Gastbeitrag: Wie die Wirtschaftsflüchtlinge den Syrienkrieg befeuern

Er hörte schon vor einigen Wochen eine Geschichte über Flüchtlinge, Islam und den Balkan, die sich sehr interessant anhörte und ein Grundmuster des deutschen Flüchtlingsdiskurses in Frage zu stellen geeignet ist. Denn in Deutschland wird seit einiger Zeit breit für die Akzeptanz von Kriegsflüchtlingen – insbesondere aus Syrien – als legitimen Schutzsuchenden getrommelt.

(Ein Gastbeitrag, heute zuerst bei Erbloggtes erschienen.)

Guter Flüchtling, böser Flüchtling

Man kann die Bereitschaft zu ihrer Aufnahme – trotz fehlender Asylberechtigung – als common sense ansehen. Infratest dimap ermittelte zuletzt 96% Zustimmung für diese Flüchtlingskategorie:

Kriegsflüchtlinge top, Armutsflüchtlinge flop

Die Kehrseite der Medaille ist, dass zugleich eine andere zahlenmäßig gewichtige Flüchtlingskategorie in der Öffentlichkeit delegitimiert wird: Sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge werden von der Bundesregierung über die Leitmedien bis in die Fußgängerzonenumfrage um so düsterer gezeichnet, je stärker Kriegsflüchtlinge strahlen sollen. Gespielt wird das Stück: Guter Flüchtling, böser Flüchtling.

Die Darstellung von faulen Schmarotzern und Sozialstaatsbetrügern, die nichts anderes wollen als sich aus Steuergeldern zu bereichern, besagt, dass sogenannte Westbalkan-Staaten ihre Arbeitslosen auf Deutschland, speziell Bayern, abwälzen und ihnen damit den hochverdienten anstrengungslosen Wohlstand streitig machen, den die Mitgliedschaft in der regionalen Einheitspartei gewährt. Jedenfalls, so die CSU, müssten Westbalkanbewohner umgehend und ohne Einzelfallprüfung abgeschoben werden, sobald sie die Grenze zum Königreich der Himmel zur Vorstufe zum Paradies – “illegal” – überschritten haben. Unbeachtlich, dass etwa die Bürger von Bosnien und Herzegowina oder Albanien drei Monate jedes Halbjahres visumfrei in der Europäischen Union Urlaub machen können[1]: Sie müssen weg.

Bevölkerungsstrukturen des Westbalkan

Ethnische Zuordnung des Westbalkans laut CIA, 2008

Die Zuordnung von Staatsbürgerschaft, Volkszugehörigkeit, Abstammung, Religion und Wohnsitz ist auf dem Westbalkan nicht unproblematisch. Weil das den jeweiligen Führern mißfiel, waren “ethnische Säuberungen” im 20. Jahrhundert ein beliebtes Mittel der Unmenschlichkeit. Für das Verständnis der folgenden Geschichte ist primär wichtig, dass auf dem Westbalkan ein recht großer Bevölkerungsanteil muslimischen Glaubens ist, und zwar insbesondere in Albanien, in Kosovo und in Bosnien und Herzegowina, etwas weniger in Mazedonien und Montenegro.

Albaner in Europa, CC-BY 3.0 Albopedian at it.wikipedia

Zudem handelt es sich dabei um Länder mit starker Auswanderungs-Geschichte: Die Mehrheit aller Albaner beispielsweise lebt außerhalb von Albanien und Kosovo, bei den Bosniern ist es ähnlich. Unter bosnischen Muslimen, seit 1993 wieder Bosniaken genannt, wurden zur Zeit des Bosnienkrieges, in dem der Staat Bosnien und Herzegowina in seiner Existenz und die bosnischen Muslime an Leib und Leben bedroht waren, Bande in islamische Länder, und wohl auch zu dschihadistischen Organisationen geknüpft. Es gibt sogar einen Wikipedia-Artikel über “Mudschahedin im Bosnienkrieg”.

