Georg Nellius war ein überzeugter Propagandakomponist, der die Vorliebe der Nationalsozialisten für Volkslieder und Märsche nach Kräften zu bedienen suchte.

nelliuswordle02Wir veröffentlichen eine Stellungnahme (siehe auch hier im Blog)  von Prof. Dr. Michael Custodis, dem geschäftsführenden Direktor des Instituts für Musikwissenschaft und Musikpädagogik an der Universität Münster – Fach Musikwissenschaft, zur neuen Nellius-Studie von Peter Bürger und Werner Neuhaus.

Die Autoren der Studie würde es nach eigenen Aussagen freuen, wenn auch diese Expertise (Prof. Custodis – Stellungnahme Nellius 30 01 2014) allen Beteiligten in der Diskussion helfen würde, die wissenschaftliche Solidität der neuen Forschungsarbeit einzuschätzen, und somit zur sachlichen Diskussion beitrüge.

Zu den Auseinandersetzungen um die Umbenennung der Nellius-Straße (siehe hier im Blog) äußert sich Peter Bürger wörtlich: „Wir möchten unseren Respekt vor der enormen Arbeitsleistung der Sunderner Bürgerinitiative „Nelliusstraße bleibt“ und deren geltend gemachtem Informationsbedürfnis nachdrücklich betonen. Dies sollte in keiner Berichterstattung unterschlagen werden.“

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Internetzugang zur neuen Studie:
http://www.sauerlandmundart.de/pdfs/daunlots%2069.pdf

Der Wortlaut des Gutachtens***:

Sehr geehrter Herr Bürger,

gerne komme ich Ihrer Bitte nach, zu Ihrer umfangreichen und aufschlussreichen Studie über Georg Nellius Stellung zu nehmen.

Vorab möchte ich bemerken, dass sie thematisch in eines meiner Hauptarbeitsgebiete zur Kontinuität von NS-Strukturen im Nachkriegsmusikleben fällt. Nachdem zuletzt ein gemeinsam mit Prof. Friedrich Geiger (Universität Hamburg) verfasstes Buch hierzu erschienen ist (Netzwerke der Entnazifizierung. Kontinuitäten im deutschen Musikleben am Beispiel von Werner Egk, Hilde und Heinrich Strobel, Waxmann – Münster 20 13), widmete ich mich zuvor Biografien bekannter Musikwissenschaftler, Journalisten und Komponisten (u.a. Friedrich Blume, Joseph Müller-Blattau, Fritz Stein, Wolfgang Steinecke und Hermann Unger), bei denen die Aufarbeitung ihrer Karrieren vor 1945 in Beziehung gesetzt wurde zu ihren Entnazifizierungsverfahren.

Die Erfahrungen meiner Forschungen decken sich mit den Ergebnissen Ihrer gründlich recherchierten Studie, die dankenswerterweise die in manchen politischen Einschätzungen kritisch zu diskutierende Nellius-Dissertation von Esther Wallies um unbekanntes, höchst relevantes Archivmaterial ergänzt. Dabei zeigt sich m.E. ganz eindeutig, dass man es bei Georg Nellius mit einem überzeugten Antisemiten und Nationalsozialisten der ersten Stunde zu tun hat, der nicht nur in der Chorarbeit sehr agil war (die in der populistischen Zielrichtung des Dritten Reiches große Bedeutung hatte) und als Pädagoge die Indoktrinierung der Jugend nach Kräften beförderte, sondern vor allem als Künstler seine Musik in den Dienst des NS-Staates stellte. Wenn die im Anhang ab S. 49 Ihrer Studie aufgelisteten Stücke für op. 7, 12 und 22 noch typische völkische, deutschnationale Hausmannskost im Nachgang des Ersten Weltkriegs zeigen (1918-1923), unterstreichen bereits die Titel der von Nellius in seinem Westfälischen Liederbuch (1935) zusammengefassten Stücke op. 63, 15-20 „Heil dem dritten Reich!“ (Der Ruf des Führers, Treuschwur, Die letzte Stunde, Volk und Führer, Das Lied vom Führer, Westfalen-Marschlied) seine neue Marschrichtung, dem Hitler-Regime zu huldigen, so dass er über die daraus resultierende wohlwollende Förderung seiner Karriere natürlich hoch erfreut war.

