Leo N. Tolstoi über die „Schönheit der Menschen des Friedens“ und den Ungehorsam

Ein neuer Sammelband „Verweigert das Töten!“

Buchcover – Das Töten verweigern

Die folgende ausführliche Buchvorstellung passt vielleicht zum morgigen Vortrag von Peter Bürger im Bürgerzentrum Alte Synagoge in Meschede um 19 Uhr. Siehe dazu auch hier im Blog: https://www.schiebener.net/wordpress/peter-buerger-no-peace-no-future-ohne-frieden-keine-zukunft/

(Gastbeitrag Tolstoi-Friedensbibliothek)

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Leo N. Tolstoi: Das Töten verweigern
Texte über die Schönheit der Menschen des Friedens und den Ungehorsam.
Neu ediert von Peter Bürger und Katrin Warnatzsch.
(Tolstoi-Friedensbibliothek: Reihe B, Band 3). Norderstedt: BoD 2023.
(ISBN 978-3-7519-1925-8 ; Paperback; 292 Seiten; 12,90 Euro)
Inhaltsverzeichnis und Leseprobe auf der Verlagsseite:
https://www.bod.de/buchshop/das-toeten-verweigern-leo-n-tolstoi-9783751919258

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Ein in diesem Frühling vorgelegter Sammelband der von deutschen Pazifist:innen betreuten Friedensbibliothek erschließt alle verstreuten Schriften des Russen Leo N. Tolstoi (1828-1910) zur Verweigerung des militärischen Mordhandwerks – soweit von ihnen gemeinfreie Übersetzungen vorliegen, außerdem Texte aus dem dichterischen Werk des Schriftstellers sowie Darstellungen zur Geschichte der Gegner des Soldatendienstes in Russland.

Tolstoi betätigte sich in seinen beiden letzten Lebensjahrzehnten gezielt als „Wehrkraft-Zersetzer“. Die unmissverständliche Botschaft in einer kleinen Flugschrift aus dem Jahr 1901 wider die offizielle Dienstanweisung der Armee richtet sich an die schon „unter den Waffen Stehenden“ und lautet:

„Soldat, du hast schießen, stechen, marschieren gelernt, man hat dich Lesen und Schreiben gelehrt, nach dem Exerzierplatz und zur Truppenschau geführt, vielleicht auch hast du einen Krieg mitgemacht, mit Türken und Chinesen gekämpft und alles ausgeführt, was dir befohlen wurde; es ist dir wohl nie in den Kopf gekommen, dich zu fragen, ob es gut oder böse ist, was du tust. … Wenn du in Wahrheit Gottes Willen erfüllen willst, kannst du nur eines tun, den schmachvollen und gottlosen Beruf eines Soldaten abwerfen und bereit sein, alle Leiden, welche dir dafür auferlegt werden, geduldig zu ertragen.“

In einem zweiten „Denkzettel für Offiziere“ führt Tolstoi gegenüber den Vorgesetzten aus:

„Ihr könnt immer aus eurer Stellung austreten. Wenn ihr aber nicht aus ihr austretet, so tut ihr dies nur deshalb, weil ihr vorzieht, in Widerspruch mit eurem Gewissen zu leben und zu wirken, als auf einige weltliche Vorteile zu verzichten, die euch euer ehrloser Dienst gewährt. Vergesst nur, dass ihr Offiziere seid, und denkt daran, dass ihr Menschen seid, und ein Ausweg aus eurer Lage wird sich sofort vor euch auftun. Dieser Ausweg ist der beste und ehrenvollste: versammelt die Abteilung, die ihr kommandiert, tretet vor sie hin und bittet die Soldaten um Verzeihung für alles das Böse, das ihr ihnen durch Täuschung zugefügt habt, und hört auf, Soldat zu sein.“

Indessen lässt sich in einer Gesamtschau aller Quellen aufzeigen, dass der „Alte von Jasna Poljana“ nur solche angehenden Verweigerer ermutigt hat, die aus einer inneren Gewissheit heraus – ohne Blick auf Außenwirkung, Beifall oder fremde Erwartungen – bereit waren, Schritte zu gehen, die eine bittere Verfolgung bis hin zum Letzten nach sich ziehen können.

