Bürgermeister behauptet nun, dass am 4. Mai dieses Jahres dieses Kasino noch einmal Thema im Stadtrat war. Passiert ist aber seitdem nichts. Dabei hat dieser Bürgermeister selbst seit seinem Amtsantritt neun Kasinos in der Stadt eröffnet – alle operieren illegal.

Kasinos sind für die Geldwäsche in Drogengeschäften bekannt. Anschläge auf Kasinos gab es immer wieder in den letzten Jahren. Monterrey gilt als das „Las Vegas Mexikos“, da es dort mehr als 50 Glückspielorte gibt. Die meisten ohne staatliche Genehmigung. Oder die Geschäftsführer zahlen dem Bundesstaat Geld für eine Erlaubnis und die lassen sie dann in Ruhe.

Nun überlegen deutsche Unternehmen aus der Gegend abzuziehen. Vor eineinhalb Wochen sprach ich mit einer Frau aus Deutschland, die mit ihrem mexikanischen Mann fast fünf Jahre in Monterrey gelebt hat. Vor einem Jahr seien sie nach Mexiko-Stadt umgezogen. Ich bemerkte, dass sie dann ja wohl noch vor der Verschärfung der Konflikte dort weggekommen seien. Dies verneinte sie: durch die ständigen Schießereien in der Stadt sei sie so gestresst gewesen, dass sie eine Gesichtslähmung bekommen hätte, die erst jetzt nach einem Jahr wieder langsam zurückgegangen sei.

Mord an Journalistinnen: Motivsuche
Am 2. September titelten hier die Zeitungen, dass zwei Journalistinnen in Mexiko-Stadt ermordet worden seien. So wurden gefesselt und erschossen in dem Stadtteil Iztapalapa gefunden. Was verwundert, ist, dass die ein People-Magazin herausgab und die andere frei für diese Zeitschrift über Lifestyle-Themen schrieb. Es war niemanden bekannt, ob sie nicht auch über Narcotrafico recherchierten. Das war jedenfalls die erste Vermutung.

Doch bereits am nächsten Tag wurde klar, dass das Motiv überhaupt nichts mit ihrer journalistischen Tätigkeit zu tun hatte: die freie Autorin war Mitinhaberin einer Geldwechselstelle am Flughafen und war in den Tagen zuvor dort ausgestiegen und hatte sich auszahlen lassen. Das hieß, dass jemand wusste, dass sie nun über einen höheren Geldbetrag verfügte und das war dann wohl auch ihr Todesurteil. Leider stand die Herausgeberin mit ihr nach einer Redaktionskonferenz auf der Straße, als sie entführt werden sollte.

Gefahrenpunkt Geldwechselstellen
Es kommt auch immer wieder zu Überfallen, nachdem gerade gelandete Touristen mal eben an diesen Wechselstellen im Flughafenbereich ein paar Pesos erhalten wollen. Vor einiger Zeit wurde einem Franzosen direkt –nachdem er Geld getauscht und das Flughafengelände verlassen hatte- in den Kopf geschossen. Sollte besser in jedem Mexiko-Reiseführer stehen: besser nicht machen. Man weiß nie, wer einen beobachtet und wer welche Information weitergibt.

Drogenmafia: Kopf abgeschnitten und an den Füßen aufgeknüpft
Bereits vor diesen Vorfällen hatte ich ja das Glück mit meinem Taxifahrer gestritten zu haben, als wir an einer Brücke im Westen der Stadt vorbeigefahren sind, an der diesem Morgen zwei Männer aufgehängt aufgefunden waren. Ihnen war der Kopf abgeschnitten worden und man hatte sie an den Füßen aufgeknüpft. Wie einige Tage später berichtet wurde, hatte man ihnen unterstellt eine Woche vorher einen „Capo“ (Drogenboss) hier in der Stadt bei der Polizei verpfiffen zu haben, der daraufhin verhaftet worden ist.

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Einen so schönen blauen Himmel gibt es fast nie in Mexiko-Stadt. In Cholula schon, weswegen sich auch die gelbe Kirche (es ist nicht mehr die Originalkirche aus dem 16. Jahrhundert) so schön vor dem Himmel abhebt. Wandert man um die Kirche hat man einen phantastischen Blick auf die höchsten Berge Mexikos: Popocatépetl (5.462 Meter), Iztaccíhuatl (5.286 Meter) und auf der anderen Seite La Malinche (4.461 Meter). Nur der Orizaba ist mit rund 5700 Metern höher. Der liegt aber weiter im Osten. Was man so auch nicht sehen kann, aber in vielen Reiseführern: dass der Hügel mit der Kirche fast direkt vor dem Popocatépetl liegt. Sieht zwar phantastisch aus, ist aber nur Photoshop-Phantasie.

Bodyguard dreht im Schulbus durch
Im Westen der Stadt leben ja nicht nur die Profiteure vom Narcotrafico, sondern auch die anderen Reichen dieser Stadt. Deren Kinder haben ein neues Statussymbol: so tauchen 18- oder 19jährige zur Zeit sehr gerne mit einem eigenen Bodyguard in ihren Clubs auf. Einer dieser Bodyguards fühlte sich nun von der Fahrweise eines Schulbusses so gestört, dass er ihn schließlich überholte, ausbremste und neunmal mit einer Pistole auf den Fahrer schoss. Auch hier war Glück im Spiel: der Bus war zum Glück zu diesem Zeitpunkt leer und der Fahrer hat diesen Anschlag auch überlebt.

Schüsse an der Ampel
Vor einer Woche fuhren Christopher und ich von einem Tagesausflug aus Cholula kommend vom Osten in die Stadt. Als wir vor einer Ampel abbremsen mussten, hörten wir Schüsse und ich sah noch im Augenwinkel, wie an der rechten Straßenseite ein Mann mit einem Gewehr mit Doppellauf stand, der sich zu einem anderen Mann, der hinter ihm stand, umdrehte. Ich konnte nicht sehen, ob jemand am Boden lag und überhaupt hatten wir das Gefühl, doch gerne schnell von dieser Stelle wegkommen zu wollen. Ohne zu wissen, was denn nun eigentlich passiert ist.

Ja, manchmal erträgt man eben die Nachrichtenlage nur in homöopathischen Dosen und das Leben im Weglaufen. Das ist natürlich kein Dauerzustand und es werden bestimmt auch wieder andere Meldungen kommen.

Muchos saludos desde México,
Marion

P.S.: Gestern teilte uns Agustin mit, er hätte nun doch wieder eine Nacht mit seiner Ehefrau verbracht. Und nun sei er vollends „confudido“.

Von Ciudad Mexico in die USA und zurück. Auf der Suche nach der US-amerikanischen Mentalität.

Na ja, wenn das Wetter nicht schön ist, gibt es auch keine schönen Bildern. Aber mal was Bekanntes: die Freiheitsstatue mit der Skyline von Manatthan. Der Bildhauer Frederic Auguste Bartholdi nahm dafür die Gesichtszüge seiner Mutter. Die Arme allerdings sind die seiner damaligen Geliebten nachempfunden. Wenn er sie damals bereits geehelicht hätte (was er später tat), würden wir vielleicht in ein anderes Antlitz blicken. (fotos: koerdt)
Na ja, wenn das Wetter nicht schön ist, gibt es auch keine schönen Bildern. Aber mal was Bekanntes: die Freiheitsstatue mit der Skyline von Manatthan. Der Bildhauer Frederic Auguste Bartholdi nahm dafür die Gesichtszüge seiner Mutter. Die Arme allerdings sind die seiner damaligen Geliebten nachempfunden. Wenn er sie damals bereits geehelicht hätte (was er später tat), würden wir vielleicht in ein anderes Antlitz blicken. (fotos: koerdt)

Dieser Artikel ist der 17. Teil einer persönlichen Serie über das Leben in Mexico und Mexico-City. Heute verlässt die Autorin ihr Stammland und reist n die USA. Wir wünschen viel Spaß beim Lesen.

Hola a todos!

Wo befindet man sich, wenn man sich Gedanken darüber macht, ob eine gesetzliche Krankenversicherung der erste Schritt zum Sozialismus ist und aus diesem Grunde verdammenswert sei? Nicht auf einer Zeitreise, sondern in den USA im Jahre 2011.

So muss man schon aussehen, wenn man im Central Park rollerbladen will.
So muss man schon aussehen, wenn man im Central Park rollerbladen will.

Dieser Gedanke sowie einige weitere Eindrücke haben mir wieder einmal gezeigt, dass die US-amerikanische Mentalität teils befremdlich auf mich wirkt. Ich weiß, ich kann den Begriff Mentalität nicht absolut setzen und somit auf alle US-Bürger beziehen, aber im öffentlichen Raum spiegeln sich Dinge wider, die mich irritieren. Zunächst einmal die öffentliche Erinnerung: in Washington gibt es ein Museum zur Geschichte der Indianer.

Als ich in den ersten Raum kam, dachte ich, ich sei in Mexiko, quasi bei mir um die Ecke. Wunderbare Exponate zur Geschichte der Azteken und Maya, doch was hat das mit den Ureinwohnern des Gebietes der heutigen USA zu tun? Auch in den Straßenbildern der Städte sieht man sie nicht. In New York erklärte mir jemand, dass es sie nach wie vor auch an der Ostküste gebe. Und nicht -wie manche denken würden- komplett ausgerottet worden seien. Allerdings leben sie auch hier in Reservaten (und ich hoffte, dass die sich nicht wie in Arizona und Nevada in der Nähe von Atomtestgebieten befinden). Dort ist das Glücksspiel erlaubt und damit verdienen sie heutzutage ihr Geld. Aber im öffentlichen Raum tauchen sie nicht auf – ihre Lobby scheint im Gegensatz zu der der Schwarzen zu schwach oder gar nicht vorhanden zu sein.