Gebiete mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit laut Wikipedia, CC-BY-SA User:Scooter20
Gebiete mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit in Europa laut Wikipedia, CC-BY-SA User: Scooter20

Man kann es wohl nicht als Zufall abtun, dass die Länder Europas, in denen es Gebiete mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit gibt, die schlechtesten Chancen haben, in die EU aufgenommen zu werden. Durch diese Region kommen nun Syrienflüchtlinge, und die ehemaligen Ländereien des Habsburgerreiches bemühen sich, ihrem einstigen imperialen Anspruch als “christliches Bollwerk” gegen die “Türkengefahr” weiter gerecht zu werden. Bei vor Bürgerkrieg Fliehenden mag man dabei noch Mitleid haben. Aber Flüchtlinge vom Westbalkan selbst sind den christlichen Landen ein Graus – die eingangs zitierte Umfrage zeigt es ja.

Bosnienmission – 20 Jahre nach dem Bosnienkrieg

Wenn man sich dieser Tage mit Bosniaken unterhält, kann man folgende Geschichte erzählt bekommen:

In Bosnien werde eigentlich eine europäisierte Version des Islam gepflegt. Man trinke Alkohol, trage hingegen kaum Kopftücher. Aber etwa seit dem Bosnienkrieg bemühten sich strenggläubige muslimische Gruppen, insbesondere Wahhabiten, um Einfluss auf die Muslime Bosniens. Sie betrachteten diese teilweise als Ungläubige, die (re)missioniert werden müssten. Bosnien sei arm, der saudi-arabische Wahhabitismus aber reich. Also richteten Wahhabiten mit viel Geld aus Saudi-Arabien – und von Wahhabiten aus Westeuropa – Missions-Zentren in Bosnien ein. Dort machten sie Bosniaken Angebote, denen gemeinsam sei, dass diese im Gegenzug wahhabitische Lehren anerkennen sollten.

Aufgrund der wirtschaftlichen Lage erschien es für manche Bosniaken als die beste Möglichkeit, ihre Familie zu ernähren, sich solchen Wahhabiten anzunähern. Eigentlich seien ja viele bosnische Muslime in Folge des Bosnienkriegs kriegsmüde. Aber zu den Predigten der Wahhabiten gehörte auch die Pflicht zum Dschihad. Als Wahhabiten vor einigen Jahren Angebote zu ökonomischer Unterstützung prekär lebender muslimischer Familien machten, wenn man sich im Gegenzug zur Pflicht zum Heiligen Krieg bekenne, hätten manche Bosniaken dies als eher theoretische Verpflichtung eingeschätzt. Die Taliban seien keine Wahhabiten, und im Irak gegen die USA (und für Saddam Hussein) zu kämpfen, habe damals auch nicht als heilige Pflicht gegolten.

Als aber der “Islamische Staat” (IS) in Syrien und im Irak Fortschritte machte, forderten die Wahhabiten von ihren Gemeindemitgliedern die Erfüllung ihrer Pflicht zum Dschihad ein: Der Druck, nach Syrien zu gehen und dort zu kämpfen, sei immer weiter erhöht worden. Dabei schreckten die Wahhabiten auch vor Gewalt nicht zurück, weil Muslime, die nicht ihren angeblichen Pflichten nachkämen, ebenfalls als zu bekämpfende Ungläubige anzusehen seien.

Was an dieser Geschichte wie genau stimmt, lässt sich von hier aus schwer sagen. Aber schon einige Jahre alte österreichische Zeitungsreportagen widersprechen solchen Darstellungen zumindest nicht: Wenn im Februar 2010 rund 600 bosnische Polizisten mit schwerem Gerät ein ganzes Dorf einnehmen mussten und davon sprachen, “damit ein Terrorcamp zerstört” zu haben, das sich von der Außenwelt abgekapselt habe, dann erinnert das frappierend an christliche oder sonstige Erlösungssekten, die besonders in den USA immer wieder durch Abschottung und Gewalt gegen den Staat Schlagzeilen machen.

