Wenn bei uns im Ort ein Buch in Plastikhülle vor einem Stein liegt, sieht das jeder – sofort. Irgendetwas stört das Bild.
Das Buch lag also schon seit dem Morgen vor dem großen Siedlinghausen-Stein an unserer Hauptstraße nahe der Volksbank. Dort, in der Bank, wollte ich gestern Abend Geld aus dem Automaten ziehen, um beim Döner mein Essen bezahlen zu können.
Plastikumschlag aufgehoben. „Buch auf Reisen!“ stand drauf: „www.bookcrossing.com„.
„Lieber Finderin, lieber Finder!“, las ich weiter. „Ich bin ein besonderes Buch. Ich wurde weder vergessen noch verloren oder weggeworfen, sondern ich wurde absichtlich freigelassen, um neue Leser zu finden!“
Ich schwöre, dass diese Ausrufezeichen alle genau so auf dem Plastik kreischten. Ich bin kein pingeliger Mensch, aber Ausrufezeichen -das wissen unsere BlogautorInnen- sind fast das einzige Element, das ich gnadenlos aus den meisten Texten lösche. Gnadenlos!
Ich habe das Buch vorsichtig ausgepackt: „Splissen und Knoten – Heiteres aus der Marine, 1926, Neuauflage 1951“.
„Ich nicht!“, war mein erster Gedanke und sofort ich habe das Schicksalsspiel gespielt. Das Spiel geht so: ich lasse dich da liegen und gehe im Döner-Laden meinen Döner essen. Ganz in Ruhe. Und dann bist Du weg. Ich habe gewonnen.
Wenn du noch am Stein herumliegst, weil dich keiner weggenommen hat, dann habe ich verloren und ich nehme dich mit nach Hause.
Ich habe verloren, und wie! Ausrufezeichen!
In dem Augenblick, als ich mir das Buch in den Rucksack steckte, rief jemand vom Balkon: „Hat da einer was liegen lassen?“ Ich erschrocken, aber geistesgegenwärtig: „Nö! Ist ein reisendes Buch.“
Balkon:“Da hat doch jemand was vergessen. Das liegt da schon seit heute Morgen. Ich beobachte das schon seit heute Morgen!“
Ich: „Das ist so eine Art Cache, das loggt man im Internet.“
Balkon: “ Davon kenn‘ ich nichts, aber das liegt da schon seit heute Morgen. Das hat niemand genommen. Hat das jemand liegen lassen?“
Ich: „Der hat das mit Absicht gemacht, damit das jemand aufhebt. Ich gehe jetzt nach Hause und logge das im Internet. Ist vielleicht ganz spannend.“
Balkon: „Internet, davon weiß ich nichts. Hoffentlich hat das keiner vergessen. Seit heute Morgen …“
Einen Tag später liegt das Buch mit der Bookcrossing-ID 065-11907498 neben meinem Computer und ich habe sogar ein wenig darin geblättert:
„Jeder Soldat weiß, daß es keine Disziplin gibt ohne Kameradschaft und keine Kameradschaft ohne Frohsinn. Wer nicht lachen kann, ist kein Soldat. Ich möchte mich nicht in das Gebiet der Politik verlieren, darum will ich dem Gedanken nicht weiter nachgehen, wie es kam, daß hintereinander die drei Säulen Frohsinn, Kameradschaft und Disziplin zusammenbrachen. Die Erinnerung an manches Dunkle verblasst langsam, und heller leuchtet von Jahr zu Jahr der Frohsinn und Heldengeist unserer alten Flotte.“
Tja, so kann man die Gräuel des Ersten Weltkrieges natürlich auch sehen. Ekelhaft.
Und jetzt mache ich ein Foto von einer Geschichte, die präzise die Verschränkung von Krieg, Gewalt und Sexualität beschreibt. Bitte mal lesen … wundert sich noch jemand über Vergewaltigungen im Krieg oder Vorkrieg oder Nachkrieg oder …
Was soll ich jetzt mit dem Buch machen?
@Zoom Was soll ich jetzt mit dem Buch machen?
Verheizen!
Du könntest das Buch
– wegschmeißen (das mache ich mit Kettenbriefen und so wirkt auch dieses Buch),
– lesen, endlich eine kritische Bewertung bei amazon schreiben und dann wegschmeißen.
– wegschmeißen und stattdessen ein anderes Buch auf Reisen schicken, ein Buch, welches es wirklich verdient hat auf Reisen zu gehen. Beim Thema 1. Weltkrieg könnte das z.B. von Erich Maria Remarque ‚Im Westen nichts Neues‘ sein.
Btw – nette Geschichte 😉
Hätte Gustav Noske in Gründungsphase der Weimarer Republik nicht den „Bluthund“ gegeben, konkret sich mit den Freikorps verbündet, wären ostelbisches Junkertum und Reserve-Offizier-Weltbild wahrscheinlich unwichtig geworden. Und wahrscheinlich wäre das von Zoom gefundene Buch nie erschienen.
@Johanna:
EMR passt immer bzgl. WK1 – grandios und jenseits jeglicher Diskussion.
Gilt meiner unwichtigen Meinung nach nicht weniger für Kubricks „Wege zum Ruhm“?
Jenseits weltberühmter Prosa beschreibt/beschrieb Walter Tormin http://de.wikipedia.org/wiki/Walter_Tormin in seinem SACHBuch „Die Weimarer Republik“ die Begebenheiten nach dem November 1918 verdammt gut.
Ein lesenswertes Buch. War niemals Bestseller, wahrscheinlich zu gut für diese Schublade?
btw: Johanna-Bonmot „nette Geschichte“ leg ich mal unter Zynismus ab?
Schmeissen Sie es weg! (<- das ! ist absichtlich!)
Jede Reise geht einmal zuende…
Was haben Sie denn nun mit dem Buch gemacht? Ich hoffe Sie haben es weiterreisen lassen, denn das ist ja das Prinzip vom Book-Crossing.. 😉
Hamburg, nahe am Wasser 😉
Vielen Dank für die Information.
Es gibt übrigens noch eine Variante: BUCH AUF REISEN – eine kostenlose Plattform im Internet für Autoren und Leser gleichermaßen!
Hier kann man sich als Leser ganz gezielt als Leihgabe ein Buch aussuchen. Als Gegenleistung wird allerdings ein kleiner Kommentar im Forum des Projekts erwartet. Fast 60 Autorinnen und Autoren machen inzwischen mit.
@Fred Lang
Ich habe mir gerade Deine umfangreiche Website angesehen und ein wenig herum gestöbert. Du bist ja eine ganz interessante Persönlichkeit mit vielen Ideen. Hoffentlich habe ich im letzten Jahr nicht allzu viel verpasst. Bin gerade in deinem Forum unterwegs: http://www.buch-auf-reisen.de/ nach unten scrollen und habe den Bericht über Dich aus dem Hamburger Abendblatt gelesen: http://www.fred-lang.de/himself2.html
Hätte ich vor anderthalb Jahren schon gewusst, dass du im Alten Land wohnst, wäre ich auf meiner letzten Radtour nach HH mal kurz vorbei geradelt – zwecks Artikel.
Ob ich meinen Leserinnen und Lesern deine erotische Bilderschau Viva la Vulva zumuten kann, müssen diese selbst entscheiden. Sind ja alt genug 🙂
Inzwischen wurde das Projekt „Buch auf Reisen“ von mir offline gestellt. Zum Schluss machten zwar über 60 Autoren mit, die aber immer nur gegenseitig sich ihre Werke zuschickten. „Normale“ Leser waren die Ausnahme und auf die Dauer lief alles immer nur im Kreis. Schade!