Beichte“ eines soldatischen Mörders

Leo Nikolajewitsch Tolstoi – der weltberühmte Dichter von „Krieg und Frieden“ – kannte Militär und Krieg nur zu gut aus eigener Anschauung. Im Frühjahr 1851 hatte er seinen ältesten Bruder Nikolaj auf der Rückreise zu dessen Regiment in den Kaukasus begleitet, später dort und dann auch im Krimkrieg (1853-1856) als Soldat gekämpft, zuletzt wegen sogenannter Tapferkeit eine Beförderung zum Leutnant erhalten und erst im März 1856 sein im November des gleichen Jahres angenommenes Abschiedsgesuch vorbereitet. Die frühen literarischen Arbeiten lassen z. T. schon eine nonkonforme – jedenfalls nicht staatstragende – Betrachtungsweise der Menschenschlächterei auf den „Feldern der Ehre“ erkennen. Beim Zeitschriftenabdruck von „Anna Karenina“ kam es bereits zu Problemen, weil der Dichter dem Kriegsprojekt gegen das Osmanische Reich (1877-1878) seinen Beifall versagte.

Als Zeugnis der Lösung einer mehrjährigen existentiellen Krise muss die Schrift „Meine Beichte“1 (Ispoved‘, 1879-1882) gelesen werden, die dem Autor erstmalig das Verbot eines ganzen Werkes durch die Zensurbehörde beschert. Darin schreibt er im Rückblick kurz und bündig: „Ich bin im Kriege gewesen und habe gemordet.“ Die „theologische“ Rechtfertigung des Krieges und anderer Tötungsakte des Herrschaftsapparates durch die orthodoxen Lehrautoritäten ist in jenen Jahren schon der maßgebliche Grund für Tolstois kompromisslose Absage an jenes Kirchentum2, das eine Symbiose mit dem Staat eingegangen ist.

Christi Lehre und die Allgemeine Wehrpflicht

Nach einer Studie zur ‚Kritik der dogmatischen Theologie‘, intensiver Bibelarbeit mit dem Evangelium, Darlegungen des eigenen Glaubens und dem Ringen um eine christliche Antwort mit Blick auf das seit Anfang der 1880er Jahre erkundete Leben der Armen im Land wird Leo Tolstoi das 1890-1893 entstandene Buch „Das Reich Gottes ist in Euch …“ (1894) veröffentlichen. Dies ist im Gefolge aller Schriften ab der „Beichte“ sein grundlegendes Werk über die Unvereinbarkeit von Christentum und Soldatenhandwerk (bzw. staatlich-militärischer Gewalt).

Raphael Löwenfeld fügt als Übersetzer dem Werktitel noch den Zusatz „Christi Lehre und die Allgemeine Wehrpflicht“ hinzu, den der russische Verfasser selbst zuerst der Deutlichkeit wegen erwogen hatte. Nach mehr als 110 Jahren hat die Tolstoi-Friedensbibliothek jetzt erstmals wieder eine ungekürzte Neuedition3 der deutschen Fassung dieses grundlegenden Titels herausgebracht.

Tolstoi war freudig erregt, wenn er seinen mit der Bergpredigt des Nichtwiderstrebens (Gewaltfreiheit) untrennbar verknüpften Weg der Kriegsverweigerung (Widerstand) wiederentdeckte bei viel früheren Lebenszeugen, so bei dem tschechischen Laien Peter Chelcickij (ca. 1390-1460) im Umkreis der Böhmischen Brüder, friedenskirchlichen Stimmen aus Nordamerika oder Vertretern der wahren – d. h. die Einheit der Menschheit enthüllenden und gewaltfreien – Religion in allen Kulturkreisen.

Militärverweigerer wider die Priesterselbstanbetungs-Religion

Er erhielt Anregung und Zuspruch von „heterodoxen Gemeinschaften“ in Russland, die man in großkirchlichen Kreisen verächtlich als Sekten abtat und wegen fehlenden Staatsgehorsams unbarmherzig verfolgte. Dazu zählten u. a. die Molokanen („Milchtrinker“), Duchoborzen („Geisteskämpfer“), die „Stundisten in der Ukraine oder Bauerndenker wie der Steinmetz Wassilij Sutajew (1819-1892). Am Schicksal der brutal drangsalierten Duchoborzen, die ihm als Lehrmeister:innen eines aktiven Widerstehens ohne Gewalt begegneten, nahm Tolstoi großen Anteil. Seine Versuche einer wirksamen Hilfe erschöpften sich keineswegs in der Bereitstellung der Erlöse aus der Veröffentlichung des Romans „Auferstehung“ (1899) für die Ausreise dieser „Geisteskämpfer“ nach Kanada.

Kriegsdienstgegner wie der ehemalige Militärarzt Albert Skarvan (1869-1926) aus Ungarn wurden bedeutsame Vermittler von Tolstois Schrifttums. Für verfolgte Verweigerer wie Peter Olchowik und Kyrill Sereda verfasste Leo N. Tolstoi eigenhändige Bittschriften. Über Briefwechsel ihm bekanntgewordene Vorbilder aus dem Ausland machte er über Veröffentlichungen in aller Welt bekannt.