Bosniaken im Dilemma

Wie stellt sich nun die Entscheidungssituation für Bosniaken in wahhabitischen Kreisen dar? Im eigenen Umfeld können sie mit ihren Familien nicht bleiben, da sind die Wahhabiten, die die Männer in den Krieg schicken wollen, und die wissen, wo sie wohnen. Umzug in Bosnien ist auch nicht so eine tolle Option: Die wirtschaftliche Lage ist nicht berauschend, und groß genug, um sich da verstecken zu können, ist das Land auch nicht. Und 600 Polizisten – soviele braucht man wohl, um sich gegen bewaffnete Wahhabitengruppen zur Wehr zu setzen – gibt es auch nicht überall. Also Auswandern – aber wohin? Die EU empfängt Bosniaken nicht gerade mit offenen Armen. In muslimische Länder? In der Türkei herrscht doch auch ein Kulturkampf um den wahren Islam, nicht ganz ohne Sympathien für die frommen Syrienkämpfer gegen Assad – und gegen die Kurden.

Spitzt der Druck in der Heimat sich weiter zu, bleiben letztlich nur noch zwei Optionen übrig: Entweder man flieht mit seiner Familie in die EU – oder man gibt dem wahhabitischen Drängen nach und zieht nach Syrien in den Dschihad. Die Familie daheim wird dann wahrscheinlich von den Wahhabiten unterstützt, auch nach dem Märtyrertod im heiligen Krieg.

Welche dieser beiden Optionen die EU-Flüchtlingspolitik bevorzugt, ist offensichtlich: “Wirtschaftsflüchtlinge” müssen weg, das sind die bösen “Schmarotzer”, Bosnien ist “sicher”. Deutschland setzte das Land im November 2014 auf die Liste “Sicherer Herkunftsstaaten”, um Asylanträge von dort noch schneller als “offensichtlich unbegründet” ablehnen zu können. Vier Wochen nach Antragstellung sei man wieder zurück in Bosnien.[2] Im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) will man sicherstellen, dass die Botschaft “Asylantrag in Deutschland aussichtslos” auch auf dem Westbalkan ankommt, organisiert daher sogar Werbekampagnen vor Ort:

“Denn es gehe bei der Liste der sicheren Herkunftsstaaten gar nicht so sehr um die Verfahrensvereinfachung in Deutschland, sondern um die Signalwirkung in Richtung der Herkunftsländer, heißt es dort. Gerade die Symbolpolitik ist also gewollt. Ziel ist es, in den Ländern möglichst griffig die Botschaft zu verbreiten, dass sich ein Asylantrag in Deutschland nicht lohne.”[3]

Aktuell will die EU-Kommission die Liste “sicherer Herkunftsstaaten” EU-weit vereinheitlichen und dabei gleich den ganzen Balkan für sicher erklären.[4] In der EU lautet das Motto: Abschiebung nach Bosnien, keine weiteren Fragen. In Deutschland gilt das dann künftig auch für Albanien, Montenegro und Kosovo.[4]

Gottes Krieg und Deutschlands Beitrag

Es sind also nicht nur die Waffenlieferungen, mit denen Europa (allen voran Deutschland) die Kriege und Bürgerkriege der Welt befeuert. Auch für den Zustrom an Kämpfern leistet die europäische Politik ihren Beitrag – und produziert auf diesem Weg weitere Kriegsflüchtlinge. Und was mit einem Bosniaken passieren würde, der aus den Reihen des IS desertiert und es bis vor die Tore der Europäischen Union schafft, mag man sich gar nicht ausmalen.

Wie sich die aktuelle Stauung von Flüchtlingen auf dem Balkan, wo die Grenzen abgedichtet werden sollen, auswirken wird, ist kaum abzusehen, ebensowenig was etwa in Bosnien passiert, wenn der Hauptstrom der Flüchtlinge von EU-Ländern wie Ungarn und Kroatien dorthin abgelenkt sein wird. Wie werden wahhabitische Missions- und Rekrutierungsorganisationen dann agieren? Und wie würde sich eine saudische Finanzierung von Flüchtlingslagern um Syrien herum auswirken, die deutsche Politiker nun großtönend fordern? Was wären die Nebenfolgen, welche missionarischen Ziele würden von welchem Erfolg gekrönt?

tl;dr: Indem Europa verzweifelte “Wirtschaftsflüchtlinge” vom Westbalkan abweist, versorgt es den IS in Syrien mit neuen Rekruten, die dann weitere Kriegsflüchtlinge produzieren.

