Kindstod in Winterberg: “Massives behördliches Versagen aufgedeckt”.

KindstodWordle20160216Medebach. (rlo) “Massives behördliches Versagen aufgedeckt”, mit diesen Worten beschrieb heute in Medebach Amtsrichter Fischer beim Strafverfahren gegen die Mutter eines vor zwei Jahren an Unterernährung und Flüssigkeitsmangel verstorbenen Kleinkindes (2 Jahre) die Rolle des Kreisjugendamtes.

(Der Artikel ist in ähnlicher Form heute auf der Website der Sauerländer Bürgerliste erschienen.)

Ein weiteres Kleinkind (damals knapp 1 Jahr) war stark geschädigt, hat aber nach Einlieferung in die Kinderklinik überlebt und ist mittlerweile normal entwickelt. Das Verfahren gegen die Mutter des Kindes ist aber noch nicht zu Ende, sondern wird an das Landgericht Arnsberg verwiesen. Das Amtsgericht Medebach folgte damit einem Antrag der Staatsanwaltschaft Arnsberg.

In seiner ausführlichen, 50 Minuten dauernden Begründung für den Verweisungsbeschluss führte Richter Fischer u.a. aus, dass er zunächst von einer fahrlässigen Tötung ausgegangen sei. Im Verlauf der viertägigen Hauptverhandlung habe er jedoch den Eindruck gewonnen, dass von einem “bedingten” Vorsatz der Mutter auszugehen sei. Bedingter Vorsatz bedeutet juristisch nicht Absicht, sondern dass die Beschuldigte die Folgen ihres Tuns hätte erkennen müssen und sie billigend in Kauf nahmen.

Außer der Kindesmutter steht auch das Kreisjugendamt im Blick des Amtsgerichts. Das Amt sei beim Umzug der alleinerziehenden neunfachen Mutter aus Vogtlandkreis in den Raum Winterberg vom früher zuständigen Jugendamt Plauen detailliert und vorbildlich über die Defizite in der Familie informiert worden, etwa 8 Monate vor dem Tod des Kindes.

Unter anderem stand in der Mitteilung, dass alle 9 Kinder Ernährungsmängel aufwiesen und die Wohnung vermüllt gewesen war. Dies hätte nach § 8 Sozialgesetzbuch VIII Anlass sein müssen, dass sich mehrere Fachkräfte mit der Familie befassen. Doch in den Blick genommen wurden nur die Schulprobleme eines der älteren Kinder. Fehlende Vorsorgeuntersuchungen und extreme Unterernährung der beiden jüngsten Kinder wurden bei den Besuchen, die zudem viel zu selten stattfanden, nicht registriert.

FORTSETZUNG FOLGT

… Update 17.2.2016 …

Wenig Informationen hatte auch die Pflegemutter erhalten, die das jüngste Kind 15 Monate lang betreute, nachdem es wegen der Vorfälle aus der Familie genommen worden war. Das Kreisjugendamt hatte ihr nur gesagt, dass das Kind zuvor im Krankenhaus gewesen war, aber keine Informationen über die besondere familiäre Situation gegeben. Vor Ort in der Pflegefamilie hat auch nie ein Mitarbeiter des Jugendamtes das Kind besucht. Es gab allerdings häufige Treffen mit der leiblichen Mutter in den Räumen des Jugendamtes. Die Pflegemutter konnte in der Gerichtsverhandlung auch berichten, dass das Kind innerhalb etwa eines Jahres alle Rückstände aufgeholt hat und mit normalem Gewicht und gutem Entwicklungszustand in eine andere Familie wechseln konnte.

Kreisjugendhilfeausschuss und Kreistag, die beide für das Kreisjugendamt zuständig sind, werden sich nun noch mit der Aufarbeitung der Ereignisse befassen müssen. Dabei wird es vor allem darum gehen müssen, ob es systematische Fehler in der Arbeitsweise des Kreisjugendamtes gab und/oder gibt, die abgestellt werden müssen. Gab es Fallbesprechungen im Team, Unterstützung für die Sachbearbeiter, Aufträge der Jugendamtsleitung sich um die gesamte Familie und nicht nur um ein älteres Kind mit Schulproblemen zu kümmern, Kontrolle der Hefte über die kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen, das Angebot mehrerer paralleler Hilfeformen, und gab es eine angemessene Auswertung der vom Jugendamt aus Westsachsen eingegangenen Berichte? Wie sehen die Konzepte der Kreisjugendamtes für Interventionen in Krisenfällen aus?