In seinem Geleitwort zur Biographie des nach Gefängnisqualen umgekommenen Waffenverweigerers Jewdokim Nikitschitch Droschin (1866-1894) schreibt Tolstoi:

„Wir sehen, dass Obrigkeiten, die sich für christlich halten, bei jeder Gelegenheit gegen Menschen, die sich weigern zu morden, in der offenkundigsten und feierlichsten Weise gezwungen sind, jenes Christentum und jenes sittliche Gebot zu verleugnen, auf welches sich ihre Gewalt allein stützt. … In früheren Zeiten bildeten das von den Herrschern gemietete Heer ausgesuchte, verwahrloste, unchristliche und unwissende Leute oder Freiwillige und Söldlinge. Früher hatte Niemand oder nur selten Jemand das Evangelium gelesen und die Leute kannten nicht dessen Geist, sondern glaubten alles, was ihnen die Priester sagten; aber auch schon früher – wenn auch selten – hielten manchmal strenggläubige Menschen, die man Sektierer nannte, den Militärdienst für eine Sünde und weigerten sich, ihn zu leisten. Jetzt dagegen gibt es keinen Menschen, der nicht verpflichtet wäre, bewusst mit seinem Geld, und im größten Teile Europas unmittelbar an den Vorbereitungen zum Mord oder am Mord selber Teil zu nehmen; jetzt kennen fast alle Menschen das Evangelium und den Geist der Lehre Christi, alle wissen, dass viele Priester bestochene Betrüger sind und Niemand mehr … glaubt ihnen; und jetzt ist es bereits so weit gekommen, dass nicht Sektierer allein, sondern Leute, die keine besonderen Dogmen bekennen, gebildete, freidenkende Menschen, sich weigern zu dienen und nicht nur in Bezug auf sich selbst, sondern offen erklären, dass die Menschentötung mit keinem Bekenntnis des Christentums zu vereinigen ist.“

Den Repressionsapparat der Herrschenden und Besitzenden austrocknen

Am 23. März 1980 wird der salvadorianische Erzbischof Oscar Romero den aus den Armen rekrutierten Sicherheitskräften seinen Landes, die im Dienste eines Herrschaftssystems der reichen Minderheit das Volk unterdrücken, zurufen: „Kein Soldat ist gezwungen, einem Befehl zu folgen, der gegen das Gesetz Gottes verstößt!“ (Mit dem öffentlichen Aufruf zur Befehlsverweigerung hat er gleichsam sein eigenes Todesurteil unterschrieben.) An diesem Beispiel lässt sich Tolstois Anliegen sehr gut beleuchten:

Mit ihrer Teilnahme an Repressionsapparaten wie Militär und Polizei stützen die Unterdrückten die Macht der Besitzenden, wobei sie sogar einwilligen, Ihresgleichen zu quälen oder zu töten. Erst wenn die Menschen an den Angelpunkten der Macht konsequent Gehorsam und Mitwirkung verweigern, ist Tolstoi zufolge eine Veränderung der traurigen Weltverhältnisse zu erhoffen. Die Herrschenden, machtgläubige Revolutionskader eingeschlossen, fürchten indessen nichts mehr, als dass entsprechende Konzepte eines gewaltfreien Widerstehens ins allgemeine – öffentliche – Bewusstsein gelangen.

Nicht von Friedenskongressen, sondern von einer breiten Bewegung der Nicht-Kooperation wider die militärischen Totmachapparate erhoffte der russische Dichter eine Überwindung jenes zivilisatorischen Abgrundes, der sich in seinem letzten Lebensjahrzehnt abzeichnete.

Tolstois Schriften haben den ersten Weltkrieg nicht verhindert, jedoch viele tausend Kriegsdienstverweigerer auf den Weg des „frommen Ungehorsams“ geführt und in gnädigen Zeiten das Antlitz der Erde durchaus mit verändert. Sie waren eine Inspiration für Gandhi in Indien und für religiöse Sozialisten bzw. Anarchisten in Europa oder Nordamerika, die dem irrationalen Heilsversprechen der Gewaltgottheit widersagt haben.

(N.B. Staatstragende „Linke“ in unseren Tagen wissen von dieser Überlieferungslinie freilich nichts mehr. Sie halten sogar solche Kräfte für Garanten von „Freiheit“, die via Militarisierung den Weg hinein in einen autoritären Kapitalismus weiter beschleunigen. Derweil bleibt im Einklang mit der Rüstungsindustrie jene „regelbasierte Weltordnung“ des Geldes erhalten, in der wenige Individuen über mehr Vermögen verfügen als die ärmere Hälfte der ganzen Bevölkerung des Planeten.)