Wenn daher – wie im aktuellen Fall einer Diskussion zur Umbenennung einer Nellius-Straße – die Einlassungen einer Persönlichkeit mit dem Dritten Reich zu bewerten sind, ist bei Georg Nellius festzuhalten, dass man es mit einem überzeugten Propagandakomponisten zu tun hat, der die Vorliebe der Nationalsozialisten für Volkslieder und Märsche nach Kräften zu bedienen suchte und auch in seinen weiteren, mit programmatischen Texten versehenen Stücken keinen der einschlägigen, unmissverständlichen Topoi („Langemark“, „Sieg Heil“; Huldigung der Wehrmacht, Führerkult, Heldenverehrung, Soldatenromantik und Durchhalteparolen nach der Schlacht von Stalingrad) ausließ.

Dass Nellius nach mehreren Revisionen schließlich aus seinem Spruchkammerverfahren formal unbeschadet hervorging, sagt dabei wenig aus über seine tatsächlichen Verstrickungen in das NS-System, als viel mehr über die politischen Zeitumstände bei der Übergabe der öffentlichen Kontrolle von den Alliierten in deutsche Zuständigkeit. Von Zeithistorikern wie Bernd Weisbrod, Michael Grüttner und anderen sind die Bedingungen und Konsequenzen der Entnazifizierungsverfahren seit vielen Jahren beschrieben, und Lutz Niethammer wies schon im Jahr 1988 darauf hin, dass man unter Entnazifizierung schon bald „nicht mehr eine Säuberung des öffentlichen Lebens von den Nazis, sondern eine Säuberung der Nazis von ihrer Stigmatisierung“ zu verstehen hatte.

Viel aufschlussreicher sind daher die von Ihnen dokumentierten Reaktionen aus Nellius‘ direktem Umfeld einschließlich seiner ehemaligen Kollegen, die sich – trotz seiner politischen Rehabilitierung – nach Kräften gegen seine Wiederbeschäftigung als Pädagoge stemmten. Dass sie, die ihn und sein Wirken vor 1945 aus eigenem Erleben genau kannten, sich letztlich vergeblich gegen seine berufliche Wiedereingliederung stemmten, sagt daher vor allem etwas aus über die Zustände in den Kommunalverwaltungen der unmittelbaren Nachkriegszeit. Der vermeintliche Widerspruch zwischen diesen Alltagsreaktionen und den Aussagen zu seinen Gunsten im Entnazifizierungsverfahren – die nicht ohne Grund schon damals „Persilscheine“ genannt wurden – lässt sich daher leicht auflösen und m.E. den Versuchen alter Freundeskreise zuschreiben, in der von Hunger, Versorgungsnöten und Unsicherheit gezeichneten Nachkriegszeit einem Beamten Pensionsanrechte sowie eine sichere Anstellung zu erhalten (zu den Hintergründen und Mechanismen dieser Persilschein-Netzwerke siehe Custodis/Geiger 2013).

Zusammenfassend muss man sich darüber im Klaren sein, dass die Ehrung einer Person durch einen Straßennamen immer die gesamte Persönlichkeit einschließt. Im Wissen um die Verstrickungen von Georg Nellius in den Nationalsozialismus muss man sich folglich bewusst machen, dass dieser Straßenname einen gläubigen Nationalsozialisten und Antisemiten ehrt, was man im Fall einer Beibehaltung des Straßennamens anschließend öffentlich zu rechtfertigen hätte. Im Jahr des tragischen Jubiläums eines ersten, 1914 von Deutschland ausgegangenen Weltkriegs und vor dem Hintergrund der daraus entstandenen tödlichen Konsequenzen für Millionen NS-Opfer sollte man die Verantwortung, die für unsere Gegenwart daraus entsteht, daher wohl bedenken.

Für weitere Rückfragen stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung und stelle es Ihnen frei, dieses Schreiben zu veröffentlichen.

*** die Konvertierung des PDF-Formats des Original-Schreibens in das Textformat unseres Blogs war sehr kniffelig. Wir bitten darum, uns eventuelle Übertragungsfehler nachsichtig mitzuteilen.