Nicht das weiße Haus, sondern der Kongress in Washington. Aber auch nicht unwichtig beim Treffen von Entscheidungen.
Nicht das Weiße Haus, sondern der Kongress in Washington. Aber auch nicht unwichtig beim Treffen von Entscheidungen.

Geschichtsverdrängung gibt es aber nicht nur auf diesem Gebiet: während ein Holocaustmuseum in Washington die Gräuel der Nazis zeigt, gibt es in der Nähe das Memorial zum Vietnamkrieg. Granitplatten mit unzähligen Namen von tapferen US-Soldaten. Hinter jedem Name steckt eine Geschichte? Doch welche – die bleibt verborgen. Denn es gibt kein Museum, das diese Geschichten erzählt. Eine kritische Auseinandersetzung sucht man auch vergebens im 09/11-Memorialmuseum in New York. Bedrückend sind die Exponate, Tondokumente und Bilder – doch welche politischen Entscheidungen daraus folgten, die Darstellung bleibt aus. Vielleicht ist auch etwas viel verlangt, den Leuten die jüngste Vergangenheit sowie die Gegenwart gegenüber zu stellen.

Eigentlich habe ich mich gefragt, ob es überhaupt angebracht sei, diesmal von „…bei den Mexis“ zu sprechen, da ich doch nun drei Wochen in den USA unterwegs gewesen bin (abgesehen davon, glaube ich, dass fast jeder bereits einmal in den Staaten war und von dort mit seinen eigenen Eindrücken zurückgekehrt ist). Aber vielleicht passt es doch, da ich in New Yorker Cafés fast nur mexikanische Angestellte gesehen habe und stellenweise besser mit Spanisch als mit Englisch durchkam. Doch nicht nur Mexikaner sind auf dem Gebiet der Dienstleistung sichtbar.

Kein Scherz, so sieht es in der Bronx aus - jedenfalls im Botanischem Garten. Hier kann man sehen, wie New York mal ursprünglich ausgesehen hat: eine große bewaldete Fläche.
Kein Scherz, so sieht es in der Bronx aus - jedenfalls im Botanischem Garten. Hier kann man sehen, wie New York mal ursprünglich ausgesehen hat: eine große bewaldete Fläche.

Neben Schwarzen sind es auch andere Menschen aus Lateinamerika. Aber in einem kleineren Ort haben wir auch Ausnahmen getroffen. Wir haben einige Tage in Winthrop in der Nähe von Boston übernachtet und morgens immer dasselbe Café aufgesucht. Dort wurden wir am dritten Tag von einer Frau mit „Guten Morgen“ begrüßt. Sie kam aus Albanien, ihr Bruder lebe in Deutschland, aber er bekomme dort keinen Pass. So wisse er nicht, wann er wieder nach Albanien zurück müsse. So war auch einmal kurz in Deutschland. Aber wie gesagt, die Deutschen geben keine Pässe. Hier in den USA sei es viel einfacher. Aber sonst? Die USA seien gut für „money“. Mehr nicht. Sie zuckte die Schultern…

Nach wie vor scheinen die Vereinigten Staaten der potenzielle Sehnsuchtsort zu sein: vom Tellerwäscher zum Millionär – die Illusion scheint immer noch zu wirken. Was ich vor allen Dingen in New York sah, war ein gigantischer Niedriglohnsektor mit Migranten. Die sich wahrscheinlich nicht das Frühstück leisten können in dem Laden, in dem sie arbeiten.

So krass habe ich das in den anderen Orten nicht wahrgenommen wie in New York – aber der Eindruck blieb: einmal Tellerwäscher, immer Tellerwäscher. Und einmal Oberschicht, immer Oberschicht: diesen Eindruck bekam ich beim Schlendern über den Harvard Campus. Hier rekrutiert sich das Geld von einer Generation zur nächsten. Hier werden die Posten der Väter an die Söhne weitergereicht und im J.F.K.-Memorialmuseum kann man sehen, wie Familiendynastien funktionieren.

An dieser Brücke bekamen die Engländer das erste Mal einen auf den Detz. Die Folgen kennen wir: die damaligen dreizehn Staaten wurden unabhängig und schlichen sich auf den Weg zur Weltmacht.
An dieser Brücke bekamen die Engländer das erste Mal einen auf den Detz. Die Folgen kennen wir: die damaligen dreizehn Staaten wurden unabhängig und schlichen sich auf den Weg zur Weltmacht.

Etwa 40 Kilometer westlich von Boston liegt Concord – das, wie ich aber erst hinterher erfuhr als US-amerikanisches Weimar gilt. Eben als Ort der US-amerikanischen Literaturklassik. Hier haben sich nicht nur Ralph Waldo Emerson oder Henry David Thoreau niedergelassen, sondern hier fanden auch am 19. April 1775 die ersten Kämpfe des Unabhängigkeitskrieges zwischen den Kolonialisten und den Engländern statt. Auf einem Trail kann man die Schlacht dieses Tages abwandern, die mit einer mir kaum vorstellbaren Brutalität abgelaufen sein muss. Heute spaziert man durch eine Landschaft, die mich stark an Eifelwälder erinnerte.

Hier sieht man eins der ersten von den Kolonialisten bewirtschafteten Felder in der Nähe von Concord. Ich gebe ja zu, in der Mittelgebirgslandschaft Deutschlands sieht es nicht anders aus.
Hier sieht man eins der ersten von den Kolonialisten bewirtschafteten Felder in der Nähe von Concord. Ich gebe ja zu, in der Mittelgebirgslandschaft Deutschlands sieht es nicht anders aus.

Kurzum: sehr schön – auch sieht man die ersten von den Kolonialisten bewirtschafteten Felder. Noch war es im 17. Jahrhundert nicht zur Ausrottung der Indianer gekommen – im Gegenteil: die Kolonialisten waren auf ihre Hilfe angewiesen und man lebte fast ein Jahrhundert miteinander. Dass wir dort überhaupt wandern konnten, haben wir einer älteren Dame zu verdanken: Patty. Denn wir waren davon ausgegangen, dass es sich um einen Rundwanderweg handeln würde. Bei der Touristeninformation wurden wir eines besseren belehrt – und auch, dass es keine Busverbindung zwischen Concord und Lexington (dem Zielort) gibt. Und einfach mal so 30 Kilometer wandern, dazu waren wir zu spät. Patty stand dort und hörte von unserem Dilemma. Sofort bot sie uns an, mit ihrem Wagen zum Zielpunkt zu fahren. Dann könnten wir einfach zurückwandern. Doch damit nicht genug: sie zeigte uns noch eine andere historische Stelle (die Northern Bridge, dort sind die ersten englischen Soldaten gestorben) und versorgte uns noch mit Wasserflaschen.

Harpers Ferry ist eine kleine Ortschaft in der Nähe von Washington. Auch hier trug sich Geschichtliches zu: John Brown, Nachfahr englischer Einwanderer, protestierte bereits als junger Mann für die Abschaffung der Sklavenhaltung. Am 17. Oktober 1759 überfiel er zusammen mit 21 Männern das Waffenarsenal der US-Armee in Harpers Ferry. Der geplante Aufstand scheiterte, zahlreiche Anhänger Browns starben. Auch für John Brown nahm die Aktion kein gutes Ende: er wurde gefangen genommen und zwei Monate später gehängt. Aber dieses Ereignis wird als Auftakt zum Bürgerkrieg zwischen den Nord- und Südstaaten genommen, der schließlich auch die Abschaffung der Sklavenhaltung zur Folge hatte. Heute werden in Aufführungen die Kriegsereignisse nachgestellt.
Harpers Ferry ist eine kleine Ortschaft in der Nähe von Washington. Auch hier trug sich Geschichtliches zu: John Brown, Nachfahr englischer Einwanderer, protestierte bereits als junger Mann für die Abschaffung der Sklavenhaltung. Am 17. Oktober 1759 überfiel er zusammen mit 21 Männern das Waffenarsenal der US-Armee in Harpers Ferry. Der geplante Aufstand scheiterte, zahlreiche Anhänger Browns starben. Auch für John Brown nahm die Aktion kein gutes Ende: er wurde gefangen genommen und zwei Monate später gehängt. Aber dieses Ereignis wird als Auftakt zum Bürgerkrieg zwischen den Nord- und Südstaaten genommen, der schließlich auch die Abschaffung der Sklavenhaltung zur Folge hatte. Heute werden in Aufführungen die Kriegsereignisse nachgestellt.

Der Eindruck blieb: sie sind höflich, hilfsbereit und freundlich – die US-Amerikaner. Vielleicht auch noch ein Mentalitätsunterschied.

Warum nun doch „… bei den Mexis“ im Titel schreibe, liegt daran, dass wir nach unserer Rückkehr sofort im mexikanischem Alltag ankamen: wir standen im Dunkeln, denn der Elektriker unserer neuen Nachbarin hatte einfach mal unser Hauptleitungskabel im Flur durchgeschnitten. Die nächste Unverfrorenheit kam dann von der Señora selbst: dieses Kabel hätte überhaupt nicht zu unserer Wohnung gehört und so hätte sie auch das Recht gehabt es zu kappen. Erst als ein anderer Elektriker, den wir dazu gerufen hatten, ihr erklärte, dass das ein Trugschluss sei, wurde sie wieder schmierfreundlich. Der nächste Schrecken kam dann auch noch: sie zieht nicht allein ein, sondern bringt auch noch kleine Kläffer mit. Für die baut sie –ohne Baugenehmigung- einen Balkon. Dafür hat sie zur Straßenseite erst einmal die Außenfassade eingerissen.

