Winterberg ist bunt

Demonstration für Demokratie, Vielfalt und Willkommenskultur, gegen Rassismus und die AfD

Der Platz an der unteren Pforte in Winterberg war heute Abend gut gefüllt. (foto: zoom)
Der Platz an der unteren Pforte in Winterberg war heute Abend gut gefüllt. (foto: zoom)

Winterberg hat mich überrascht. Kurz vor 18 Uhr füllte sich die Untere Pforte relativ schnell. Kinder, Eltern, junge und ältere Menschen, Senior*innen – ein bunter Querschnitt durch die Stadtgesellschaft.

Der Wettergott war ebenfalls auf der Seite der Demonstrant*innen und hatte den Dauerregen und die Schneeschauer eingestellt.

Eine große Spannbreite: vier Plakate, vier politsche Aussagen gegen Rechts (foto: zoom)

Die Eröffnungsrede hielt Brigitte Wollenschein vom Verein Kipepeo. Dieser hatte die Demo initiiert, sowie weitere Akteure und Gruppen der Stadtgesellschaft als Unterstützende gewinnen können.

Brigitte Wollenschein vom Verein Kipepeo (foto: zoom)

Ich zitiere die Rede von Brigitte Wollenschein, weil sie die Stimmung auf dem Platz und Zielrichtung der Demo sehr gut zusammenfasst:

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„Guten Abend und herzlich willkommen hier auf dem Marktplatz in Winterberg. Wir wollen ein Zeichen setzen, für Demokratie, Freiheit und Toleranz und gegen Rassismus in unserem Land. Wir sind nicht „das letzte Aufgebot“, wie es der Bundestagsabgeordnete Bernd Baumann von der AfD meinte. Nein, wir sind diejenigen, die Demokratie leben. Wo wir hingehen, ist immer noch unsere freie Entscheidung.

Ich möchte einige teils persönliche Gedanken anbringen, die mich – und ich denke vielen Anderen geht es ähnlich -, in den letzten Tagen irritiert haben.

Ich lebe in einer bunten Familie. Ich weiß daher, welche „kleinen rassistischen Nickeligkeiten“ – ich verniedliche jetzt etwas – auch in der Vergangenheit schon Menschen, die nicht ins deutsche Klischee passen, ertragen mussten. Dies fand in der Regel keine Beachtung.

Schade, dass es erst dieses unsäglichen Privattreffens in Potsdam bedurfte, um Deutschland wachzurütteln. Lasst uns den Moment nutzen und uns gegen diese Klientel aufrichten. So wie die Höhner singen „Wenn nicht jetzt, wann dann?“.

Die vielen Demonstrationen, Lichterketten oder wie immer sie sich nennen, lassen uns alle hoffen, dass uns eine zweite Weimarer Republik erspart bleibt.

Was fühlen
Juden?

Was fühlen
Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit, deren Eltern und Großeltern als Gastarbeiter unseren Wohlstand mit aufgebaut haben?

Was fühlen
Menschen mit anderer Hautfarbe und deutschem Pass?

Was fühlen
Migranten, die mit einem Aufenthaltsstatus hier leben? Wenn sie Äußerungen wie „Remigration, – wir fürchten nicht den Klimawandel, sondern die menschengemachte Völkerwanderung-, Abschieben schafft Sicherheit, …“

von Politikern hören, die meinen unser Land besser führen zu können.

Wie sagte Margot Friedländer letzte Woche: „Es gibt kein christliches, muslimisches oder jüdisches Blut – es gibt nur menschliches Blut.“ Und genau aus diesem Grunde stehen wir hier, um uns für die Vielfalt in unserem schönen Land einzusetzen. Wir wurden nicht von Medien beeinflusst, wie es böse Zungen behaupten.

Wir haben uns heute zusammengefunden und wenn unsere demokratischen Politiker sich ebenso zusammenfinden, dann bleibt die Hoffnung:

Wir schaffen das.“

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Weil es heute Abend schon sehr spät ist belasse ich den Bericht auf diesem Stand und gehe nicht ausführlich auf die anderen Redner*innen ein.

Nur kurz: Bürgermeister Michael Beckmann wies darauf hin, dass allein die Tourismuswirtschaft ohne die Vielfalt an Menschen aus unterschiedlichen Ländern nicht funktionieren könnte.

Bürgermeister Michael Beckmann (foto: zoom)

Lawa, eine junge Kurdin aus Syrien, die 2015 mit ihrer Familie nach Deutschland geflohen war, schilderte bewegend ihren Schulweg in Winterberg und Meschede bis zum Abitur. Sie hat den Traum, Medizin zu studieren.

2015 aus Syrien geflohen, träumt die junge Kurdin Lawa heute vom Medizinstudium (foto: zoom)

Lawas Rede:

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„Ich heiße Lawa, ich bin 17 Jahre alt und bin Kurdin aus Syrien.

Wir sind 2015 in Züschen angekommen. Wir, das sind meine Mutter, mein Vater und vier jüngere Geschwister.

