Gelesen: Fotos im Nationalsozialismus

Neue Forschungen zu einer besonderen Quelle

Ein wichtiges Thema wurde beim Dachauer Symposium 2021 behandelt (foto: zoom)

Vor über sieben Jahren fand im Hallenberger Kump die Ausstellung „Mythos Leni Riefenstahl – Fotografie. Film. Dokumentation“ [1] statt. Vor dem ersten Besuch hatte ich damals ein mulmiges Gefühl, Angst von der Riefenstahl’schen Ästhetik überwältigt zu werden.

Die ausgestellten Bilder und einordnenden Texte betrachtete und las ich sehr genau und konnte den antihumanen, gefühllosen, anti-aufklärerischen, todesgeilen und faschistischen Blick Riefenstahls auf die Welt erkennen [3]. Sie zeigen den Nationalsozialismus aus der Täterperspektive.

Im letzten Jahr (2022) ist im Wallstein Verlag der Protokollband des Dachauer Symposiums zur Zeitgeschichte von Oktober 2021 erschienen [4]. Das Thema der Tagung lautete „Fotos im Nationalsozialismus. Neue Forschungen zu einer besonderen Quelle“ [5].

Die knapp 200 Seiten haben mich in den letzten Tage sehr gefesselt, weil sie meinen Blick von der propagandistischen Bilderschau der Nationalsozialisten a là Riefenstahl zum Gesamtbestand sämtlicher Abbildungen gelenkt haben. Der Tagungsband versucht, das Volumen der Fotos zu kategorisieren und stellt die Frage, wie mit der (digitalen) Bilderflut umgegangen werden könne (S. 16 – 19).

Auf der Website des Dachauer Symposiums heißt es:

„Das 20. Jahrhundert ist das „Jahrhundert der Bilder“ (Gerhard Paul) – die Bedeutung von visuellen Medien ist nicht zu übersehen. Insbesondere die Nationalsozialisten haben die politische Relevanz von Bildern für die Propaganda erkannt und sorgfältig auf die visuelle Inszenierung ihrer Macht geachtet. Die Posen und Gesten, die Hitler mit seinem Fotografen Heinrich Hoffmann in den 1920er Jahren einstudierte, oder die Filme von Leni Riefenstahl sind ein beredtes Beispiel dafür.

Zehntausende Knipser haben ihren Alltag, die „Volksgemeinschaft“ und den Krieg fotografiert. Doch gab es im Nationalsozialismus auch Gegen-Bilder von jüdischen Fotografinnen und Fotografen, die ihre Lebenswirklichkeit, Verfolgung wie Selbstbehauptung, dokumentierten. Selbst in den Konzentrationslagern gelang es Häftlingen unter Lebensgefahr, Fotos von den Gewaltverhältnissen aufzunehmen.

Seit vielen Jahren stellen Museen und Gedenkstätten Fotos aus der NS-Zeit aus; in Nottingham, Berlin, London und anderen Orten sind Forschungsprojekte zu Fotografie im Nationalsozialismus verwirklicht worden – Grund genug, um Zwischenbilanz zu ziehen. Welche neuen Fragen werden heute an Fotografien gestellt? Welche Erkenntnisse können aus dem Umgang mit Fotografien sowohl in der Vermittlung wie auch in der Forschung gewonnen werden?

Und nicht zuletzt stellt sich drängend die Frage, wie mit Fotografien aus der NS-Zeit im Internet umgegangen werden soll. Was lässt sich gegen Bildfälschungen und verzerrende Interpretationen tun? Brauchen wir eine Enzyklopädie der Bilder?“

http://www.dachauer-symposium.de/symposium2021.html

Die Antwort auf die letzte Frage vorweggenommen: Eine überblickende, abschließende Anordnung (Enzyklopädie) der Fotobestände sei wegen der immer noch wachsenden Zahl der Bilder u. a. aus Privatsammlungen und Alben nicht möglich, sondern müsse in einer Art digitaler kritischer Edition erfolgen, ähnlich einer Wikipedia.