Apropos Kläffer: unser anderer Nachbar teilte uns vorgestern mit, dass Rodrigo Anfang September ausziehen werde. Ich sage nur: abwarten. Das nächtliche Singen hat er übrigens aufgegeben, dafür hat er eine andere Beschäftigung während dieser Tageszeit gefunden. Ich dachte zunächst, er würde nun regelmäßig um ein Uhr nachts Möbel in seinem Zimmer verrücken. Dann klärte uns sein Vermieter auf, dass er sich eine manuelle Waschmaschine angeschafft hat, die er um die Uhrzeit bedient.

An meinem zweiten Arbeitstag war ich morgens mit einem Taxi auf dem Weg zur Schule. Aufgrund von Bauarbeiten sind wir nicht die mir gewohnte Strecke gefahren, sondern eine Parallelstrecke. Immer wenn ich sagte, hallo, sollen wir nicht rechts fahren, bekam ich die Antwort vom Fahrer: nee, ich kenne da eine Superstrecke. Bis sich herausstellte, dass er das Colegio mit einer Privatuni ganz im Westen der Stadt verwechselt hatte.

Dann wurde er doch unruhig. Doch irgendwie wurschtelten wir uns zurück, denn ich kannte mich ein wenig dort aus. Wir befanden uns nämlich in der Nähe des Krankenhauses, in dem ich im Frühjahr operiert worden bin. Auf der Gegenseite staute sich der Verkehr kilometerlang und die Autoschlange riss auch bis zur Schule nicht ab, die ich mit einer halbstündigen Verspätung erreichte.

Die Verwaltungssekretärin wurde etwas blass, als ich mitteilte, wo ich denn gerade überall herumgefahren sei. Ob ich sie denn gesehen hätte? Ich: wen denn? Na, sie hätten doch an der neuen Brücke unterhalb des Krankenhauses heute Morgen zwei Männer dort aufgehängt gefunden. Zum Glück habe ich das nicht gesehen, ich war in dem Moment viel zu sehr mit der Suche der richtigen Richtung beschäftigt. Mir wurde doch etwas mulmig: ist das doch eine neue Qualität der Auseinandersetzung der Drogenkartelle hier. Bislang wurde der öffentliche Raum verschont – das gab es bislang nur im Norden (und in der Zeitschrift „Processo“ – die man unter der Fragestellung „Was halte ich eigentlich an Bildern aus?“ durchblättern kann, wenn dort wieder die Gehängten und Geköpften gezeigt werden). Und es zeigt auch, dass sich das in einem der reichsten Stadtviertel abspielt. Ich wurde hinterher auch darüber aufgeklärt, dass die meisten Drogenbosse dort auch leben würden.

Da bleibe ich dort lieber mittelschichtig in Polanco – und bilde mir weiterhin ein, dass hier so etwas nicht passieren kann.

Ich hoffe, euch geht es allen gut und ich höre mal wieder etwas von euch. Bis dahin!

Muchos saludos,
Marion

Mexico: Normalerweise betrügt der Mann die Frau, nicht umgekehrt.

Das Wahrzeichen von Nezahualcoyotl – der Kojote Hambriento. Sein Jaulen hört man nicht in den Straßen dieses Viertels, dafür wohl aber öfter mal Pistolenschüsse. Die Skulptur hat der mexikanische Künstler Enrique Carbajal („Sebastián“) geschaffen, dessen quietschgelbe Pferdeskulptur („el caballito“) das Ende des Boulevards Paseo de la Reforma in der Innenstadt schmückt, die fast jeder Mexiko-Stadt-Besucher zu Gesicht bekommt.
Das Wahrzeichen von Nezahualcoyotl – der Kojote Hambriento. Sein Jaulen hört man nicht in den Straßen dieses Viertels, dafür wohl aber öfter mal Pistolenschüsse. Die Skulptur hat der mexikanische Künstler Enrique Carbajal („Sebastián“) geschaffen, dessen quietschgelbe Pferdeskulptur („el caballito“) das Ende des Boulevards Paseo de la Reforma in der Innenstadt schmückt, die fast jeder Mexiko-Stadt-Besucher zu Gesicht bekommt. (fotos: koerdt)

Dieser Artikel ist der 16. Teil einer persönlichen aber doch politischen Serie über das Leben in Mexico und Mexico-City. Heute bewegen wir uns wieder einmal im kriminellen Milieu. Wegen der zur Zeit fragilen Internet-Verbindung zwischen Mexico-City und Siedlinghausen, konnten noch nicht alle Fotos eingefügt werden. Dies wird nachgeholt, sobald sich die Bits und Bytes wieder wie gewohnt über den Atlantik  kugeln.

Hola a todos!

„Die Welt ist voller Zeichen,
doch für manche sind wir blind.“
Die Sterne
(„Big in Berlin“)

Drogenreviere und Kreidezeichen an Straßenkreuzungen
Was denkt mein Hirn, wenn es wahrnimmt, dass sich ein circa zwanzigjähriger Chico mit Baseballkappe an einer Straßenecke bückt? Mhmm, was wird er denn verloren haben? – Nichts hat er verloren. Im Gegenteil, er wird heute noch etwas gewinnen.

Zwei Chicos am Straßenrand – eben noch hat der Rechte an der Ecke mit Kreide sein Angebot auf das Pflaster gekritzelt. Fotografiert aus dem sicheren Auto.
Zwei Chicos am Straßenrand – eben noch hat der Rechte an der Ecke mit Kreide sein Angebot auf das Pflaster gekritzelt. Fotografiert aus dem sicheren Auto.

Jedenfalls wenn er sich in Ciudad Nezahualcoyotl befindet und sich wie viele junge Männer hier dem Drogengeschäft verschrieben hat. Nachmittags wird mit Kreidezeichen an Straßenkreuzungen das Angebot angepriesen, so wie Kneipiers ihre Tagesangebote auf Schiefertafeln täglich neu darbieten. Die Reviere werden mit „Tags“ auf den Bürgersteigen markiert und am Abend wird verkauft. Manchmal werden anhand dieser Zeichen auch vereinbart, wer wo und wann überfallen wird.

In Ciudad Nezahualcoyotl scheinen sämtliche Autowerkstätten der Stadt versammelt
Ciudad Nezahualcoyotl ist ein östlicher Stadtteil von Mexiko-Stadt. Fast direkt hinter dem Flughafen wuchert ein Viertel von ca. 3 Millionen Einwohnern. Vor 30 Jahren war hier noch Feld, dann entstanden die ersten Hütten, wie meist in Mexiko-Stadt ohne jede Genehmigung. Irgendwann kamen die Wasser- und Stromleitungen hinzu und irgendwann sah Nezahualcoyotl, benannt nach jenem Dichterkönig des historischen Dreibundes im 14. Jh., prosaisch legal aus wie viele Stadtteile jenseits des historischen Stadtzentrums und den Vierteln der Reichen: nicht arm, nicht reich, irgendetwas dazwischen, ein proletarisches Viertel mit einer erwähnenswert gut funktionierenden Infrastruktur. – Auf das fremde Auge wirkt es erst einmal so, dass sich hier sämtliche Autowerkstätten der Stadt versammeln. Die sich tummelnden Klitschen durchziehen Straßenzüge mit Einzelhandelsgeschäften, wovon sich jedes auf ein anderes Autoteil spezialisiert hat. Hier bekommt man den Auspuff, dort die Bremse und im dritten Laden die Fußmatte. Dazwischen wird geschraubt, geschweißt und alles das gewerkelt, was den Wagen wieder flott macht.

Aus Rest-Chevys werden Autos, die fliegen können
Aus diesem Grund waren wir auch hier. Der Patron unseres Parkplatzes in Polanco, Agustin, gab uns den Tipp, dass er jemanden kenne, der jedes Auto wieder fahrbereit kriegen würde.

Hier wird unser Wagen (nicht im Bild) wieder flott gemacht. Man versicherte uns, dass sei kein Problem. Als ich aber die anderen Autos dort sah, habe ich mich ernsthaft gefragt, welche Probleme wohl die Insassen dieser Fahrzeuge jetzt haben.
Hier wird unser Wagen (nicht im Bild) wieder flott gemacht. Man versicherte uns, dass sei kein Problem. Als ich aber die anderen Autos dort sah, habe ich mich ernsthaft gefragt, welche Probleme wohl die Insassen dieser Fahrzeuge jetzt haben.

Er hätte seinen Chevy vom Händler geholt, sofort einen schweren Unfall gehabt, bei dem die hintere Hälfte des Autos abgefahren worden sei – und sein Mirakelschweißer habe aus einem andern und seinem Rest-Chevy ein neues Auto zusammengeschweißt, das eigentlich mehr als fahren, nun fliegen könne. So fuhren wir mit ihm am Samstag vor zwei Wochen dorthin.

Normalerweise betrügt der Mann die Frau, nicht umgekehrt
Agustin meinte, er wisse nicht, wann das letzte Mal ein Ausländer dort gewesen sei. Er sei dort aufgewachsen. Noch hat er sein Haus dort, seine Familie. Aber wie wir auf der Fahrt erfuhren, betrügt ihn seine Frau seit einem halben Jahr mit einem ehemaligen Schulfreund aus der Mittelstufe – und da hat er sie in einem Streit fast erwürgt. Der Machismo, meinte Agustin achselzuckend. Normalerweise betrügt der Mann die Frau, nicht umgekehrt. Daraufhin hat ihn seine Familie rausgeschmissen und er wohnt zur Zeit auf dem Parkplatz, den er sonst bewirtschaften lässt, hier bei uns in Polanco, mit seinem Hund Chacaron, einer Mischung aus Boxer und Bulldogge. Die Bilanz der gescheiterten Ehe: 23 Jahre mit wundervollen, aber auch tragischen Momenten, drei Kinder zwischen 23 und 15 Jahre. – Ich saß auf der Rückbank und sah dort Ratgeber mit Titeln wie „Scheidung – und dann?“ oder „Wie überlebe ich eine Scheidung?“. Fragen, die sein Leben wohl momentan bestimmen. Die Scheidungsrate in Mexiko ist nach wie vor sehr niedrig, während in Deutschland ja fast jede dritte Ehe vor dem Scheidungsrichter endet. Er fragte uns, was man eigentlich so am Wochenende mache, denn bislang hatte er ja seine Familie. Warum er tatsächlich keine Idee hatte, wurde mir klar, als ich erfuhr, wie alt er ist: 40 Jahre. Dementsprechend hat er sich seit seinem 18. Lebensjahr um seine Familie gekümmert und die typische Ausgehsozialisation nicht miterlebt.

