Eine Inschrift über dem Eingang des jüdischen Stammhauses – Kirchenbuchfunde – früher Antisemitismus – Beiträge aus Portugal, Frankreich und den USA

Dokumentation: Einleitung zum neuen Band über die Geschichte der Juden in Eslohe

Umschlagbild des zweiten Bandes der Beiträge zur Geschichte der Esloher Juden

„Warum schuf Gott nur einen Menschen? Damit sich niemand auf seine Abstammung berufe und zu seinen Mitmenschen spreche: Ich bin etwas Besseres als der andere.“ (Mischna Sanhedrin IV, 5)
„Es sind die aus Ägypten Befreiten, die der Menschheit das verlorene Bewußtsein von dem einen Vater aller Menschen, und dem gleichen Rechte und der gleichen Ebenbildlichkeit und Gotteskindschaft aller Men­schen wieder gebracht. Es sind die aus Ägypten Befreiten, aus deren Händen sie das Buch hingenommen, das das Recht und die Freiheit und die göttliche Würde jeder Menschenseele verbrieft und versiegelt.“ (Rabbiner Samson Raphael Hirsch, 1808-1888)

Mit dem vorliegenden Band wird das zweiteilige Werk „Beiträge zur Geschichte der Esloher Juden“ abgeschlossen. (https://buchshop.bod.de/gott-fuer-uns-alle-9783695142156) Die im Buchtitel übernommene Botschaft „Gott für uns alle“ steht als Balkeninschrift über dem Eingang des Fachwerkhauses in der Esloher Kupferstraße 3, d. h. des örtlichen Stammhauses der jüdischen Familie Goldschmidt.

(Gastbeitrag Peter Bürger)

„Jacob Goldschmidt muss vor 1819 das sogenannte ‚Judenhaus‘ an der Ecke Kupferstraße/Rochusweg erworben haben. Selbst gebaut hat er es indes nicht, denn [eine] wieder sichtbar gemachte Balkeninschrift nennt Casimir Hallmann und Maria Sophia Kropff am 31. Juli 1798 als Erbauer dieses Hauses. Da Casimir 1808 und seine Frau Maria Sophia 1809 starb, wird Jacob Goldschmidt das Haus um diese Zeit erworben haben“ (Dierk W. Stoetzel). Viel mehr können wir im Rahmen dessen, was uns die überlieferten Daten vorgeben, nicht vortragen. Jakob Sander/Goldschmidt (1753–1827), dessen Vater Sander Laiser sich vor Mitte des 18. Jahrhunderts im Esloher Land niedergelassen hatte, könnte natürlich schon um 1800 (Mit-)Bewoh­ner des Gebäudes in der ‚Kupferstraße 3‘ gewesen sein oder das Haus noch zu Lebzeiten der Erbauer von diesen erworben haben. Doch solches bleibt Spekulation. Jedenfalls erwog der ‚Handelsjude Jakob‘ (ab 1814 bezeugter Nachname: Goldschmidt) schon um 1800, seine Unterkunft in Eslohe mit einem Ritualbad zu versehen.

Das jüdische Textilhaus Jonas Goldschmidt Eslohe (Bild: Museumsarchiv)

Wie alt oder ursprünglich die Balkeninschrift „Gott für uns alle“ über der Eingangstür ist, können uns vielleicht die Denkmalschützer sagen. Verführerisch ist es aus theologischer Sicht allemal, anzuneh­men, die Familie des Jakob habe sie anbringen lassen und auf diese Weise jenen Blick auf die eine – ungeteilte – Menschheit bezeugt, der die rabbinische Religion im Gefolge der Propheten Israels auszeichnete: „Was die Lehre Israel befiehlt, hat nur den Zweck, unter Menschen gegenseitige Liebe und Frieden aufrechtzuerhalten.“ (Sefer ha-chassidim)

