Grabstein für einen Bücherwurm

Grabstein für einen Bücherwurm (foto: zoom)

Ich lebe schon so lange in Winterberg, dass ich fast mehr Menschen unter der Erde als über der Erde kenne.

Einer meiner Standardspaziergänge kreuzt den Siedlinghäuser Friedhof. Oft bummele ich ohne bestimmtes Ziel durch die Reihen, entdecke Namen und finde verloren gegangene Geschichten wieder.

Ein Essen bei Lingenauber, die epische Radtour an einem „Vater“tag, die Diskussion über Journalismus, die Fahrt mit dem Kirchenchor – ich als Anhängsel – in den Harz und ein Gespräch über der geöffneten Toilettenspülung. Klempnertechnik. Alles hat irgendwo seinen Platz.

Der Stein mit den drei Büchern ist neu- nun ja, im Sinne von: erst war dort ein Urnengrab mit welkenden Blumen und Kränzen, dann ein Holzkreuz und dann plötzlich die steinernen Bücher.

D., der diesen Ort unter der Erde belegt, war ein Bücherwurm. Seine Wohnung habe ich nie gesehen, aber den Dorferzählungen folgend, war der Bestand an Büchern legendär. In meiner Phantasie bogen sich die Balken und Böden unter der Last.

In unserem Freibad habe ich das erste Mal mit D. gesprochen. 1500 m schwimmen, am Schluss ein Cappuccino vor dem Verkauf am Eingang. D. saß zufällig am selben Tisch wie ich und entpuppte sich als Gegenteil aller Sauerländer Männer. Nicht mundfaul, nicht knapp angebunden. Er ließ seinen Sätzen die lange Leine. Er sprach gern, er sprach viel und er sprach über ein Thema: Bücher.

Mir, der ich einige Jahre in den USA gelebt hatte, erklärte D. die US-Amerikanische Gesellschaft. Klug und kritisch. Ihm war nicht zu widersprechen. Seine Kenntnisse bezog er dabei vor allem aus Krimis.

Ich müsse unbedingt Don Winslow lesen, dann würde ich die USA verstehen. Es folgte Exposé und Interpretation des letzten Don Winslow Thrillers. Kein dummes Gerede, alles sehr vernünftig und durchdacht.

D. hatte, wenn man bei diesem freundlichen Mann überhaupt von Macken sprechen kann, einen kleinen Fehler. Er lebte allein und hatte soviel mitzuteilen, dass er deshalb kaum Zeit zum Zuhören fand.

Wenn man das wusste und dazu Bücher liebte, kam man wunderbar mit ihm klar.

Das letzte Mal habe ich ihn auf einer Bank am Waldweg unterhalb des Kriegerdenkmals getroffen. Er war ein wenig müder als sonst, wir unterhielten uns – über Bücher.

Als ich hörte, dass D. gestorben sei, betagt und fast unspektakulär, war ich traurig.

Ab und zu gehe ich am Grabstein mit den drei Büchern vorbei. Wenn ich Glück habe, fällt mir dann eine verloren gegangene Geschichte mit D. ein.

Don Winslow habe ich inzwischen gelesen und ich weiß, dass er lebt, denn ich folge ihm auf Twitter. Er ist ein leidenschaftlicher Kritiker von Trump & Co, aber auch der Trägheit der Demokraten.



10 Gedanken zu „Grabstein für einen Bücherwurm“

  1. Siedlinghausen – ein Biotop für Bücherwürmer?
    Anderswo las ich neulich, und zwar kontrapunktisch zu der hier erzählten und bezeugten Geschichte, dass am 17. September 2011 auf dem Friedhof in Siedlinghausen eine „Gedenkstätte Siedlinghauser Kreis“ eingeweiht worden ist. Dessen spiritus rector war der in Siedlinghausen ansässige und praktizierende Landarzt Dr.med. Franz Schranz (1894-1961). Auch er war ein ausgesprochener Bücherwurm. Er soll über eine auch für bildungsbürgerliche Verhältnisse ungewöhnlich große, d.h. außerordentlich umfangreiche Privatbibliothek verfügt haben. In seinem Haus traf sich eine später als sog. Siedlinghauser Kreis bekannt gewordene Gruppe katholisch-konservativ und restaurativ bis reaktionär gesonnener, gleichwohl prominenter Professoren, Schriftsteller und Künstler, die auch in der Adenauer-Ära immer noch ein gewisses Ansehen genossen, zum Gedankenaustausch und geselligen Beisammensein (siehe dazu:Klaus Mickus, Der Siedlinghauser Kreis.Mutmaßungen über ein Phänomen in der westfälischen Provinz, Berlin 2011).