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„Ist der IS überhaupt noch zu stoppen?“ – Ein mieses Spiel …

Konflikte an der "Grenze" zwischen dem sunnitischen Arabien und der östlich davon gelegenen schiitischen Welt auf Tausende Kilometer eskaliert
Die Konflikte an der „Grenze“ zwischen dem sunnitischen Arabien und der östlich davon gelegenen schiitischen Welt sind auf Tausende Kilometer eskaliert.

Wer geglaubt haben sollte, die dschihadistisch-salafistische Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) habe ihre größte Zeit schon hinter sich, ist in der letzten Woche eines Besseren belehrt worden.

(von Dr. Werner Jurga, Duisburg)

Am letzten Freitag, den 15. Mai 2015, hat der IS die irakische Großstadt Ramadi eingenommen. Ramadi hat mehrere Hunderttausend Einwohner und liegt am Euphrat auf der Straße, die Bagdad mit Syrien verbindet. Mit der Eroberung Ramadis durch den sog. „Islamischen Staat“ hat die Bedrohung Bagdads durch den IS dramatisch zugenommen. Da am letzten Wochenende auch der letzte Grenzübergang dem IS in die Hände gefallen ist, existiert faktisch keine Grenze zwischen dem Irak und Syrien – für den IS ein großer strategischer Vorteil.

Im Irak kontrolliert der IS mindestens ein Drittel, in Syrien mittlerweile mehr als die Hälfte des Staatsgebiets. Am Mittwoch hat der IS Palmyra erobert. Die Oasenstadt liegt im Zentrum Syriens – etwa 200 Kilometer entfernt vom Großraum Damaskus. Strategisch ebenso wichtig wie das irakische Ramadi kommt Palmyra darüber hinaus als Unesco-Weltkulturerbe und eine der wichtigsten antiken Stätten im Nahen Osten eine große symbolische Bedeutung zu. Deshalb wurde in den hiesigen Medien relativ ausführlich über die Einnahme Palmyras durch den IS berichtet. Die IS-Propaganda liefert das nötige Bildmaterial: Kämpfer in Montur und Pose des IS, wie sie vor den Säulen der Kulturstätte posieren. Wir ahnen, dass es den Ruinen an den Kragen geht.

Der Bevölkerung, die schutzlos zurückgelassen werden musste, geht es keinen Deut besser als den Kulturschätzen. Bilder zeigten Straßen, die von Blut rot gefärbt sind. Augenzeugenberichten zufolge soll der IS unverzüglich Dutzende Menschen öffentlich hingerichtet haben. In den hiesigen Medien wird relativ – jedenfalls im Vergleich zu anderen Kriegsgebieten in der Region oder auf dieser Welt insgesamt – umfangreich über den Vormarsch des IS sowohl in nordwestliche wie in südöstliche Richtung berichtet. Die USA gelten nicht nur als die eigentlichen Verursacher, sondern inzwischen auch als notorische Versager in diesen Konflikten im Irak und in Syrien, die vermutlich irgendwie zusammenhängen – wegen des IS oder der Geographie oder so.

Der IS scheint gleichsam „unaufhaltsam“ zu expandieren – womöglich nicht nur in diesem, wenn auch nicht mehr nationalstaatlich, so doch wenigstens einigermaßen lokal abgrenzbaren Machtvakuum. Schließlich wenden sich in diversen Gegenden Afrikas und Asiens dschihadistische Warlords von der einst als „Terrornetzwerk“ gefürchteten Al Qaida ab, um dem Kalifen Ibrahim ihre ewige Treue zu schwören. U.a. auch in Libyen, wo die Krieger von Abu Bakr al-Baghdadi – so hieß der Kalif, bevor er sich zu einem solchen ernannt hatte – die Küste inklusive der Schlepperindustrie kontrollieren sollen. Wir müssen davon ausgehen, dass von dort auch heilige Krieger ins gottlose Europa geschmuggelt werden.