Im Grunde bin ich hier in Deutschland aufgewachsen. Ich wurde in die 3. Klasse der Grundschule Hallenberg eingeschult, meine Geschwister gingen in Züschen in den Kindergarten. So haben wir alle, im Umgang mit deutschen Kindern, schnell die deutsche Sprache gelernt.

Für mich sind Winterberg und das Sauerland meine Heimat, ich kann mir nicht vorstellen wieder in Syrien zu leben.

Gut finde ich die Vielfalt der schulischen Möglichkeiten. Ich bin nach der Grundschule in Hallenberg zur Sekundarschule in Winterberg gewechselt und habe dort durch meinen guten Abschluss die Möglichkeit bekommen, auf das Städtische Gymnasium Meschede zu wechseln, um dort mein Vollabitur machen zu können.

Mein großes Ziel ist ein Medizinstudium, aber ob ich das schaffe …???

Meine Eltern arbeiten beide, meine Geschwister gehen alle in Winterberg zur Schule und in hiesige Vereine.

Ich denke, dass meine Familie gut integriert ist.

Das alles war aber nur durch das gute soziale System in Deutschland und die Hilfe und Unterstützung der ehrenamtlichen Helfer möglich, auf deren Hilfe wir jederzeit und auch heute noch zurückgreifen können.

Die Demokratie in Deutschland gibt uns die Möglichkeit, so bunt und vielfältig wie wir sind zu leben. Ich hoffe darauf, dass wir in einer starken Demokratie, die tolerant ist und Vielfältigkeit erlaubt, auch in Zukunft leben können.

Deshalb bin ich mit meiner Familie und Freunden heute hier, damit Deutschland und Winterberg

weiterhin bunt und tolerant bleiben.“

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Faoud, ein junger Syrer, 2015 nach Deutschland geflohen, arbeitet in der Winterberger Gastronomie, und fast hätte ich mich geschämt, als er von seiner Dankbarkeit erzählte, hier leben und arbeiten zu dürfen.

Ebenfalls 2015 aus Syrien nach Deutschland geflohen. Heute arbeitet Faoud in der Gastronomie und hält eine Rede auf Deutsch. (foto: zoom)

Faouds Worte:

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„Mein Name ist Fouad.

Ich bin 2015 aus dem Irak nach D geflüchtet. Hier im Sauerland war ich in Sicherheit. Kam zur Ruhe. Ich habe von Anfang an sehr viel Hilfe und Unterstützung bekommen.

Ich hatte die Möglichkeit die deutsche Sprache zu lernen. Das ist sehr wichtig, nur so hat man die Möglichkeit eine gute Arbeit zu bekommen.

In der Gastronomie fand ich bald Arbeit und konnte dort meine Sprachkenntnisse gut verbessern.

Ich bin immer noch in der Gastronomie tätig und habe einen sehr netten und fairen Chef.

Inzwischen habe ich viele Bekannte und Freunde in Winterberg gefunden.

Hier in der Stadt ist immer etwas los, durch die vielen sportlichen Events und die vielen ausländischen Urlauber.

So ihr Lieben ich stehe heute vor euch um meine tiefe Dankbarkeit gegenüber Deutschland auszudrücken .

Als Flüchtling der vor den Schrecken des Krieges geflohen ist, habe ich in diesem Land nicht nur Zuflucht gefunden, sondern auch die Möglichkeit ein neues Leben in Frieden aufzubauen.

Die großzügige Aufnahme in Deutschland hat mir eine Perspektive für die Zukunft gegeben. Mein Herz ist erfüllt von Dankbarkeit gegenüber jedem, der dazu beigetragen hat, dass ich mich hier zu Hause fühlen kann.

Möge unsere Gemeinschaft weiterhin von Verständnis, Respekt und Zusammenhalt geprägt sein.

Vielen Dank, dass Sie gekommen sind und zugehört haben.“

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Carsten Röder, Geschäftsführer des Winterberger Krankenhauses, machte deutlich, dass das Gesundheitssystem ohne das medizinische Personal, aber auch die anderen Mitarbeitenden, aus allen Teilen der Welt zusammenbrechen würde.

Carsten Röder, Geschäftsführer des St. Franziskus Hospitals (foto: zoom)

Die ehemalige Ratsfrau Gisela Quick schilderte unter dem Leitthema Sei ein Mensch! Nie wieder ist jetzt! die Geschichte der Winterberger Juden, mit der sie sich seit einigen Jahren intensiv beschäftigt. Bis auf zwei wurden alle Winterberger Juden vertrieben, deportiert und ermordet. Die Bürger*innen hätten weggeschaut oder bei den Nazis mitgemacht. Das dürfe nie wieder passieren.

Gisela Quick (foto: zoom)

Diese Rede von Gisela Quick darf ich im Folgenden ebenfalls dokumentieren. Die Hervorhebungen folgen, soweit möglich, dem Manuskript.

