Einhundert Jahre später im Bürgerzentrum Kolpinghaus in Brilon
Den vergangenen Mittwochabend mit Roman Knižka und dem Bläserquintett Ensemble OPUS 45 im Bürgerzentrum in Brilon musste ich erst einmal sacken lassen. Die Reise in das Krisenjahr der jungen Weimarer Republik 1923 wurde von der Landeszentrale für politische Bildung in Zusammenarbeit mit der Briloner Bibliothek organisiert und vom Publikum im Hochsauerland begeistert aufgenommen.
Mehr als 70 Zuschauer*innen folgten gebannt Roman Knižkas Rezitation zeitgenössischer Journalisten, Schriftsteller und Dichter – Kurt Tucholsky, Bertolt Brecht, Rainer Maria Rilke, Eugeni Xammar, Egon Erwin Kisch, Harry Graf Kessler… nein, eine Frau war nicht darunter – sowie den perfekt eingepassten musikalischen Kommentierungen des Bläserquintetts Opus 45 mit Stücken von u.a. Carl Nielsen, Paul Hindemith, Jacques Ibert, Erwin Schulhoff und Hanns Eisler.
Ich weiß von mehreren Bürger*innen, die traurig waren, dass sie keine Eintrittskarte mehr bekommen hatten. Zu Recht, muss ich leider sagen. Ihr habt einen wunderbar abwechslungsreich vortragenden Roman Knižka und ein nicht minder exzellentes Bläser-Ensemble verpasst.
Der literarische Kammermusikabend entführte uns in die politisch dramatische und kulturell faszinierende Welt des Jahres 1923. Als roter Faden durch die teils dramatischen politischen (Hitlerputsch. Mord an Walther Rathenau) und kulturellen Ereignisse (Bauhaus, Chaplin, Operetten, Radio-Euporie) diente der inflationäre Brotpreis der beginnend mit 300 Reichmark am Ende des Jahres 399 Milliarden RM betrug.
Ausgerechnet Bananen, der Erfolgs-Schlager mit der tragisch-komischen Geschichte, war nicht so unschuldig, wie er als Gassenhauer gesungen wurde. Das bittere Ende wurde allerdings in der Dreigroschenoper („Soldaten wohnen auf den Kanonen„) deutlich.
Das Programm stellt die Frage, ob wir auf dem Weg zurück nach Weimar sind: „Im Jahr 2023 diskutieren nicht nur Historiker:innen über diese Frage angesichts „der Tatsache, dass unsere vermeintlich fest etablierte demokratische Staatsform keine Selbstverständlichkeit sein muss: Rechtspopulistische Strömungen und autoritäre Politikentwürfe gewinnen bei uns und in vielen Ländern an Zulauf.“ (Institut für Zeitgeschichte München-Berlin). Ein Blick hundert Jahre zurück in das Jahr 1923 mag fruchtbare Denkanstöße liefern und aufzeigen, welche Erkenntnisse wir aus den Krisen und dem letztendlichen Scheitern der ersten deutschen Demokratie für uns heute ziehen können.“ (http://www.opus-45.de/projekte/krisenjahr-1923/)
Roman Knižka und das Ensemble Opus 45 konnten und wollten diese Frage nicht beantworten. Sie haben uns mit großem Engagement eingeladen, selber nachzudenken, nachzulesen und uns mit dem Krisenjahr 1923 zu beschäftigen.
Lesestoff gibt es bei der Landeszentrale für politische Bildung. Sechs Titel pro Jahr darf sich jede/r NRW-Bürger*in dort kostenlos bestellen:
https://www.politische-bildung.nrw.de/publikationen/bestellhinweise
Um den Mittwoch Abend in Brilon auszuarbeiten, werde ich Mark Jones, 1923 lesen. Für Vielleser*innen kann ich noch die mehr als 600 Seiten Michael Wild, Zerborstene Zeit, empfehlen.
Wer den Abend verpasst hat, kann dem Programm immer noch hinterher reisen. Am 29. September treten Roman Knižka und Opus 45 in Kooperation mit der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung im Stadtschloss Fulda auf: http://www.opus-45.de/projekte/krisenjahr-1923/
Eine letzte Bemerkung. Bis letzte Woche wusste ich nicht, dass die Landeszentrale für politische Bildung schon seit Jahren regelmäßig Lesereisen veranstaltet. Gut zu wissen:
https://www.politische-bildung.nrw.de/publikationen/lesereisen/
»Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie?
Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?
Was ist die Ermordung eines Mannes gegen die Anstellung eines Mannes?«
Veröffentlicht / Quelle:
Die Dreigroschenoper (Druckfassung 1931), III, 9 (Mac). In: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Erster Band: Stücke 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1997. S. 267
Brechts Fragen gehen „ein wenig“ weiter als der Kultur-Ereignis-Bericht: wenn das System Sch***** ist, warum soll man über Details nachdenken?
Die Frage ist ja nicht, ob das System Sch… ist, sondern wie ändern wir es?
Das Krisenjahr hält viele Parallelen (soziale Krise, Antisemitismus, Radio heute Internet, Faschisten (ist Höcke nur eine Hitlerkarikatur?), …) bereit, aber letztendlich will ich nicht bei 1933 = 2033 enden. Wie bleiben wir handlungsfähig?
Das Zusatzfeature von 2023 ist die globale Klimakrise. Alt hingegen ist, dass Teile des Großkapitals (oder nenne es anders) mit der Protofaschistischen AfD zusammenarbeiten und Organisationen des Staatsapparates, vor allem der Verfassungsschutz, mit Nazis, siehe NSU-Morde/V-Männer.
Was also tun?
… zuallererst: aufhören, mit Reförmchen im Sandkasten zu spielen.
Und dann – „das Zusatzfeature von 2023 ist die globale Klimakrise“ – die „Verrückten“ dahin schicken, wo sie hingehören:
“Anyone who believes that exponential growth can go on forever in a finite world is either a madman or an economist.”
„Jeder, der glaubt, exponentielles Wachstum kann in einer endlichen Welt andauernd weitergehen, ist entweder ein Verrückter oder ein Ökonom.“
Genau das ist der Grund, warum im Weltraum herumgestochert wird.
… „Schweine im Weltall“ ?
Lektüre:
Die Ausweisung sogenannter „Ostjuden“ im Herbst 1923
Bereits während Gustav von Kahrs Amtszeit als Ministerpräsident von Bayern gab es antijüdische Aktionen. Unmittelbar nach seiner Ernennung zum Generalstaatskommissar setzte er Anfang Oktober 1923 unter dem Vorwand, etwas für die bayerische Wirtschaft tun zu wollen, eine Kampagne gegen Juden nichtdeutscher Staatsangehörigkeit in Gang. In einer Anweisung an die Regierungen und Polizeibehörden vom 5. Oktober 1923, die als Abdruck in den Akten des Innenministeriums überliefert ist, forderte er dazu auf, „volksfremde“ Personen, die wegen Wuchers oder Kriegsgewinnlerei verurteilt worden seien, durch rasche Ausweisung „unschädlich“ zu machen.
https://archivebay.hypotheses.org/3254