Somit stehen wir – möglicherweise gottlosen, aber ganz bestimmt doch völlig unbeteiligten – Europäer vor zwei bangen Fragen. Erstens: ist dieser „Islamische Staat“ überhaupt noch zu stoppen? Und zweitens: kann der IS auch auf Europa überschwappen? Fangen wir mit Frage Zwei an, denn sie ist deutlich unkomplizierter. Ihre Antwort lautet: es ist nicht mehr die Frage, ob der IS in Europa Fuß fassen kann. Ihm ist es längst gelungen. Man denke an die diversen Terroranschläge und Anschlagsversuche, die auf das Konto des IS gehen. Noch wichtiger – ja okay: nicht unbedingt für uns, aber objektiv, gemessen etwa in der Zahl der Toten und Getöteten, schon. Europa ist ein wichtiges, vielleicht das wichtigste Rekrutierungsgebiet für Dschihadisten aller Art.

Hunderte Deutsche, Tausende Europäer kämpfen heute im „Islamischen Staat“, also in einem Gebiet, das wir noch den zerfallenden Staaten Syrien und Irak zurechnen, für die Sache des Kalifen. Insofern ist der IS ist in gewissem Sinne schon „auf Europa übergeschwappt“; bekanntlich gilt die Angst der Innenminister – und nicht nur ihre – einem etwaigen „Zurückschwappen“, also den Rückkehrern mit Kriegserfahrung, von denen einige als desillusioniert, andere aber als völlig verroht und zu allen entschlossen betrachtet werden. Dummerweise weiß man nie so ganz genau, wer zu welcher Gruppe zu zählen ist. Es ist völlig klar: Europa ist vom IS-Terror in vielfältiger Weise betroffen. Wir leben nicht auf einem Handtuch.

Deutlich komplizierter liegen – wie gesagt – die Dinge in Bezug auf Frage Nummer Eins. Deshalb die Antwort vorweg: der „Islamische Staat“ ist nicht unaufhaltsam, er ist zu stoppen, und nicht einmal der gegenwärtige (verbreitete?) Eindruck, der IS befinde sich umstandslos in der Offensive und habe die Initiative, bildet das Geschehen im Nahen und Mittleren Osten adäquat ab. Vielmehr ergibt sich dieses Bild, wenn die Bühne nur halb beleuchtet wird. Es wird nämlich nicht in Rechnung gestellt, dass der Krieg zwischen dem IS und seinen Feinden in den Großkonflikt zwischen dem sunnitischen Arabien und der östlich davon gelegenen schiitischen Halbmond eingebettet ist .

Die Gesamtbetrachtung ergibt, dass der Konflikte an der „Grenze“ zwischen dem sunnitischen Arabien und der östlich davon gelegenen schiitischen Welt auf Tausende Kilometer eskaliert – die schiitische Sichel vom Mittelmeer zum Golf. Westlich angrenzend die sunnitische Gegensichel. Die große Mehrheit der Muslime ist der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam zuzurechnen. Im Iran, Irak und in Bahrain stellen die schiitischen Muslime sogar die Mehrheit der Bevölkerung. Diese Zone mit einem hohen Anteil schiitischer Muslime hat in etwa die Form einer Mondsichel und erstreckt sich vom persischen Golf über den Iran bis in den Libanon, wo die Schiiten in etwa ein Drittel der Bevölkerung stellen.