Im Ersten Band „Sind wir auch Israels Kinder“ https://www.schiebener.net/wordpress/und-sind-wir-auch-israels-kinder-der-erste-band-der-beitraege-zur-geschichte-der-esloher-juden-ist-erschienen/ (2019) dokumentieren wir in chronologischer Reihenfolge Berichte, Forschungen und andere Wortmeldungen zur Geschichte der jüdischen Bewohner des Gemeindegebietes ab dem 18. Jahrhundert, die zuerst in den Jahren 1988 bis 2013 erschienen sind (gleichermaßen: erste Versuche, Unfertiges und gereifte Darstellungen) – außerdem auch einige Zeugnisse zur örtlichen Gedenkkultur. Die vor allem von Rudolf Franzen und Alfred Bruns in Gang gesetzte Esloher Forschungsgeschichte zum Thema – mit all ihren Umwegen, Fortschritten, Irrtümern, Korrekturen und ‚Nachwirkungen‘ – kann somit in einer Gesamtschau nachvollzogen werden. Populäre und wissenschaftliche Texte sind glei­chermaßen vertreten. Es werden bereits Themen angegangen, die den üblichen Kanon von ‚Ortschroniken‘ übersteigen. Nach Jahrzehnten des Vergessens bzw. ‚Nichtwissens‘ haben ein Dutzend Autoren/Autorinnen aus lokalen und überregionalen Kontexten im Verlauf eines Vierteljahrhunderts – neben den Erinnerungen von Zeitzeugen und persönlichen Betrachtungen – solide quellenbasierte ‚Rekonstruktionen‘ und Erkenntnisse vorgelegt. Es bringt uns weiter, Fragen zu stellen, andere um Rat oder Mitarbeit zu bitten, unterschiedlichen Perspektiven und Interessen Gehör zu schenken … Der Sporthistoriker Henry Wahlig hat uns beispielsweise gezeigt, dass die Fußballbegeisterung der Esloher Goldschmidt-Brüder mitnichten nur ein Gegenstand der Ortskunde geblieben ist. Hans Jürgen Rade (Paderborn), der jetzt Mitherausgeber dieses Folgebandes ist, konnte erstmalig die jüdischen Wurzeln der Esloher Familie Gabriel belegen. Dierk W. Stoetzel gelang es 2009/2010 mit glücklicher Hand, Darstellungen aus zwei Jahrzehnten kritisch zu sichten, sachliche Fehler zu berichtigen und offene Fragen zum Schicksal von Jüdinnen und Juden aus dem Gemeindegebiet zu beantworten.

Der Zweite Sammelband „Gott für uns alle“, eingeleitet durch einen konzentrierten Überblick des Jahres 2015 aus der Feder von Dr. Alfred Bruns (1934-2024), vereinigt jetzt – dargeboten in sechs thematischen Abteilungen – ganz neue Forschungsbeiträge und umfangreiche Quellendokumentationen:

Aus Kirchenbüchern . . . |Prof.Dr.Robert Jütte (Stuttgart) und Louis Meiselman (USA) erschließen zwei Dokumente zur Frühgeschichte der Juden in Eslohe. (Unter Bezugnahme auf diese Arbeit erreichte uns am 14.8.2022 eine Anfrage des Jerusalemer Archivars Yisrael Dubitsky. Reproduktionen der hebräischen und jiddischen Schriftstücke im Esloher Pfarrarchiv sind nunmehr auch in der Handschriftenabteilung der Natio­nalbibliothek von Israel einzusehen.) Der Paderborner Bistumsarchivar Hans Jürgen Rade beleuchtet Personenstandseinträge von Jüdinnen und Juden in den Kirchenbüchern der katholischen Pfarrei St. Peter und Paul (1827-1838) und zeichnet den Weg von Jüdinnen und Juden aus Eslohe und Wenholthausen, die sich taufen ließen, nach. (Wir können diesem Autor für seine gründlichen Darstellungen zur Genealogie und Geschichte der jüdischen Familien des Gemeindegebietes kaum gebührend danken.) Ich selbst vermittele in dieser Abteilung noch eine weitere ‚Nachlese‘ zum Grabstein der Louise Gabriel (1814-1830).

Sozialgeschichtliches – Erwerbsleben | Originalbeiträge von Magdalene Fiebig und Hans Jürgen Rade behandeln Geschäftsbeziehungen des Hofes Stiesberg mit jüdischen Kaufleuten (Anschreibebücher 1801-1873) und die Kapitalkraft von Juden in der nahen Landschaft (1826-1833). Zudem können in einer umfangreichen Zusammenstellung alle bislang gesammelten Zeitungsinserate jüdischer Kaufleute nachgelesen werden; sie sind bezogen auf die Zeit ab Mitte des 19. Jahrhunderts eine relevante Quelle für Arbeiten zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte.