    1. @Dr. Bernd Dammann

      Vielen Dank für den ausführlichen Kommentar. Eine Frage vorweg: Haben Sie das Buch von Klaus Mickus vorliegen?

      Die Rede des Vaters (?) zur Einweihung des Denkmals (Veranstaltung Kolpinghaus) kennen Sie?

      https://www.sauerlandibus.de/sauerlankultur/Siedlinghauser-Kreis, auch der Anhang dort.

      Dass sich in Siedlinghausen damals eine große Anahl reaktionärer, auch den Nazionalsozialisten verbundener Menschen, im Umkreis von Dr. Schranz trafen, scheint unbestritten.

      Mir stellen sich allerdings einige Fragen:

      Ab wann sprechen wir von einem „Kreis“?

      Handelt es sich bei den Treffen wirklich um einen „Kreis“?

      Was hat dieser „Kreis“ bewirkt?

      Was soll das Denkmal auf dem Siedlinghäuser Friedhof ausdrücken?

      Ist es notwendig? Aus welchen Gründen?

      Kurz: die ganze Setzung „Siedlinghauser Kreis“ erscheint mir recht schwammig und kaum fassbar.

      Vor einiger Zeit hatte ich mir das Buch von Norbert Dietka, Der Siedlinghauser Kreis, 2020, in den Händen. Leider(?) bin ich damals nicht weiter gekommen. Dietka veröffentlich viel zu Jünger. Ansonsten habe ich in der Wissenschaft keine Spuren von ihm (Dietka) gefunden.

      Soweit erst einmal. Metaphorisch: Dieser „Kreis“ ist für mich noch nicht geschlossen.

      1. Ich habe mich zunächst vor allem auf den einschlägigen Wikipedia-Eintrag bezogen und empfehle weiterführend zur Beantwortung Ihrer Fragen unbedingt die Lektüre des hier verlinkten Texes::

        https://www.sauerlandibus.de/sauerlankultur/Siedlinghauser-Kreis

        Dazu sollte man außerdem das dort angehängte Dokument öffnen! Es gibt dort auch Fotos.

        Das Buch von Klaus Mickus besitze ich nicht. Es ist in Auszügen als google book einsehbar.

        Mein Hinweis auf den sog. Siedlinghauser Kreis bezieht sich ausschließlich auf das Phänomen des „Bücherwurms“ mit einer beeindruckend großen Bibliothek. In der Privatbibliothek des Dr.med.Schranz sollen sich einige Tausend Bücher befunden haben.
        Mein als Ergänzung verstandener Kommentar entspringt der Überzeugung, dass ein Blog, der vor allem in Siedlinghausen inhaltlich gestaltet und administriert wird, die gerade dort einst xeistierende Privatbibliothek des Dr. Schranz nicht unerwähnt lassen kann, wenn in einem solchen Blog-Beitrag über Bücherwürmer in Siedlinghausen berichtet wird. Ich selbst habe an diesem sog. Kreis weder ein forschungsspezifisches noch ein genuin politisches Interesse.

        1. Die leicht zugänglichen Texte habe ich alle gelesen. Mich interessiert in erster Linie, ob sich der Begriff „Siedlinghauser Kreis“ erhärten lässt.

          Sobald ich mir sicherer bin, wird es einen Blogbeitrag geben.