„Raubt die, die Arbeit haben, aus.“
Agustin hat aber miterlebt, wie dieser Stadtteil entstand und auch, wie vor ungefähr 10 Jahren die Drogengeschäfte das Straßenbild veränderte. Bis dahin konnten seine Kinder unbedenklich draußen spielen. Heute würde auch er sich nur noch im Auto draußen bewegen. Schießereien? Ja, die würde es auch geben. An Waffen zu kommen sei nicht schwer. Eine Stadt von ca. 3 Millionen Einwohnern, von denen ungefähr 100 000 eine Arbeit hätten. „Und der Rest?“ – „Raubt die, die Arbeit haben, aus.“ – Auch eine Sozialstruktur.

Die schöne Seite von Nezahualcoyotl
Zwei Samstage später sind wir wieder mit Agustin unterwegs Richtung Osten. Der Wagen ist immer noch nicht fertig, nimmt aber langsam wieder die alte, unzerknautschte Form an. Die Achse ist gerichtet, die Seite lackiert. Da wir Zeit haben, bis der Wagen in eine andere Werkstatt kommen soll, zeigt uns Agustin die schöne Seite von Nezahualcoyotl, einen kleinen Tierpark. Er sei schon lange nicht mehr hier gewesen, die Kinder waren noch klein. Jetzt wollen seine zwei Töchter keinen Kontakt mehr mit ihm haben.

La hermana negra (die schwarze Schwester) – ein Schauglaskasten in Nezahualcoyotl. Der Volksglaube sagt, dass das Leben eben auch eine dunkle Seite hat. Wie finster die sein kann, ist wohl auch immer eine Frage des Standortes.
La hermana negra (die schwarze Schwester) – ein Schauglaskasten in Nezahualcoyotl. Der Volksglaube sagt, dass das Leben eben auch eine dunkle Seite hat. Wie finster die sein kann, ist wohl auch immer eine Frage des Standortes.

Die Ehe-Frau versucht, ihn im Schlaf mit einem Messer zu erstechen
Warum denn nicht? Seine Frau habe schließlich ihn betrogen. Ja, aber er hat in einem Wutunfall auch das Möbiliar des Hauses zerschlagen und seitdem hätten sie Angst vor ihm. Bei anschließendem Mittagessen erzählt er von den Höhen und Tiefen seiner Ehe. Vor ein paar Monaten hätte seine Frau versucht, ihn im Schlaf mit einem Messer zu erstechen. Nachts um drei. Er sei aber wach geworden.

Drei Menschen umgebracht
Christopher versucht galant das Thema zu wechseln: was er denn ursprünglich beruflich gemacht hätte. Er sei ja schließlich nicht immer Parkplatzbewirtschafter gewesen. Nein, er habe ursprünglich Verwaltungswissenschaften studiert, hätte dann aber das Angebot bekommen, als Bodyguard für einen Geschäftsmann aus Toluca zu arbeiten. Das sei vor zehn Jahren gewesen. Ob das gefährlich gewesen sei? Agustin zuckt die Schultern. Wie Christopher dann beim Nachtisch auf die Frage kam, ob er jemanden umgebracht hätte, weiß ich nicht (ich habe mal einen Bodyguard von Michael Schumacher kennen gelernt und der hatte mir erzählt, dass man selbst in heiklen Situationen versucht, den Angreifer mit Kampfsport zu überwältigen). Ich jedenfalls erfuhr dann, während ich meinen Käsekuchen mit Waldbeerenbelag verspeiste und meine zweite Tasse Kaffee trank, dass Agustin während seiner Bodyguard-Zeit drei Menschen umgebracht hat. „Immer in Notwehr“, so Agustin.

Ein glatter Kopfschuss
Einmal wurde auf den Wagen mit Sicherheitsglas, den er fuhr, in der Absicht geschossen, ihn in den Kopf zu schießen. Da hat er zurückgeschossen und den Angreifer mit einem glatten Kopfschuss getötet. Zweimal hätte er mit einem gezielten Schlag auf die Kehle und einem Luftröhrenbruch die Leute getötet. Sein Chef sollte entführt werden. Nein, juristische Konsequenzen hätten diese Vorfälle nicht gehabt.

Agustin kommt wieder – um Fleischklößchen zu kochen.
Dem Geschäftsmann aus Toluca gehöre auch der Parkplatz in Polanco, den er nun bewirtschaftet. Er würde jetzt dasselbe verdienen, hätte aber mehr Ruhe. Welche Geschäfte dieser Unternehmer denn genau mache, erfuhren wir nicht. Dafür kommt aber Agustin in zwei Wochen bei uns vorbei, um „albondigas“ (Fleischklößchen) und „papas picantes“ (scharf gewürzte Kartoffeln) zuzubereiten. Das könne er nämlich sehr gut, denn das hätte er auch häufig für seine Familie so gemacht.

Ob wir dann von weiteren Leichen erfahren, erfahrt ihr im nächsten Teil.

Muchos saludos y hasta pronto,
Marion

Mexico: „Was kann ich denn dafür, wenn ich Drogen zu den verhassten Gringos schmuggle? Was kann ich denn dafür, dass mir der Typ direkt vor die Knarre lief?“

Hier verbringt Rodrigo gerne seine Nächte - leider singenderweise. Tagsüber wäscht er auch schon mal seine Wäsche den Wasserbehältern vorne im Bild. Die ja eigentlich für die Wasserversorgung im Haus bestimmt sind. (fotos: koerdt)
Hier verbringt Rodrigo gerne seine Nächte - leider singenderweise. Tagsüber wäscht er auch schon mal seine Wäsche den Wasserbehältern vorne im Bild. Die ja eigentlich für die Wasserversorgung im Haus bestimmt sind. (fotos: koerdt)

Dieser Artikel ist der 15. Teil einer persönlichen Serie über das Leben in Mexico und Mexico-City. Heute fährt die Autorin Taxi und macht sich viele Gedanken über das „Prinzip Verantwortung“. Wir wünschen viel Spaß beim Lesen.

¡Hola a todos!

„Unsere mexikanischen Ahnen glaubten weder, der Tod gehöre ihnen, noch glaubten sie, ihr Leben sei wirklich – im christlichen Sinne des Wortes – ihr Leben. Alles verband sich, um gleich bei der Geburt Leben und Tod eines jeden Menschen festzulegen: soziale Zugehörigkeit, Ort, Jahr, Tag und Stunde der Geburt. Der Azteke war ebenso wenig verantwortlich für seine Taten wie für seinen Tod.“

Octavio Paz
„Über die Fiesta und den Tod“
in: „Das Labyrinth der Einsamkeit“ (1950)

Betrachtet man heute die beherrschenden Ereignisse im Norden des Landes, mag der Essay des mexikanischen Autoren und Literaturnobelpreisträgers von 1990 einen Zugang bieten, um das schier Unverständliche aus dem eurozentrisch geschulten Blick verständlicher zu machen. Man gewinnt den Eindruck, dass sich seit Hernán Cortés‘ blutiger Conquista und der Eroberung Tenochtitlans (dem heutigen Mexiko-Stadt) im Jahre 1521 das Verhältnis zur Verantwortung wenig geändert hat. Was kann ich denn dafür, wenn ich Drogen zu den verhassten Gringos schmuggle? Was kann ich denn dafür, dass mir der Typ direkt vor die Knarre lief? Was kann ich denn dafür, dass mir der Boss sagt, ich soll ihm auch noch den Schädel absäbeln? Ja, was kann ich denn dafür?

Sieht eigentlich ganz friedlich aus: der hiesige Taxistand vor dem Supermarkt. Aber manchmal kommen die dortigen Taxifahrer auf komische Ideen, um an ihr Geld zu kommen.
Sieht eigentlich ganz friedlich aus: der hiesige Taxistand vor dem Supermarkt. Aber manchmal kommen die dortigen Taxifahrer auf komische Ideen, um an ihr Geld zu kommen.

Als ich am vergangenen Freitag ein Taxi bestieg, um zum jährlichen Schulball zu gelangen, gab mir der Fahrer nach der Anfahrt zu verstehen, dass er nur ungefähr wisse, wohin ich denn wolle. Die Straße kenne er, aber er wisse nicht, wo genau das „Casino de Bosques“ sei. Ich hatte die Adresse inklusive der Hausnummer 500, so dass ich darin überhaupt kein Problem sah. Dass es doch eins wurde, wie ich feststellen musste, lag daran, dass die Mexikaner wohl ein eher lockeres Verhältnis zu ihren Hausnummern auf dieser Straße pflegen. Nach 748 kam 656 und dann 438. Doch keine 500. Nachfragen an die ortskundigen Mitmenschen am Straßenrand führten dann dazu, dass wir sämtliche Restaurants im naheliegenden Chapultepec-Park abfuhren. Alle Versuche Kollegen au ihren Handys zu erreichen, endeten auf deren Mailboxen.