Gewiss zeigt die gegenwärtige Expansion des IS den zentralen, definierenden Hauptkonflikt des Nahen und Mittleren Ostens, in den auch alle anderen Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten sowohl „Richtung“ Mittelmeer als auch „Richtung“ Golf einmünden. Vom Libanon bis zum Jemen also auch im „Zentrum“ – immer haben auch die Vormächte Saudi-Arabien (Sunniten) und Iran (Schiiten) ihre Finger mit im Spiel. Und selbstverständlich auch die Amerikaner und die Russen. Die „kleine Besonderheit“ in Sachen „Anti-IS-Koalition“: sie wird geführt von den USA und den Saudis, den Hauptgegnern der schiitischen Kräfte. Sie sollen hier die aggressivste sunnitische Miliz bombardieren.

Wenig überraschend, dass sie dies sowohl im Vorfeld der Eroberung von Ramadi als auch der von Palmyra „vergessen“ haben. Dabei wäre es für die Luftwaffe ein Leichtes gewesen, dem IS einen Strich durch die Rechnung(en) zu machen. Völlig ungestört konnten die IS-Kolonnen aus Jeeps und Pickups in beiden Fällen über die Hauptverkehrsstraßen auf die ins Auge gefassten Städte zufahren. Es stimmt: dort, wo die „Anti-IS-Koalition“ in den letzten Monaten bombardiert hatte, musste der IS seine Taktik ändern und seine Kämpfer in kleineren Einheiten zu den Schlachtfeldern bringen. Davon konnte in den Fällen Ramadi und Palmyra jedoch keine Rede sein. Hier handelte es sich gleichsam um Eroberungen mit Ansage.

Insgesamt (!) sind aber die schiitischen Kräfte nach wie vor in der Offensive. So schrecklich und grässlich die Geländegewinne des IS auch sind, „unaufhaltsam“ sind sie nicht. So schickt jetzt, also eine Woche nach der Einnahme durch den IS, beispielsweise der Iran, da sich die USA so desinteressiert zeigten, schiitische Milizen nach Ramadi. Die Rede ist von Tausenden Kämpfern, die den Auftrag haben, Ramadi „zurück zu erobern“. Der Weg zur Front geht durch von Sunniten bewohnte Gebiete; die Schiitenmilizen sollen dort ähnlich barbarisch mit der Bevölkerung umgehen wie der sunnitische IS. Wir werden sehen, wie die Schlacht um Ramadi ablaufen wird. Sicher ist: es wird ein abscheuliches Blutbad.

Im einzelnen ist das alles schwer einzuschätzen. Insgesamt lässt sich aber feststellen, dass im Gerangel der Anti-IS-Kräfte (also USA vs. Iran plus der Westen vs. Russland) beide Seiten – zynisch gesprochen – nervenstark sind und eine Einigung nicht übers Knie brechen. Das bedeutet: der IS, also die von den Golf-Geldsäcken ausgestatteten Dschihadisten-Mörderbanden unter Führung der Reste des Saddam-Regimes, können weiter ihr Unwesen treiben. Dennoch: die Sunniten sind in der Defensive, in jeder Hinsicht „kaputt“, während die schiitische Seite mit dem Iran an der Spitze alle Trümpfe in der Hand hält. Deshalb meinen die diversen Anti-IS-Kräfte sich – zynisch gesprochen – „Spielereien“ leisten zu können.

Es sind – ernsthaft gesprochen – sehr harte Machtkämpfe. Sie finden auf verschiedenen Ebenen der in diesen Krieg greifenden Konfliktlinien statt. Dem IS Erfolge zu „gönnen“, ist dabei eine „Karte“ in diesem komplizierten „Spiel“. Die Alternative wäre, den Iran ungestört expandieren zu lassen. Das werden die Amerikaner nicht wollen und die mit ihnen – und den Europäern – verbündeten Saudis niemals zulassen. Gleichzeitig wird der Öffentlichkeit in den USA und hier das Bedrohungsbild vom barbarischen IS vor Augen gehalten. Und tatsächlich: nichts spricht dafür, dass der IS auch nur eine Idee weniger grausam sein könnte, als von ihm selbst und den westlichen Medien dargestellt. Es ist ein verdammt mieses Spiel. Vor allem für diejenigen Menschen, die der IS kriegt oder die vor ihm wegrennen müssen.

Werner Jurga, Duisburg, 25. Mai 2015