Da Bilder gerade in der digitalen Welt oft lediglich als Illustration, verändert oder verfälscht verbreitet würden, sei eine sehr genaue Kontextualisierung wichtig. Dazu gehörten Antworten auf die Fragen: Wer hat das Foto, wo und wann und unter welchen Umständen erstellt? Zeigt es die Täter-, Opfer- oder Siegerperspektive? Zeigt es eine private Szene oder ist das Bild eine Auftragsarbeit? Ist es möglich die Abbildung bis zum Negativ zurückzuverfolgen? Wer hat das Foto aus welchen Motiven archiviert und wie ist es an die Öffentlichkeit gelangt? Wie wurden Fotoalben zusammengestellt und möglicherweise im Laufe der Zeit verändert? Wieviel Politik und Zeitgeschichte steckt in einem privaten Foto? Was ist überhaupt auf dem Bild zu sehen?

Anhand von einzelnen Fotos bzw. Fotostrecken aus Alben führen die Referent*innen beispielhaft in ihr jeweiliges Thema ein.

Diese Bildbesprechungen waren und sind für mich ein sehr interessanter Aspekt der verschiedenen Aufsätze. In jedem Foto steckt ein spannender Essay. Bei manchen Seiten habe ich gedacht: Ja, so sollte ein sehr guter Aufsatz, eine Foto-/Bildinterpretation in der Oberstufe geschrieben werden.

Und tatsächlich sind (S. 183) nicht nur Historiker*innen und Medienleute die Zielgruppe einer kritischen Edition, sondern des weiteren auch Lehrer*innen und Schüler*innen.

Beispielgebend wird von Christine Bartlitz (S. 151) die Online-Lernplattform segu mit dem Modul „Auschwitz-Birkenau 1944 | Fotos aus zwei Perspektiven“ (10.2.2022) angeführt. Anhand eines Opfer- und eines Täterbildes vor der Rampe in Auschwitz sollen die Schüler*innen Bildquellen untersuchen und dabei besonders die Perspektive der Fotografierenden in den Blick nehmen.

In der dokumentierten Podiumsdiskussion (S. 161 – 185) hebt Cornelia Brink das RomArchiv als sehr überzeugende virtuelle Ausstellung hervor (S. 167), da Kontexte, Verknüpfungen, Erläuterungen zum Medium Fotografie angeboten werden.

Genau so interessant wie die Inhalte der einzelnen Vorträge, sind die jeweiligen Belege und Anmerkungen, die zum Stöbern im Internet einladen. Viele Ressourcen haben eine Webadresse (URL).

Für wen ist der Tagungsband des Dachauer Symposiums geeignet? Meiner Einschätzung nach reicht das Interesse am Medium Foto und/oder an der Geschichte des Nationalsozialismus vollkommen aus, um die eingängig geschriebenen knapp 200 Seiten gewinnbringend zu lesen. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Interesse professionell, privat oder irgendwo dazwischen liegt.

Gliederung der inhaltlichen Schwerpunkte:

  • Von Fotoalben und Bilderrahmen. Private Blicke im NS-Deutschland
  • Gegen-Blicke. Jüdische Fotografinnen und Fotografen
  • Fotografie und Gewalt. Neue Perspektiven
  • Fotografien des Nationalsozialismus im Internet. Chancen und Probleme
  • Podiumsdiskussion

————-

[1] Mythos Leni Riefenstahl – Fotografie. Film. Dokumentation. Ausstellung im Infozentrum Kump vom 31. März bis 29. April 2016
https://www.schiebener.net/wordpress/mythos-leni-riefenstahl-fotografie-film-dokumentation-ausstellung-im-infozentrum-kump-vom-31-maerz-bis-29-april-2016/

[2] Mit Riefenstahl bin ich noch nicht durch … Ausstellung im Kump Hallenberg
https://www.schiebener.net/wordpress/mit-riefenstahl-bin-ich-noch-nicht-durch-austellung-im-kump-hallenberg/

[3] Um zwei Wochen verlängert: „Riefenstahls Blick auf die Welt ist antihuman, gefühllos, anti-aufklärerisch, todesgeil und faschistisch“ (Georg Seeßlen)
https://www.schiebener.net/wordpress/um-zwei-wochen-verlaengert-riefenstahls-blick-auf-die-welt-ist-antihuman-gefuehllos-anti-aufklaererisch-todesgeil-und-faschistisch-georg-seesslen/

[4] Fotos im Nationalsozialismus, Neue Forschungen zu einer besonderen Quelle, Herausgegeben von Michael Wildt und Sybille Steinbacher, Reihe: Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte, Bd. 20, Göttingen 2022, ISBN 978-3-8353-5318-3

[5] Dachauer Symposium zur Zeitgeschichte 2021, Fotografie im Nationalsozialismus – eine Zwischenbilanz
http://www.dachauer-symposium.de/symposium2021.html