Nach knapp zwei Stunden Herumgeirre landeten wir in einen Stau. Dort fragten wir wieder einen netten Mitmenschen und der sagte voller Überzeugung, das Casino sei direkt um die Ecke. Nur bei diesem Stau sei es doch sinnvoller, eben zu Fuß dahin zu gehen. Daraufhin bog der Taxifahrer aus dem Stau heraus in eine Seitengasse und ich wollte aussteigen. Da wir ja ewig lange unterwegs waren, dachte ich, es sei ja total nett von mir, wenn ich ihm ein paar Pesos mehr als den ausgehandelten Fahrpreis gäbe. Doch er verlangte noch einmal 100 Peso mehr. In meiner Verwegenheit sagte ich „nö“. Nur leider hatte ich schlechte Karten, denn die Türen waren automatisch abgeriegelt und ich kam nicht heraus. Und als er dann auch noch anfing in seinem Handschuhfach herumzukramen (kurz vorher hatte er auch noch mit dem Handy eine SMS abgesetzt), wurde es mir doch ein wenig mulmig und ich konnte ihm seine Bitte, den Fahrpreis einfach ‚mal um 120% zu erhöhen, nicht mehr abschlagen. Er entriegelte daraufhin auch sofort die Türen und ich sah zu, dass ich Land gewann. Ich brauche wohl nicht erwähnen, dass das Casino um die Ecke das falsche war. In der Zwischenzeit konnte ich aber endlich eine Kollegin telefonisch erreichen, die mir den Weg erklärte. So ging ich zum nächsten Taxistand und war in 15 Minuten am Veranstaltungsort.

Ja, wer ist denn dafür verantwortlich? Hier im Viertel wählte man die Straßennamen nach ausländischen Dichtern und Denkern. Doch wenn dann mal drei Namen zusammenkommen, kann es schon kompliziert werden. Außerdem wird es die Dänen allgemeinhin nicht freuen, dass hier jeder den Herrn Hans für einen Deutschen hält.
Ja, wer ist denn dafür verantwortlich? Hier im Viertel wählte man die Straßennamen nach ausländischen Dichtern und Denkern. Doch wenn dann mal drei Namen zusammenkommen, kann es schon kompliziert werden. Außerdem wird es die Dänen allgemeinhin nicht freuen, dass hier jeder den Herrn Hans für einen Deutschen hält.

Der Witz bestand einfach darin, dass er einfach auf der anderen Straßenseite hinter einer Mauer lag (von der ich dachte, sie würde noch zum daneben befindlichen Friedhof gehören) und von der Straße aus nicht sichtbar war. Außerdem funktioniert dort einfach nicht das Prinzip, dass auf der einen Seite die geraden und auf der anderen die ungeraden Zahlen sind. So einfach war das. Warum ich dann am Eingang so angeglotzt wurde, habe ich zunächst auch nicht verstanden. Hatte meine Kollegin bereits den Türstehern mitgeteilt, dass gleich eine kommt, die eine Taxi-Odyssee hinter sich hat und womöglich etwas verwirrt wirkt? Im Saal irrte ich durch die Reihen auf der Suche nach ihr. Endlich erspähte ich sie in einer Ecke mit einem weiteren Kollegen. Und erst als ich stillstand, verstand ich, warum ich alle Blicke auf mich gezogen hatte. Ein Träger an meinem Kleid war gerissen und damit lief ich quasi halbfrei durch die Gegend (zum Glück mit BH). Eine Sicherheitsnadel hat mir dann noch den Abend gerettet.

Am nächsten Tag ging ich zum Taxistand, von dem ich den Abend vorher losgefahren bin. Natürlich fühlte sich keiner dafür verantwortlich. Im Gegenteil: schließlich musste der Kollege doch zusehen, dass er sein Geld bekommt.

Verantwortlich fühlte sich scheinbar niemand hier im Haus für die Wasserpumpe, als wir im letzten Jahr hier einzogen. Daraufhin beauftragte Christopher einen Klempner und nach einigem Hin und Her stimmte der Wasserdruck auch wieder. Nun stand auf einmal in der letzten Woche mein Nachbar aus der über uns liegenden Wohnung abends vor unserer Tür. Ob Christopher da sei? „Nö“, meinte ich. Dann bekam ich 400 Peso (rund 25 Euro)  in die Hand gedrückt, er wolle sich bedanken. Wofür? Na ja, mit dem Wasserdruck, darum hätte Christopher sich doch gekümmert. Jaja, schon, aber das ist doch schon lange her. Er hätte das nicht gewusst und jetzt erst von der „Person“ erfahren. Die „Person“ heißt Rodrigo und wohnt ebenfalls in der Wohnung über uns. Anfangs dachte ich, Rodrigo sei Student und wohne dort mit seiner Mutter und seiner Großmutter. Irgendwann einmal waren die Frauen weg, nur Rodrigo blieb. Und wie er blieb: Er verlässt nämlich eigentlich nie das Haus und singt zu jeder Tages- und Nachtzeit Kirchenchoräle und -kantaten. Kurzum: Rodrigo macht überhaupt nichts außer beten und singen.

Nun war an diesem Abend endlich mal die Gelegenheit den Señor zu fragen, in welchem Verhältnis er eigentlich zu Rodrigo stünde. Ist das der Sohn seiner ehemaligen Lebensgefährtin, sein Neffe oder wer ist er? Er stünde in überhaupt keinem Verhältnis zu dieser Person, wie er mir dann in vollem Brustton erklärte. Er sei auf einer längeren Geschäftsreise gewesen und hätte einen Bekannten gebeten, in der Wohnung nach dem Rechten zu sehen. Als er wiederkam, waren fünf Leute in der Wohnung. Von seinem Bekannten hat er nie wieder etwas gehört. Die Leute verschwanden dann auch wieder nach und nach. Nur Rodrigo blieb. So sei das eben in Mexiko, erklärte er mir lapidar. Er schüttelte seinen Kopf, als ich ihn fragte, ob Rodrigo denn einen Vertrag hätte und Miete zahlen würde. Daraufhin schlug ich ihm vor, er müsse doch nur mal abwarten, dass Rodrigo das Haus verlasse (ab und an hatte er jedenfalls in der Vergangenheit Kirchenchor-Proben). Dann solle er schnell dessen Sachen zusammenpacken und das Türschloss auswechseln. Mhmm, auf die Idee sei er noch gar nicht gekommen und bedankte sich bei mir für diesen grandiosen Vorschlag.

Mir wäre das wirklich ganz recht, schließlich verbringt Rodrigo so manche Nacht auf dem Flachdach (wenn er dem Señor nicht begegnen möchte) und schmettert dort herum. Dafür kann Rodrigo bestimmt nichts. So ist das wohl mit der Verantwortung in Mexiko.

Das ist ein Abstellraum auf unserem Flachdach, den Rodrigo liebevoll gestaltet hat. Die Zeilen links bedeuten:  "Oh Jesus, ich liebe dich meine Festung Jesus, mein Fels mein Schloß und mein Befreier Mein Gott, meine Festung der ich vertraue Mein Schutzschild, und die Stärke  meiner Rettung, mein höchster Schutzort."
Das ist ein Abstellraum auf unserem Flachdach, den Rodrigo liebevoll gestaltet hat. Die Zeilen links bedeuten: "Oh Jesus, ich liebe dich meine Festung Jesus, mein Fels mein Schloß und mein Befreier Mein Gott, meine Festung der ich vertraue Mein Schutzschild, und die Stärke meiner Rettung, mein höchster Schutzort."

Und als mich kürzlich ein Kollege fragte, wer denn dafür verantwortlich sei, dass eine Straße plötzlich ohne Vorwarnung durch eine Betonkante beendet wird (die ja unseren Unfall verursacht hat), konnte ich auch nur schmunzeln – der Verkehrsminister, die Straßenwacht das Städtchen El Progeso? – und mich weiterhin darüber wundern, warum überhaupt das Wort „responsibilidad“ hier existiert.

Dieser Text entstand übrigens in voller Eigenverantwortlichkeit. Wer nichts mehr von mir lesen möchte, kann sich vertrauensvoll an mich wenden. Aber dann selbst die Verantwortung dafür tragen, wenn ich beleidigt reagieren werde.

Ich hoffe, euch allen geht’s gut und ich lese oder höre auch ‚mal wieder ‚was von euch.

Muchos saludos desde México,
Marion

Ciudad Mexico: Eine Clavicula-Fraktur und die Erfahrungen mit dem mexikanischen Gesundheitssystem.

Trotz Krankenhaus und alledem gibt es einen sonnigen Frühling in Mexiko-Stadt
Trotz Krankenhaus und alledem gibt es einen sonnigen Frühling in Mexiko-Stadt

Dieser Artikel ist der 13. Teil einer persönlichen Serie über das Leben in Mexico-City. Heute wird klar, dass man auch in Mexico  dem Tod von der Schippe springen muss. Der Preis war für Marion zwar hoch, wird aber nicht unbezahlbar sein. Trotz alledem wünschen wir viel Spaß beim Lesen.

Hola a todos!

Voll vermullt. Das Schlüsselbein mit Edelstahlklammern zusammengeflickt.
Vermullt: das Schlüsselbein mit Edelstahlklammern wieder zusammengeflickt

Hätte man mich vor ein paar Wochen gefragt, was denn Clavicula sei, ich hätte es nicht gewusst. Wahlweise hätte ich zwischen einem Musikinstrument -ähnlich einer Ziehharmonika- oder dem Namen einer ostafrikanischen Musikgruppe, die auf dem Putumayo-Label vertreten ist, getippt. Doch weit gefehlt, denn Clavicula liegt mir viel näher als ich dachte. Es ist der lateinische Begriff für Schlüsselbein und wird ebenso im Spanischen benutzt.

Vor zwei Wochen waren Christopher und ich mit Besuch aus Deutschland auf dem Weg zu den grutas de tolantongo. Ein Naturreservat ca. 130 km nördlich von Mexiko-Stadt. Wie weit es genau weg ist, weiß ich leider nicht, denn wir kamen nicht dort an.