          1. Wer ist Norbert Dietka, der Autor eines in jüngster Zeit veröffentlichten „Standardwerkes“ über den sog. Siedlinghauser Kreis, und zwar mit dieser Kennzeichnung bereits im Buchtitel, in einem der renommiertesten Wissenschaftsverlage in Deutschland? –

            „Norbert Dietka studierte Germanistik und Geschichte an der Universität Dortmund und wurde dort mit einer Arbeit über die Jünger-Kritik (1945-1985) 1987 promoviert. Dietka war bis 2013 im Schuldienst und versteht sich heute als freier Publizist. Der Autor hat mehrere Beiträge zur Jünger-Rezeption in der französisch-deutschen Publikationsreihe Les Carnets der „Revue du Centre de Recherche et de Documentation Ernst Jünger“ (Rédacteurs en chef: Danièle Beltran-Vidal und Lutz Hagestedt) veröffentlicht und war zuletzt mit einem Aufsatz am Projekt Ernst Jünger Handbuch des Verlages J. B. Metzler (hg. von Matthias Schöning) beteiligt. 2016 veröffentlichte Dietka sein Buch Ernst Jüngers Versuch von der „Herrschaft und Gestalt des Arbeiters“ im Verlag Königshausen & Neumann.“

          2. Ich kenne das alles. Über Dietka gibt es nur wenige neutrale Rezensionen seiner Schriften. Sein Büchlein über den Siedlinghauser Kreis hatte ich gelesen. Es hatte mich damals nicht überzeugt, daher will ich es mir noch einmal anschauen. Die Fernleihe dauert ihre Zeit.

  2. Einer Besprechung des Dietka-Buches durch den Rezensenten Till Kinzel, erschienen bei ‚academia edu‘, entnehme ich die folgenden Hinweise:

    (1) „Der Landarzt Dr. Schranz … baute sich über Jahre eine große Privatbibliothek auf, die schätzungsweise 30.000 Bände umfaßte.“

    (2) Im Nachwort seines Buches schreibt der Autor Dietka (zitiert von Kinzel): „Es gibt kaum Quellen, die gescherte Einblicke in eine wie auch immer strukturierte Ereignisrealität gewähren, weder reflektierende Tagebuchnotizen, noch irgendwelche schriftlichen Zeugnisse, die einigermaßen plausibel belegen könnten, warum sich in dieser ländlichen  Abgeschiedenheit bemerkenswerte Zeitgenossen getroffen haben, um sich auszutauschen, sich ihrer, im Diskurs oder mittels lockerer Meinungsaustausche, zu vergewissern. Auch müsste, über Mentalitätsspezifika hinaus, klar auf der Hand liegen, welche Motivation und welches Interesse vorherrschten, um grosso modo überhaupt von einem ‚Kreis‘ sprechen zu können. Wäre man geneigt, ex negtivo das Vorhandensein eines intellektuellen Kreises in Frage zu stellen, dann müsste man zumindest einräumen, dass es ein turnusmäßiges Musikereignis gab, dem man den Charakter eines ‚Kreises‘ durchaus zubilligen könnte. Dennoch muss man dieses allseits deklarierte Ereignis extra ordinem zur Kenntnis nehmen und goutieren, dass zumindest temporär Siedlinghausen auf bestimmte Zeitgenossen eine gewisse Anziehung ausgeübt hat. Offensichtlich bestand für einen inkorporierten Personenkreis das starke Bedürfnis, in einem naturnahen Ambiente Gleichgesinnte zu konsultieren, um mit ihnen in realiter eines besonderen Fluidums freundschaftliche Kontakte zu pflegen, im Bewusstsein hier standpunktkonvergent und ästhetisch kohärent kommunizieren zu können.“ (Dietka)

    1. Die Rezension – habe sie selbst gelesen – verstärkt meinen Eindruck, dass es sich bei dem Siedlinghauser Kreis um eine Schimäre handelt. Im besten Falle ein Nichts Genaues weiß man Nicht. Die krisierte Form und der schlechte Stil der Abhandlung Dietkas haben mich vor mehr als einem Jahr ebenfalls ratlos gelassen.

      Für die offensichtlich rechten Kreise, die sich für das Thema interessieren, scheint der rechte Nichtkreis ebenfalls uninteressant zu sein.

      Nichtsdestotrotz werde ich das Thema im Hinterkopf behalten.

        1. „Sag wo die Soldaten sind
          Wo sind sie geblieben?
          Sag wo die Soldaten sind,
          was ist geschehen?
          Sag wo die Soldaten sind,
          über Gräber weht der Wind.
          Wann wird man je verstehen,
          wann wird man je verstehen?“

          Was ist mit denen, denen man befiehlt zu schießen? Auf Menschen, auf den Nächsten. Da sitzen sie in ihren Palästen und befehlen so etwas. Warum? Weil sie es können. Weil so etwas immer noch möglich ist und möglich gemacht wird…

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