Judenbilder – Judenfeindschaft | Fünf orts- und regionalgeschichtliche Beiträge erhellen kulturelle „Judenbilder“ und die lange Geschichte des Antisemitismus (Autoren: Karl-Arnold Reinartz und Peter Bürger); im Originalwortlaut kommen u. a. Brauchtumsverse und die ‚aussagekräftigen‘ Voten eines Esloher Soldaten aus der Zeit des Ersten Weltkrieges zu Gehör. Nach einer Lektüre dieser Abteilung wird niemand mehr sagen können, die Feindseligkeit gegenüber Juden sei erst spät mit „den Nazis“ in die Heimat gekommen, gleichsam als etwas ganz Neues und Fremdes …

Nachfahrinnen der Esloher Juden schreiben für die Chronik | Die Zusendungen von Ester Nebenzahl (Urenkelin des 1851 in Eslohe geborenen Alexander Goldschmidt, Portugal) und Aurélie Bechoff (Urgroßenkelin des 1867 in Eslohe geborenen Pariser Modeschöpfers Emil Bechhoff, heute in Israel lebend) stehen in Zusammenhang mit dem Ersten Band (2019) unseres Projektes, der dank des internationalen Buchvertriebes weit über die Landesgrenzen hinaus Interesse gefunden und neuen Austausch ermöglicht hat. Zur familienbezogenen ‚Nachgeschichte der Esloher Juden‘ sind so beeindruckende Kapitel hinzugekommen.

Aus dem Esselboten | Zwei Beiträge von Walter Schulte (1940-2025) in hoch- und plattdeutscher Sprache erhellen auf eigentümliche Weise die lokale Erinnerungsgeschichte.

Museumsarchiv – Akten &Aufzeichnungen | Den Abschluss bildet eine dokumentarische Abteilung nach dem Fundus im Esloher Museum: Quellentexte zur Geschichte der Juden im Gemeindegebiet (Dokumente, Zeitungsartikel u. a.); Esloher Akten zur Beraubung der jüdischen Familie Goldschmidt* im NS-Staat; handschriftliche Aufzeichnungen des bäuerlichen „Chronisten“ Heinrich Heymer (1898-1966); Gesprächsprotokolle zu Zeitzeugenbefragungen 1988 und in den 1990er Jahren von Rudolf Franzen und Peter Bürger; Aufzeichnungen von Fritz Heinrichs (geb. 06.08.1929) zu „Eslohe 1929-1946“. – Die umfassende Darbietung von Originalquellen und Zeugnissen (mit unvermeidlichen Wiederholungen) sorgt für Transparenz; sie erleichtert allen, die auch zukünftig zur „Geschichte der Esloher Juden“ forschen wollen, die Weiterarbeit. […]

Die Beiträge in den beiden Bänden unseres Sammelwerks zur Geschichte der Esloher Juden stammen von insgesamt 23 Zeitzeugen/ Zeitzeuginnen und Forschenden. Möglichst vollständig sollten auch alle zugänglichen Quellentexte dokumentiert werden – sowie die Aussagen derer, die vom ‚letzten Kapitel‘ dieser Geschichte noch aus eigener Anschauung zu berichten wussten. Da wir von den beiden Bänden ‚durchsuchbare‘ Digitale Erstausgaben frei zugänglich machen, bringt der Verzicht auf ein abschließendes Namen-, Orts- und Sachregister für die Leserschaft keine großen Nachteile mit sich.

Welche Wünsche lassen sich mit Blick auf Zukünftiges vortragen? Auf fast 900 Seiten enthält unsere zweiteiligen Veröffentlichung einige Hinweise auf jene Schauplätze (Themen) und offenen Fragen, die für weitere ortsbezogene Forschungen von Belang sein können. Sie bietet zudem solide Grundlagen dafür, eine zusammenhängende – möglichst populäre – ‚Kleine Geschichte der Esloher Juden‘ auf nur etwa hundert Seiten und ‚aus einem Guss‘ zu verfassen. (Möglicherweise sieht in einigem Abstand ja eine junge Autorin oder ein junger Autor darin eine reizvolle Aufgabe?)

Noch unterbelichtet ist unter anderem der Blick auf die Darstellung von Juden in den christlichen Kunstwerken der Kirchen- und Kapellengemeinden des Esloher Gemeindegebietes – zu denen beispielsweise der 1885 eingesegnete Kreuzweg hoch zur Rochuskapelle (ein ‚Jude mit Geldsack‘ unter den Drahtziehern hinter der Kreuzigung) und ein Holzrelief zum „Passahmahl“ von 1889 gehören.