In der Finsternis
Es dämmerte bereits, als wir auf einer scheinbar gut ausgebauten Landstrasse mit ungefähr 80 km/h fuhren und innerhalb kürzester Zeit wurde es stockdunkel. Plötzlich ein kurzer Aufschrei: da ist was. Ich saß hinter dem Fahrer, spähte kurz in die Mitte und sah, dass mitten auf unserer Fahrbahn eine mehr als bordsteinkantehohe Betonbegrenzung unvermittelt die Strasse trennt. Kein Licht, kein Schild, nichts, was darauf hingewiesen hätte. Ich dachte nur: och, Christopher schafft das schon.

Und dann war es nicht nur draußen dunkel.

Nach dem Unfall
Als ich wieder zu mir kam, stand unser Wagen quer auf der Fahrbahn. Um uns herum viele Leute. Etwas benommen nahm ich wahr, dass ich meine rechte Hand nicht fühlte und instinktiv griff ich mir an die rechte Schulter. Dort, wo normalerweise ein Knochen ist, war ein Loch. Was ist mit den anderen? Was ist überhaupt passiert? Ich kletterte aus dem Wagen. Zum Glück konnte das Auto noch zur Seite gefahren werden, so dass nicht noch jemand in dieser Finsternis hinein fuhr. Aus reinem Aktionismus wechselte ein anwesender Mexikaner noch den linken Hinterreifen. Dann ging alles ganz schnell: ein Krankenwagen kam, die Polizei, ich wurde mit unserem Besuch zu einem Provinzkrankenhaus in die nächst größere Ortschaft gefahren, Christopher blieb mit der Polizei zurück.

Meine Erleichterung war groß, als ich erfuhr, dass die anderen drei mit Blessuren und einem Schrecken davon gekommen waren.

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Kanülen und Einstiche. Am Ende blieben blaue Flecken.

Das Orts-Hospital
Nach dem Röntgen im Krankenhaus bekam ich auch die Gewissheit, dass meine Blessur etwas schwerwiegender war: das rechte Schlüsselbein war mehrfach gebrochen und müsste operiert werden. Nur: hier in Progreso, der kleinen Ortschaft –was ja auf Deutsch Fortschritt bedeutet- war das nicht möglich. Was vielleicht im Nachhinein auch Glück war: wenn auch das Personal sehr freundlich war, waren ihre Mittel doch sehr begrenzt. Von dem Versuch, mir in den linken Handrücken eine Kanüle zu verlegen, trage ich -auch zwei Wochen danach- eine flächendeckende grün-blaue Verfärbung dort. Von dem Örtchen selbst habe ich nicht mehr viel gesehen.

Die OP
Mein Besuch war in der Nacht in ein Hotel untergebracht worden, wo die Zimmertür sich nicht abschließen ließ und die Möglichkeit in dem Ort einen Kaffee zu kaufen, waren wohl mehr als begrenzt. Es gab wohl gar nichts. Am nächsten Morgen – nachdem man mich noch einmal mit Schmerzmitteln voll gepumpt hatte- wurde ich von Kollegen, mit denen wir ursprünglich zum Nationalpark fahren wollten (die waren dort angekommen, wussten aber auch sofort, wo unsere Unfallstelle war, denn ihnen wäre es dort fast genau so gegangen) abgeholt und in eine Privatklinik nach Mexiko-Stadt gebracht.

In einer dreistündigen OP wurde mir das Schlüsselbein mit Edelstahlklammern wieder zusammengeflickt. Auch über die anschließende Behandlung kann ich mich nicht beschweren. Doch nun kommt natürlich der Punkt, der das möglich gemacht hat: wenn ich in Deutschland nicht eine Auslandskrankenversicherung abgeschlossen hätte, wäre dabei locker mehrere Monatsgehälter von mir dabei draufgegangen. Denn mit dem staatlichen mexikanischen Gesundheitssystem wäre es mir bei weitem nicht so gut ergangen.

Das Gesundheitssystem
Und das bringt mich zum nächsten Punkt. Also, das staatliche mexikanische Gesundheitssystem hat staatliche Krankenhäuser, in dem sich jeder Arbeitnehmer krankschreiben lassen muss, wenn er weiter seinen Lohn beziehen möchte. Nun gut, kurz das Positive: das ist ja schon mal etwas für ein Schwellenland. Nur die Schikanen, die damit verbunden sind, werfen doch einen nicht geringen Schatten darauf.

Das IMSS
So saß ich in der letzten Woche lange in einem so genannten IMSS-Krankenhaus, um dann von der mir zugewiesenen Ärztin zu erfahren, dass meine Unterlagen nicht ausreichend seien. Doch damit nicht genug: ihre Zwischentöne gingen immer in die Richtung, warum ich gringa eigentlich ihr System missbrauche. Freundlich lächelnd ging ich über die Bemerkungen hinweg, irgendwie war mir nicht nach Ärger. Mit ihrem Zettelchen, auf dem sie mir notiert hatte, was mir denn noch so fehlte, ging ich zu meinem behandelnden Arzt. Dann wieder zur imss. Zwei Stunden Warten, dann wieder diese Ärztin, die wieder meinte, das sei unzureichend. Diesmal war noch eine weitere Ärztin im Zimmer, die darauf hinwies, ich müsse gar nicht in das Behandlungszimmer, sondern zur Verwaltung. Daraufhin platzte Christopher, der diesmal mit dabei war, was das denn diese Schikanen sollen. Ich hingegen ärgerte mich über mein Lammsein, wahrscheinlich täte es mir auch besser, ab und an solchen Leuten die Meinung ins Gesicht zu brüllen. Und mir nicht ständig Gedanken darüber zu machen, ob das nun rassistisch sei, nur weil das gegenüber eine andere Nationalität hat.
Kurzum: bislang ist immer noch offen, ob ich eine Lohnfortzahlung bekomme, auch kann mir niemand eine genaue Info geben, ob die denn 100% oder nur 70% beträgt.

Die Lehren
Ich kann nur sagen, der Behördenirrsinn hier kann sich locker mit dem deutschen messen. Jedoch muss ich leider auch anmerken, dass die Wahrscheinlichkeit in Deutschland auf eine unbeleuchtete bzw. nicht beschilderte plötzlich auftretende Fahrbahntrennung zu treffen, eher gering ist. Dafür aber wieder gelernt, was jeder Reiseführer sagt: nachts besser nicht auf Landstraßen unterwegs sein. Und immer anschnallen. Denn ich möchte mir nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn wir unangeschnallt gewesen wären.

Jedenfalls führte das in der letzten Woche schon einmal dazu, dass alle Taxifahrer sich, mit denen ich zu den diversen Krankenhäusern gefahren sind und nachdem ich ihnen meine Unfallgeschichte erzählt habe, angeschnallt haben.

Des weiteren bin ich momentan krankgeschrieben, was ich aber weniger bedauerlich finde. So bleibt viel Zeit zum Lesen.

Fukushima und das mexikanische AKW
Hier in Mexiko ist der Schock über die Katastrophen in Japan auch sehr groß. Besonders nachdem es zunächst hieß eine radioaktive Wolke könnte hierher ziehen. Doch seit einer Woche ist davon keine Rede mehr. In Veracruz, an der Ostküste, steht das einzige Atomkraftwerk des Landes. Als es gebaut wurde, gab es wohl Proteste, aber im Augenblick ist es ruhig. Auch wenn ich es nun nur aus der Ferne verfolgen kann, bin ich doch froh, welcher Widerstand gegen Atomkraft in Deutschland sich nun wieder bildet. Nur: wenn ich auf Frankreich und seine Atomkraftwerkdichte blicke, bleibt da ein Unbehagen.

Also, wenn ihr nicht gerade protestiert, wünsche ich euch einen nun hoffentlich warmen entspannten Frühlingsanfang.

Muchos saludos desde México,
Marion

Ciudad Mexico: Abermillionen Monarch-Falter, gedankenloser Sprachgebrauch und die Leidenschaft der Lenden.

Einer der Hauptpersonen des heutigen Berichts: vereinzelter Monarch-Falter; ansonsten mögen die schon die Gemeinschaft. (fotos: koerdt)
Einer der Hauptpersonen des heutigen Berichts: vereinzelter Monarch-Falter; ansonsten mögen die schon die Gemeinschaft. (fotos: koerdt)

Dieser Artikel ist der zwölfte Teil einer persönlichen Serie über das Leben in Mexico-City. Sämtliche bisher erschienen Artikel sind hier zu finden.  Lange haben wir nichts mehr von Marion gelesen, dafür haben wir heute einen umso üppigeren Bericht erhalten. Viel Spaß beim Lesen.

Hola a todos!

Tja, eigentlich wollte ich als erstes spannende Sachen aus dem Gebiet der Flora und Fauna berichten, doch dann kommt mir mal wieder wahrscheinlich Allzumenschliches dazwischen. Als ich in der letzten Woche im Badezimmer rumwurschelte und das Fenster öffnete, hörte ich unseren neuen Nachbarn mit unglaublich lautem Geschrei aus seiner Wohnung.

Deutschland, Deutschland, Sieg Heil.
Schnell kristallisierte sich heraus, dass sein Gebrüll harmlos ist, denn er schien mit dem kleinen Chico, der seit einigen Tagen bei ihm wohnt – vielleicht sein Neffe oder sein gerade wieder entdeckter Sohn -, Computer zu spielen. Zwischendurch durfte sich der Kleine für seine Niederlagen verhöhnen lassen, bevor unser Nachbar zu einem Tremolo ansetzte: Deutschland, Deutschland, Sieg Heil, Sieg Heil.