Stellungnahmen und Rückmeldungen zum neuen Nellius-Gutachten vom 27. Januar 2014

nelliuswordlePeter Bürger, gemeinsam mit Werner Neuhaus Verfasser des Nellius-Gutachtens, hat folgende Rückmeldungen zu der wissenschaftlichen Studie „Georg Nellius (1891-1952), Völkisches und nationalsozialistisches Kulturschaffen, antisemitische Musikpolitik, Entnazifizierung“ vom 27. Januar 2014 erhalten (siehe auch hier im Blog).

Mit Erlaubnis des Autors veröffentlichen wir nachfolgend diese Rückmeldungen:

Stellungnahmen und Rückmeldungen zum neuen Nellius-Gutachten vom 27.1.2014

Das Christine Koch-Mundartarchiv (www.sauerlandmundart.de) hat das nun vorliegende neue Nellius-Gutachten vor seiner Drucklegung Wissenschaftlern und Aktiven aus der Heimatbewegung vorgelegt. Bislang sind bis zum 29.01.2014 folgende Stellungnahmen und Voten bei uns eingegangen:

Roswitha Kirsch-Stracke, Vorsitzende des Kreisheimatbundes Olpe:
„Straßenumbenennungen sind in lebendigen, selbstkritischen Kommunen normale Vorgänge. In zahlreichen Städten und Gemeinden Deutschlands finden sie statt, wenn Tatsachen offenkundig werden, die eine Ehrung der Namensgeber nach neuerlicher Prüfung nicht mehr rechtfertigen. Solche Umbenennungen zeigen Lernfähigkeit und angenommene Verantwortung für das Erinnern an die (deutsche) Geschichte.

Der Rat der Stadt Sundern hat im letzten Jahr einstimmig beschlossen, die Nelliusstraße umzubenennen. Dass die Bürgerinitiative „Nelliusstraße bleibt Nelliusstraße“ diesen Beschluss nun rückgängig machen will, ist nicht nachzuvollziehen, wenn man sich mit den jüngsten Erkenntnissen zur Person Georg Nellius befasst: Die aktuellen, umfassenden Forschungen von Peter Bürger und Werner Neuhaus, die in Zusammenarbeit mit Michael Gosmann vom Stadtarchiv Arnsberg durchgeführt wurden und jetzt für jedermann einsehbar vorliegen, ergeben ein erschreckendes Bild des Sauerländers Georg Nellius. Insbesondere seine als Kulturfunktionär der NS-Zeit verfolgte rassistische Judenfeindschaft wird anhand von bislang unbekannten Originalquellen belegt. Ich bin sicher, dass durch die neue Veröffentlichung auch die Bürgerinitiative „Nelliusstraße bleibt Nelliusstraße“ zu dem Schluss kommen wird, dass ein Straßenschild mit dem Namen eines Antisemiten und frühen Anhängers von Hitler absolut nichts mit Heimatliebe zu tun hat und untragbar ist.“

Prof. Dr. Robert Jütte, Stuttgart:
„Wie ich erfahren habe, soll in Sundern die Umbenennung der Nellius-Straße durch eine Bürgerinitiative verhindert werden. Als ehemaliger Vorsitzender und jetziges Beiratsmitglied der Gesellschaft zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland, aber auch als geborener Sauerländer kann ich nicht verstehen, dass es dort noch eine Straße gibt, die nach einem als Antisemit eindeutig hervorgetretenen Musikpolitiker benannt ist. Ich appelliere an den Gemeinderat, für die Umbenennung der Nellius-Straße zu stimmen.“

Prof. Hubertus Halbfas (Mitglied im Sauerländer Heimatbund):
„Im Rahmen der aktuellen Straßennamendebatte haben Peter Bürger und Werner Neuhaus in Zusammenarbeit mit Michael Gosmann vom Stadtarchiv Arnsberg das nationalsozialistische Kulturschaffen von Georg Nellius minutiös untersucht. Die vorgelegte Forschungsarbeit bestätigt ein erschreckendes Bild antisemitischer Kulturpolitik. Dies ist der geistige Hintergrund, aus dem heraus die massenmörderische Judenverfolgung und Judenvernichtung des NS-Staates möglich wurde. Die Bürgerinitiative „Nelliusstraße bleibt Nelliusstraße“ sollte gerade angesichts der neuen Forschungserkenntnisse den Hinweis von Heinrich Lübke bedenken, „dass Menschlichkeit aus der Verantwortung für die Vergangenheit erwächst. Deshalb erweist uns keiner von denen einen Dienst, die unserem Volk zureden, es müsse nun endlich einmal Schluss gemacht werden mit dieser Schattenbeschwörung aus den Tagen einer furchtbaren Vergangenheit. Nicht wir beschwören die Schatten, die Schatten beschwören uns, und es liegt nicht in unserer Macht, uns ihrem Bann zu entziehen“.“