Natürlich kommen wir mit unseren Erkundungen nie an ein Ende … Die in fast allen Kommunen von Westfalen und Lippe seit den 1980er Jahren angestellten ‚Nachforschungen‘ sind vor zehn Jahren in einem stattlichen Nachschlagewerk in Form von Ortsartikeln vermittelt – und auch schon auf einer ersten Ebene für die überregionale Gesamtschau ausgewertet worden (www.juedische-geschichte. lwl.org/de/). Hinzu treten Spezialstudien für bestimmte Felder des jüdischen Lebens in Westfalen. Die Regale sind gefüllt. Eine vordringliche Aufgabe der Lesemeister*innen besteht wohl auch darin, Vorhandenes für ein breiteres Publikum zu erschließen.

Schön wäre es, wenn der sauerländische Austausch mit ‚Nachfahren der Esloher Juden‘ – der sich zunächst vor allem durch Besuche aus den USA vollzogen hat – vielleicht auch in der nächsten Generation nicht ganz abbricht.

Im Vergleich mit Meschede, Finnentrop-Lenhausen, Schmallenberg und anderen Nachbarschaften schmerzt noch immer eine Leerstelle in der bestehenden Gedenkkultur: das Fehlen von ‚Stolpersteinen‘zur Erinnerung an verfolgte jüdische Mitmenschen und alle anderen Opfer des deutschen Faschismus in der Gemeinde Eslohe. – Vielleicht wird es in der Kommune auch einmal einen ‚Historischen Rundgang‘ mit Ortsbegehungen im gesamten Gemeindegebiet geben. Aufzusuchen wären vor allem die heute noch erhaltenen Wohn- und Geschäftshäuser, der kleine jüdische Friedhof zwischen Büenfeld und Wenholthausen (‚Jaidstein‘ Oesterberge), Grabsteine von Nachfahren ‚getaufter Juden‘ auf dem Kirchhof (Familie Gabriel), Werke der Kirchenkunst (s. o.), der von den Goldschmidt-Brüdern u. a. durch Grundstück-Spende ermöglichte Sportplatz (B.C.E.), Gedenkorte (Tafel an der Esselbrücke, Goldschmidt-Weg) sowie ‚Erinnerungsobjekte‘ im Dampf Land Leute-Museum. Ein inspirierendes Vor­bild wäre bei den Schmallenbergern zu finden, die ihren Besuchern für einen historischen Stadtrundgang auf den Spuren des jüdischen Lebens am Ort ein besonderes Faltprospekt anbieten.

Ich selbst konnte den Fortschritt der Erkenntnisse zur Geschichte der Esloher Juden seit 1988 mit einiger Anteilnahme verfolgen. Jetzt zu überblicken, was nach über 35 Jahren aus den Werkstätten von Leuteforschern und ausgesprochenen Experten zusammengekommen ist, ver­setzt mich in Erstaunen. Wir alle dürfen dankbar dafür sein, dass Menschen sich gegenseitig anregen, korrigieren (d. h. weiterhelfen) und beschenken können.

Der neue Band – seit Dezember auch im Buchhandel bestellbar:

ALS PREISWERTES PAPERBACK:
„Gott für uns alle“. Beiträge zur Geschichte der Esloher Juden – Zweiter Band. Herausgegeben von Peter Bürger und Hans Jürgen Rade, in Kooperation mit dem Dampf-Land-Leute-Museum Eslohe. (= edition leutekirche sauerland 28). Hamburg: BoD 2025.
(ISBN: 978-3-6951-4215-6; Paperback; 576 Seiten; 24,99 Euro)
https://buchshop.bod.de/gott-fuer-uns-alle-9783695142156

MIT FESTEM EINBAND:
„Gott für uns alle“. Beiträge zur Geschichte der Esloher Juden – Zweiter Band. Herausgegeben von Peter Bürger und Hans Jürgen Rade, in Kooperation mit dem Dampf-Land-Leute-Museum Eslohe. (= edition leutekirche sauerland 28). Hamburg: BoD 2025.
(ISBN: 9783695155811; fester Einband [Hardcover]; 576 Seiten; 34,99 Euro)
https://buchshop.bod.de/gott-fuer-uns-alle-9783695155811

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