Ich traute meinen Ohren nicht (Was haben die denn da gespielt? Ich bin Nazi und mach die Juden platt???) und traue mich ihm gegenüber nun auch nicht mehr so unbefangen über den Weg. Als er mir im Flur begegnete, war ich sehr wortkarg. Ich weiß, dass da wohl keine weiteren Hintergedanken dahinter stecken, dennoch macht mich diese scheinbare Gedankenlosigkeit wütend.

Gedankenloser Antisemitismus
Genauso wütend wurde ich beim Besuch der hiesigen Schweizer Schule vor ein paar Wochen, als ein Schweizer Lehrer den vorherigen Zustand der Schulbibliothek mit folgenden Worten beschrieb: „Das sah hier aus wie ein KZ!“ Worauf ich nur bemerken konnte: „Wieso? Haben Sie hier Juden zu Tode arbeiten lassen?“ Schon ein bisserl länger ist es, dass ich am Flughafen stand und dort von einer Mexi-Deutschen angesprochen wurde, die bereits in dritter Generation hier lebt. Wo ich denn wohnen würde? Als ich sagte in Polanco, verzog sie ihr –wohl schon mehrere Male geliftetes- Gesicht und stieß angewidert hervor: „Im Judenviertel??? Wo kann man denn dort wohnen???“ Ja, es stimmt, hier in Polanco leben die meisten Juden südlich von New York. Es gibt mehrere Synagogen, sie laufen hier durch die Strassen und fallen sonst nicht weiter auf.

Ein phantastisches Naturschauspiel – Abermillionen Monarch-Falter

Sieht es nicht aus wie im Sauerland?
Sieht es nicht aus wie im Sauerland?

So, nun aber zur Fauna. Vor drei Wochen durften wir Augenzeugen eines phantastischen Naturschauspiels werden. Das Santuario de las Mariposas Monarca ist ein ca. 20 Hektar großes Naturreservat im Bundesstaat Michoacán.

Jeden Herbst ziehen Abermillionen Monarch-Falter aus Zentral- und Ost-USA wie auch aus dem südlichen Kanada zu ihrem Winterreservat in Mexiko. Über 4000 Kilometer legen die Schmetterlinge dabei zurück. Durch die Kühle, die hier auf der Höhe von ca. 3000 Metern auf dem Hügel herrscht, sind sie recht träge und deswegen auch ein dankbares Foto-Motiv.

Die Fichten-Wälder erinnern doch sehr stark an deutsche Mittelgebirgslandschaften, und wenn die Falter zu Tausenden an den Nadelhölzern hängen, entsteht durch ihre braun-orangene Färbung der Eindruck, als sei man in einem deutschen Laubwald gelandet. Sinnvollerweise sind viele Wege abgesperrt, damit die Tiere ihre Ruhe haben. Hier paaren sie sich, die meisten sterben, die neue Generation macht sich im März wieder auf Richtung Norden. Woher sie ihre Route kennen und wie sie sich orientieren, ist immer noch ein Rätsel.

Die größte Gefahr für den Touristen – der Einheimische und der Herzinfarkt

Alles Glück der Erde liegt auf den Rücken der Pferde. Ob das auch für Papas Rücken gilt, mag beim Gesichtsausdruck dieses Kindes bezweifelt werden. Da der Mexi aber nicht ohne seine Familie kann, wird alles zwischen 0 und 100 auf den Berg gezerrt.
Alles Glück der Erde liegt auf den Rücken der Pferde. Ob das auch für Papas Rücken gilt, mag beim Gesichtsausdruck dieses Kindes bezweifelt werden. Da der Mexi aber nicht ohne seine Familie kann, wird alles zwischen 0 und 100 auf den Berg gezerrt.

Als ich meinem Deutsch-Kurs davor erzählte, wohin wir am Wochenende wollten, bekam eine Frau einen Schrecken: das sei doch viel zu gefährlich. Worin genau die Gefahr bestand, erschloss sich mir nicht so genau. Wahrscheinlich weil man dort unter gewöhnlichen Durchschnittsmexikaner ist. Aber nicht nur die: zahlreiche US-Amerikaner tummelten sich auch auf dem Hügel. Besondere Kennzeichen: schlecht verschmierte Sonnencreme, Sonnenbrille und – warum immer auch immer – mitsamt alle weit über 70. Da der Aufstieg wirklich nicht ohne ist – innerhalb kürzester Zeit überwindet ungefähr 500 Höhenmetern – besteht wohl die größte Gefahr darin, dass ein Ami mit Herzinfarkt am Wegesrand liegt.

Einführung in die Ökonomie der Floristik: warum lässt der Blumenhändler Tulpen vergammeln?
Ach ja, die Flora: so freute ich mich dann auch, als ich bei den Blumenhändlern (die hier wirklich an fast jeder Straßenecke einen kleinen Stand haben) Tulpen entdeckte. Flugs schnappte ich mir einen Bund mit neun Tulpen. Der Verkäufer strahlte mich an, ich strahlte zurück, fragte, wie teuer die denn seien und dann war es auch schon mit meinem Strahlen vorbei: er wollte umgerechnet fast 30 Euro für den Bund. Kein Wunder, dass er so gestrahlt hat, schließlich wäre ich ja ein gutes Geschäft gewesen. Jetzt weiß ich wenigstens: die Tulpe gilt als super-exklusiv. Und wird wegen ihres hohen Preises fast nie gekauft. In den folgenden Tagen beobachtete ich, wie die Tulpen in den kleinen Lädchen sich öffneten, langsam die Köpfe hängen ließen und dann unter dem Tisch verschwanden. Ob das gute Preispolitik ist?

Dahlien sollen essbar gewesen sein
Und noch was Floristisches: die Dahlie wurde ursprünglich aus Mexiko nach Europa eingeführt, nicht, weil sie unser Auge so erfreut, sondern weil man die Knollen essen konnte. Aber bitte jetzt nicht versuchen: ich habe gehört, die heutigen Pflanzen sind ganz anders gezüchtet und ich weiß nicht, ob die noch genießbar sind.

Der reichste Mann der Welt eröffnet ein Museum
Genug Blumiges für heute, schließlich strahlt hier die Sonne und die Stadt will weiter entdeckt werden. Apropos entdecken: auf unserem Arbeitsweg fuhren wir in den letzten Monaten an einer Baustelle vorbei. Christophers Vermutung war, es könne ein neues Parkhaus sein. Aber weit gefehlt: Carlos Slim wird dort sein neues Museum eröffnen. Der reichste Mann der Welt hat nicht nur das meiste Geld, sondern auch eine riesige Kunstsammlung, in der sich u.a. die größte private Rodin-Sammlung befindet. Seitdem ich das weiß, lauere ich der Eröffnung entgegen, die aber erst Ende März sein wird. Die lateinamerikanische Prominenz durfte jetzt schon rein: in einem Zeitungsartikel stellte ich dann verwundert fest, dass Garcia Marquez ja immer noch lebt (nun gut, Fidel Castro lebt ja auch noch). Ich bin guten Mutes, dass die Eröffnung dann wirklich in ein paar Wochen sein wird, aber hier in Mexiko weiß man ja nie.

Texcoco: der verschwundene See und der Gestank

Hier badete schon der König (wahrscheinlich nicht allein). Ob die Graffitis auch von ihm sind, mag bezweifelt werden.
Hier badete schon der König (wahrscheinlich nicht allein). Ob die Graffitis auch von ihm sind, mag bezweifelt werden.

So lange ich nicht weiß, was die Zukunft bringt, habe ich ja noch ausreichend Gelegenheit, mich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Rund 20 Kilometer von der östlichen Stadtgrenze entfernt liegt Texcoco. Die Stadt ist nach dem Texcoco-See benannt, der einst hier war. Die Aztekenhauptstadt Tenochtitlán lag auf einer Insel in diesem See, der ca. sechsmal größer als der Bodensee war. Fast nicht vorstellbar, wie die Spanier es geschafft haben, den See zurückzustauen und trockenzulegen. Heute ist nur noch eine Pfütze zwischen Mexiko-Stadt und Texcoco übrig geblieben. Es fällt auf, dass die Hauptstadt nicht in diese Richtung weiter expandiert und man über eine Autobahn diese knappen 20 Kilometer durch unbebautes Gebiet fährt. Wenn man jedoch die Fensterscheibe öffnet, kann man eine ungefähre Vorstellung davon bekommen, warum hier keine Häuser sind: ein Gestank von Müll und Kloake dringt penetrant in die Nase. Und man hat keine Vorstellung davon, was eventuell in dem See-Rest verkappt wird. Texcoco hingegen wirkt wie eine typische mexikanische Mittelstadt, am Ortsrand liegt ein großer Park und in dessen Nähe der Cerro Tlaloc.

Wasserspiele für den Herrscher Nezahualcóyotl

Heute sieht der Hügel doch ein bisserl karg aus. Unten rechts sieht man noch das Aquädukt, das dem Badevergnügen diente.
Heute sieht der Hügel doch ein bisserl karg aus. Unten rechts sieht man noch das Aquädukt, das dem Badevergnügen diente.

Hier befinden sich die Überreste des Palastes Tetzcotzingo, den wohl der Herrscher Nezahualcóyotl hier im 15. Jahrhundert errichten ließ. In dieser trockenen und kargen Landschaft kann man sich fast nicht vorstellen, dass er einen Palast hat errichten ließ, der von einem grünem Landschaftspark mit Wasserspielen umgeben war, der von einem ausgeklügelten System bewässert wurde. Dieses Bewässerungssystem diente aber auch noch einem weiterem Vergnügen des Königs: überall auf dem Hügel befinden sich Badelöcher. Wohl konnte er sich hier seiner Muße hingeben, schließlich hatte er mit der Aztekenhauptstadt Tenochtitlán und Tlateloloco (heute ein Stadtteil im Norden von Mexiko-Stadt, damals ein eigenes Reich) einen Nichtangriffspakt abgeschlossen, so dass er sich nicht sorgen musste, dass die Nachbarn angreifen.