Prof. Dr. Dr. Reinhard Hesse, Warstein:
„Ich kann mir nicht gut vorstellen, dass die nunmehr zu Nellius vorliegenden Dokumente die Initiatoren der Bürgerinitiative nicht dazu veranlassen werden, von ihrem Anliegen Abstand zu nehmen und der Stadt Sundern somit die Ausrichtung eines teuren Bürgerbegehrens zu ersparen.“

Frau Prof. Dr. Anat Feinberg (Honorarprofessorin an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg):
„Mit Betroffenheit habe ich erfahren, dass in Sundern die Umbenennung der Nellius-Straße durch eine Bürgerinitiative verhindert werden soll. Als jemand, der ein Buch über die Rückkehr jüdischer Musiker in das Nachkriegsdeutschland geschrieben hat und zur Zeit an einem Buch über die Remigration jüdischer Kunstschaffender nach 1945 schreibt, bin ich entsetzt, dass es im Sauerland, das ich aus zahlreichen Besuchen kenne, noch eine Straße gibt, die nach einem bekennenden antisemitischen Musikpolitiker benannt ist. Als jemand, der als kulturelle Vermittlerin zwischen Israel und Deutschland für sein langjähriges Engagement zugunsten der israelischen Kultur und der deutsch-israelischen Beziehungen vom Bundespräsidenten das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen, appelliere ich an die zuständigen politischen Gremien, diesen Schandfleck rasch zu beseitigen und umgehend den Weg für eine Umbenennung der Nellius-Straße frei zu machen.“

Der Historiker Dr. Ulrich F. Opfermann (Aktives Museum Südwestfalen Siegen, Rom e.V. Köln) schreibt dem Autorenteam:
„Ihnen […] ist mit Ihrem akribischen Nellius-Gutachten ein wertvoller Beitrag zur aktuellen Benennungsdiskussion gelungen, mit Bedeutung über den in Rede stehenden Ort hinaus. Man kann nur hoffen, dass ein sachliches Wort wie dieses noch durchdringt. Ich sage Ihnen das als ein, wie Sie wissen, langjähriger landschaftlicher Nachbar aus dem Siegerland, der manchen Beitrag schrieb. Auch nach meinem Umzug bewegt mich weiterhin die Regionalgeschichte. Das schließt den Blick übers Kölsche Heck selbstverständlich mit ein. Also, noch einmal: ein herzliches Dankeschön für die gute, beispielgebende Arbeit.“

Prof. Dr. Volker Honemann (Münster und Berlin) teilt den Autoren mit:
„Ihnen […] sei sehr herzlich für Ihre mühevolle Forschungsarbeit in Sachen Georg Nellius gedankt. Daß deren Ergebnisse Nellius nun in noch schlimmerem Lichte erscheinen lassen, als man vorher wußte, zeigt, wie nötig es ist, unsere Dritte Reichs-Vergangenheit auch >vor Ort< weiterhin so nüchtern und gründlich aufzuarbeiten, wie Sie es getan haben, und wie ich es vor kurzem für die Germanistik der Westfälischen Wilhelms Universität Münster versucht habe. Tun wir dies nicht, dann wird uns diese Vergangenheit immer von neuem heimsuchen. Es ist sehr zu hoffen, daß die Sunderner Bürgerinitiative sich durch Ihre umfassende, strikt wissenschaftliche Dokumentation überzeugen läßt, daß Georg Nellius keine Ehrung durch einen Straßennamen gebührt.“

Prof. Dr. Josef Wiesehöfer (Universität Kiel) lässt uns in knapper Form wissen:
„Herzlichen Dank für diese überaus wichtige und überfällige Darstellung.“