„In einer bunten Gesellschaft leben Menschen unterschiedlicher Herkunft, Kulturen und Überzeugungen friedlich und respektvoll nebeneinander – das sagt ChatGPT, wenn man fragt, was „eine bunte Gesellschaft ausmacht“.

Aber braucht es „bunt“, mag jetzt der eine oder andere denken? Reichen nicht die Farben, die man kennt, die der eigenen besonders ähnlich sind?

Nein! Das Leben wird doch gerade dadurch bereichert, indem man Neues entdeckt. Das geht nur, wenn man mal andere Stimmen hört und sich von anderen inspirieren lässt. Wie wortwörtlich eintönig und farblos wäre unser Leben, wenn wir Tag für Tag nur dasselbe sehen, hören und erleben würden.

Derzeit sind vielerorts Fremdenhass und Antisemitismus wieder auf dem Vormarsch. Das darf hier nicht passieren! Denn das Judentum, eine der ältesten Religionen überhaupt, gehört auch zu Winterberg.

Ungefähr 2019 begann ich, mich mit der Geschichte der Winterberger Juden zu befassen. Im städtischen Archiv fand ich Dokumente, die belegen, wie sich der Nationalsozialismus in den 30er Jahren auch in Winterberg breit machte und die jüdische Familie namens Winterberger hier drangsaliert und denunziert wurde und die Anordnungen und Befehle aus Berlin oder von der geheimen Staatspolizei Dortmund umgesetzt wurden.

Schon kurz nach der Regierungsübernahme der NSDAP kam es auch hier bei uns zu Diffamierungen und Hetze gegenüber jüdischen Bürgern. 1937 musste die Familie Winterberger ihre Häuser mit Inventar und, unter Androhung von Schutzhaft, auch den umfangreichen Landbesitz verkaufen. Ein Teil der Familie verließ die Stadt Richtung Hamburg und wurde später von dort deportiert, der andere Teil blieb zunächst in Winterberg und wurde 1942 von hier aus ebenfalls deportiert und ein Jahr später in Ausschwitz ermordet. Zwei Söhne überlebten, einer konnte mit einem Onkel in die Schweiz flüchten, der andere gelangte noch vor Kriegsbeginn mit einem Kindertransport nach England.

Die Häuser der Familie Winterberger, Marktstraße 19 und Hauptstraße 21 und 22, in denen die Familienmitglieder bis zu ihrer Deportation lebten, haben wir im Jahre 2020 zum Andenken und zum Erinnern durch Tafeln mit kurzen Erklärungen gekennzeichnet. Vielleicht schauen Sie sich das Geschriebene einmal an.

Auch in Winterberg wurde in dieser Zeit weggeschaut! Das darf nie wieder passieren! Egal, ob es um Religionszugehörigkeit oder um Herkunft geht!

Vor ungefähr einer Woche ist in Berlin sehr eindrucksvoll der internationale Tag des Holocaust begangen worden. Er ist zum Gedenken an den Holocaust und der Befreiung des Konzentrationslagers Ausschwitz eingeführt worden. Die Rede von dem Sportjournalisten Marcel Reif im deutschen Bundestag war sehr emotional. Er erzählte von seinem Vater, Leon Reif, dessen Familie zum Großteil während des Holocaust ermordet wurde und der ihm Zeit seines Lebens den Satz „Sei ein Mensch“! mitgegeben habe. Dieser Satz wird sicher noch häufig zitiert werden und ist eine Aufforderung an uns alle – egal, welche Herkunft, Kultur oder Überzeugung wir haben.

Ein weiterer, wichtiger Satz, den man in den vergangenen Wochen häufig hört, lautet „Nie wieder ist jetzt!“ In etlichen Städten gehen teilweise tausende Menschen auf die Straße um gegen Fremdenhass und Hetze zu demonstrieren. Das macht Hoffnung!

Wenn wir es mit Leon Reif halten und sein „Sei ein Mensch“ beherzigen, geht es darum, Menschlichkeit zu zeigen und sich jeder Form von Ausgrenzung entgegenzustellen. Wir dürfen uns nie wieder aufhetzen, unsere Gemeinschaft spalten und uns unsere Menschlichkeit nehmen lassen.

Nie wieder ist jetzt!“

Plakat (foto: zoom)

Ich bin heute Abend mit einem guten, optimistischen Gefühl zurück in meinen Ortsteil gefahren.

Einer der Redner – der Bürgermeister? – hat gesagt, dass die Demonstrationen erst der Anfang sein müssen für das politische Engagement der Menschen vor Ort, in ihrer Stadt, in ihren Vereinen, Parteien und anderen Organisationsformen.

Vielleicht auch einfach nur Menschen und Menschlichkeit? (foto: zoom)

Am Ende der Demonstration wurde eine kleine Lichterkette am Redner*innenpult gebildet und ein Lied gesungen. Die Zeilen lauteten:

„Wehrt euch, leistet Widerstand, gegen den Faschismus hier im Land.“

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