Architektur, Philosophie und die Leidenschaft der Lenden
in weiterer Schutz war wohl auch seine zahlreichen verwandtschaftlichen Verbindungen zu den beiden Reichen (er hatte angeblich über 100 Kinder von zahlreichen Frauen). Dafür konnte er im Laufe seines Lebens sich seinen anderen Leidenschaften (nicht nur der der Lenden) ausreichend widmen: Architektur und Philosophie. Auf dem Hügel begegnet man auf Schildern all seinen Weisheiten, die er auf diese Weise schriftlich verfasst und hinterlassen hat.
Euch wünsche ich auch viele weise Erfahrungen in der kommenden Zeit, sowieso alles Gute und ich hoffe, ihr lasst mal wieder von euch lesen!!!

Hasta luego,
Marion

Ciudad Mexico: Tote Ratten im Motorblock. Deutsche Musik und „Fiesta mexicana“ im Sprachkurs.

Marion Koerdt schaut genau hin. Zu Besuch auf dem Kahlen Asten. (foto: zoom)
Marion Koerdt schaut genau hin. Aus Mexico zu Besuch auf dem Kahlen Asten. (foto: zoom)

Dieser Artikel ist der elfte Teil einer persönlichen Serie über das Leben in Mexico-City. Sämtliche bisher erschienen Artikel sind hier zu finden.  Wir rechnen es Marion hoch an, dass sie uns im Januar in Winterberg besucht hat. Wir haben sie auf den Kahlen Asten geschleppt und sie hat uns sehr viel über ihr Leben in Ciudad Mexico erzählt. Jetzt haben wir einen neuen interessanten Bericht erhalten. Viel Spaß beim Lesen.

Hola a todos,

na, auch wenn das Jahr nunmehr bereits ein Monat alt ist, hoffe ich, es ist noch nicht zu spät euch allen erst einmal alles Gute für die verbleibenden 11 Monate in diesem Jahr zu wünschen.

Ich bin nunmehr auch seit drei Wochen zurück und der Alltag hat –wie sollte es anders sein- mich wieder fest im Griff.

Doch eine wenig leckere Überraschung erwartete Christopher und mich einige Tage nach unserer Rückkehr nach Mexiko. Die empfindlicheren Gemüter sollten diesen Teil überspringen und erst später wieder einsteigen.

Also … hier wird es unappetitlich
Am Samstag nach unserer Rückkehr gingen wir zu unserem bewachten Parkplatz, wo uns der dort arbeitende Chico darauf hinwies, dass es von unserem Wagen aus seltsam roch.

Zunächst dachten wir, dass der Hofhund den Wagen angeschissen hätte und verfluchten schon innerlich die Töle. Doch wir konnten nichts entdecken. Dann öffnete Christopher die Motorhaube und ich sprang zwei Meter mit einem entsetzlich gequietschten „Uäh“ zurück.

Auf dem Motorblock lag eine tote, angeschmorte -und wohl gerade im Inbegriff zu verwesen- Ratte. Doch das war bei weitem nicht so ein possierliches Tierchen, wie wir sie aus Mitteleuropa kennen. Sie nahm der Länge nach den gesamten Kühlergrill ein. Doch damit noch nicht genug: sie hatte sich aus Müll und Plastikfetzen ein Nest gebaut und Junge geworfen (die auch nicht überlebt haben). Kurzum: im Motor war eine Riesensauerei, die entfernt werden musste.

Der Chico hielt sich die ganze Zeit im Hintergrund und nachdem wir ihm gesagt hatten, was der Geruchsauslöser war und er mit Würgen beschäftigt war, war klar, dass von ihm keine Säuberungshilfe zu erwarten war. So durften wir das selbst erledigen und nachdem das Gröbste entfernt war, fuhren wir zur Tankstelle, um den Motor reinigen zu lassen.

Die Jungs dort nahmen das mal locker hin, nachdem wir erklärt hatten, woher der angeknabberte Schlauch und die Blutspuren kamen. Der eine zog mit zwei Schraubendreher auch noch ein weiteres verendete Rattenbaby heraus und stellte nur trocken fest, wenn wir nicht noch etwas für den Abend-Taco bräuchten, würde er sie nun wegwerfen.

Wir hatten uns den Samstagnachmittag wahrlich anders vorgestellt und auch das anschließende Essen in unserer bevorzugten Schnellrestaurantkette (von der wir uns immer noch einreden, dass das Essen dort ganz okay sei, weil es frisch gepresste Säfte gibt) hat uns nicht so gemundet wie sonst. Irgendwann einmal hatte mir ein Schüler erzählt, dass vor seinem Haus eine soooo große Ratte vorbeigelaufen sei und dabei eine Rumpfgröße von über 30 Zentimetern mit den Händen angezeigt und ich habe nur gedacht, jaja, erzähl der Tante aus Deutschland mal schöne Schauergeschichten. Nun habe ich beschlossen, den Schülern auch mal was zu glauben.

So, hier können auch die empfindlicheren Gemüter wieder einsteigen

Hier holen sich die Mexis ihre akademischen Weihen: angeblich sollen sich an der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) ca. 400 000 Studenten befinden. Am Wochenende ist es eher leer und man fragt sich schon, wo die denn alle auf dieser Fläche hinpassen sollen. (foto: Koerdt)
Hier holen sich die Mexis ihre akademischen Weihen: angeblich sollen sich an der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) ca. 400 000 Studenten befinden. Am Wochenende ist es eher leer und man fragt sich schon, wo die denn alle auf dieser Fläche hinpassen sollen. (foto: Koerdt)

Mein Bildungseifer wurde nach meiner Rückkehr auch ausgebremst, als ich feststellen durfte, dass ich die einzige bin, die sich für den Folgekurs an dem Uni-Institut interessierte. Nun hoffe ich, dass der nächste Kurs im März zustande kommt, denn das Hirn scheint ein seltsam Ding zu sein, dem es bequemt, mühsam Erlerntes sofort wieder zu vergessen. Aber der Alltag kommt auch mit wenig Vokabeln und Grammatik zurecht.

Ein Rundgang lohnt sich, denn zahlreiche, namhafte Künstler haben auf den Gebäuden ihre Spuren hinterlassen. So hat Juan O'Gorman liebevoll mit vielen, kleinen bunten Steinchen Mosaike zusammengesetzt, die wiederum die Zusammensetzung unserer Weltbilder widerspiegeln sollen. Und manches mahnt eher sozialistisch-idealistisch an auf dem Campus, der übrigens zum UNESCO-Welterbe gehört.
Ein Rundgang lohnt sich, denn zahlreiche, namhafte Künstler haben auf den Gebäuden ihre Spuren hinterlassen. So hat Juan O'Gorman liebevoll mit vielen, kleinen bunten Steinchen Mosaike zusammengesetzt, die wiederum die Zusammensetzung unserer Weltbilder widerspiegeln sollen. Und manches mahnt eher sozialistisch-idealistisch an auf dem Campus, der übrigens zum UNESCO-Welterbe gehört.

Was mich aber vielmehr fasziniert ist, dass ich regelmäßig ins Stocken komme, wenn ich mal etwas Grammatisches aus dem Reich des Deutschen erklären soll. Also beste Voraussetzungen, um hier Sprachunterricht zu geben. Der Rettungsspruch ist immer „Das ist eben so im Deutschen“ und die Leute nehmen das erst einmal so hin, bevor ich mal nachschauen kann, was sich dann nun schon wieder dahinter verbirgt.

In meinem Erwachsenenkurs sind wir nun bei einem schönen Kapitel angelangt: es geht um Musik. Warum sich das Lehrbuch eine Band ausgesucht hat, die englisch singt, ist mir schleierhaft (abgesehen davon sind die „Young Gods“ auch nicht so mainstreamfähig). Na ja, Herbert Grönemeyer erscheint auch noch in dem Kapitel und die Frauen im Kurs waren auch ganz ergriffen, als sie erfuhren, dass er das Lied „Mensch“ nach dem Tode seiner Frau geschrieben hat.

Weiteres deutsches Liedgut konnte ich ihnen dann dank „Youtube“ näher bringen und war doch leicht irritiert, wie begeistert sie auf Heino und Maria Hellwig reagierten (schließlich sind die meisten Kursteilnehmer in meinem Alter). Na ja, als ich mit Christopher in Paraguay war und wir dort auf seinem ehemaligen KFZ-Mechaniker trafen (ein Mennonit mit dem schönem Namen Karl-Heinz) wurden wir in seinem Wagen nach seiner Ankündigung „ich habe das was Tolles aus Deutschland“ auch mit Heino beschallt.

Dann habe ich noch einen folgenschweren Lehrfehler begangen, indem ich Schlagermusik präsentierte, die sich thematisch ausschließlich mit Mexiko beschäftigte („Fiesta mexicana“, „Anita“ und „Puppenspieler von Mexiko“) und bei meinen Schülerinnen den Rückschluss zuließ, deutsche Schlagermusik würde sich nur mit Mexiko beschäftigen. Aber falls jemand noch ein Thema für eine kulturwissenschaftliche Arbeit sucht: „Orte der Sehnsucht – Die Bedeutung Mexikos im deutschen Schlager“ würde sich anbieten.

Damit mir nicht noch mehr Fauxpas unterlaufen, werde ich nun das alles mal gewissenhafter vorbereiten, deswegen schließe ich auch für heute (nee, Mädels, in Wirklichkeit ist Winterschlussverkauf und ich wollte gleich mal losspazieren) und wünsche euch allen nochmals alles Gute und hoffe von euch demnächst auch mal wieder Lebenszeichen zu erhalten!

Hasta luego y muchos saludos desde México,
Marion