Zu den Unterzeichnenden des Manifests „Gegen die Wehrpflicht und die militärische Ausbildung der Jugend“ von 1930 gehörten die Tolstoi-Vertrauten Pavel Birjukov und Valentin Bulgakov. Nahezu unmöglich erscheint es, dass ein einzelner Forscher so etwas wie eine globale Wirkungsgeschichte der Friedenswerke Tolstois schreiben könnte.

Der einfältige Iwan und die Soldaten

Zu den literarischen Beispielen im neuen Sammelband zählt ein Auszug aus dem „Märchen von Iwan dem Dummkopf“ (1885), einer verdeckten Kritik an Zarenherrschaft, Militarismus und Weltgefüge im Dienste der Reichen. Dieses „politische Märchen“ wider die Symbiose von Münze, Macht und Militär, das – aufgrund eines klugen Vorgehens – 1886 unerwartet die russische Zensur passieren konnte und erst 1892 den Behörden mit Blick auf die populäre Verbreitung missliebig war, erzählt die Geschichte der drei Söhne eines durchaus begüterten Bauern: Der Krieger Semjon und der wohlhabende Kaufmann „Dickwanst Taras“, die im weltlichen Sinn als erfolgreich gelten, handeln so rücksichtslos, dass der Familienfrieden leicht zerbrechen könnte. Doch Iwan, der als einfältig geltende dritte Sohn, hindert dies. Er bestellt mit Zähigkeit den elterlichen Bauernhof, versorgt den Vater sowie eine stumme Schwester und fügt sich gutmütig gar den ungerechten Ansprüchen der gierigen Brüder. Diesen Familienfrieden wider alle Erwartung kann ein alter Satan nicht ertragen. Er schickt zunächst drei nur bedingt erfolgreiche Unterteufel, um die Brüder zu entzweien. Sodann geht der Oberteufel selbst ans Werk. Am Ende werden Semjon (Militär, Waffenindustrie) und Taras (Kapital), die im Zusammenspiel beide zum Zarenstatus (politische Macht) aufgestiegen sind, zugrunde gerichtet sein. Der dritte Sohn Iwan erweist sich jedoch durchgehend als immun gegenüber den zerstörerischen Verführungen der Teufel. Soldaten sind in seinen Augen allein nützlich, wenn sie den Menschen lustig zur Musik aufspielen (danach muss man sie sofort wieder zurück in „Stroh“ verwandeln). Goldmünzen verschaffen ihm nur ein Gaudi, wenn er sie in die Luft werfen und unter die Leute verschenken kann. (Sobald das Geldgefüge der einfachen Bevölkerung Not bringt, muss man es sabotieren.)

Frühlingsvorboten?

Die aus einer Hinwendung zu Jesus aus Nazareth kommende Botschaft des weltweit verehrten Russen Leo Tolstoi, ohne die heute eine Zukunft der menschlichen Familie auf der Erde – ohne grenzenlose Barbarei – schier unvorstellbar erscheint, ist nicht verstummt. Bisweilen wagen sich auch in unserer Gegenwart Vorboten eines Frühlings ohne Blutvergießen ans Tageslicht. Im Jahr 2022 – während des russischen Angriffskrieges in der Ukraine – haben Kriegsdienstverweigerer und Pazifisten aus der Ukraine, Russland, Belarus und Finnland einen Film gemacht, der inzwischen unter dem Titel „Make Art, Not War“4 (2023) im Internet abgerufen werden kann – wahlweise auch mit Untertiteln in Englisch, Deutsch, Französisch und Italienisch. Eingerahmt von Dichtungen aus der Ukraine und Weißrussland steht das unvollendete Drama „Das Licht leuchtet in der Finsternis“ von Leo N. Tolstoi im Mittelpunkt dieses künstlerischen Votums: Verweigert das Töten!

Projektseite https://www.tolstoi-friedensbibliothek.de/

Die dort eingestellten Publikationen der in digitaler (kostenfreier) und gedruckter Form edierten Bibliotheksreihen werden ergänzt durch einen Offenen Lesesaal: https://www.tolstoi-friedensbibliothek.de/lesesaal/

1 https://www.bod.de/buchshop/meine-beichte-leo-n-tolstoi-9783744821315

2 https://www.bod.de/buchshop/staat-kirche-krieg-leo-n-tolstoi-9783734763014

3 https://www.bod.de/buchshop/das-reich-gottes-ist-in-euch-leo-n-tolstoi-9783748121657

4 https://www.youtube.com/watch?v=j8eEkIgeJtg