Bildung und Schule: Sind die Sozialkundelehrer der kapitalistischen Wirtschaftsordnung gewachsen?

Dr. Werner Jurga (foto: jurga)
Dr. Werner Jurga (foto: jurga)

„Die kapitalistische Wirtschaftsordnung“, heißt es in einem Schulbuch für Realschüler in den Fächern Erdkunde, Geschichte und Politik, „setzt auf Leistungs- und Produktionssteigerung.“ Das ist erstens richtig und zweitens zunächst einmal eine ziemlich gute Sache.*

In der Schule freilich kann man sich nicht mit dem allzu Offensichtlichem begnügen, man muss weiterdenken. Denn was bedeutet das denn: kapitalistische Produktionssteigerung? Die Antwort gibt das Schulbuch auf der Stelle: „Das bedeutet einen verstärkten Einsatz von Maschinen …“ – auch richtig, aber immer noch nicht alles – „… zur Rationalisierung der Arbeit“.

„Rationalisierung der Arbeit“ eine Verminderung des Beschäftigungsvolumens?
Halten wir fest: „Die kapitalistische Wirtschaftsordnung“ tendiert zur „Rationalisierung der Arbeit“, was irgendwie richtig ist, irgendwie aber auch wieder nicht. Jedenfalls dann nicht, wenn mit „Rationalisierung der Arbeit“ eine Verminderung des Beschäftigungsvolumens gemeint sein sollte, mithin eine höhere Arbeitslosigkeit. Es ist jedoch anzunehmen, dass die Schulbuchautoren genau dies gemeint haben dürften, nämlich dass der Kapitalismus die sog. „technologische Arbeitslosigkeit“ produziere.

Leute fliegen raus
Es ist ja auch so: wenn ein Unternehmen „verstärkt Maschinen einsetzt“, heutzutage also Computer bzw. computergestützte Systeme, einsetzt, dann, um Arbeitskräfte „einzusparen“, d.h.: die Leute fliegen raus.

Der Fall scheint klar
Und so läuft das schon seit Beginn der “kapitalistischen Wirtschaftsordnung“, verstärkt aber seit den 1980er Jahren. Das war die Zeit, als die Schulbuchautoren studiert hatten und die Computer auf ihrem Siegeszug keinen Halt vor der Arbeitswelt machten, nicht einmal vor den deutschen. Der Fall schien klar: die Arbeit schien auszugehen.

Das Ende der Arbeitswelt?
André Gorz stellte schon einmal “Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft“ und nannte sein Buch dazu ganz offensiv “Kritik der ökonomischen Vernunft“. Die Jahre vergingen, eine Generation später sah Jeremy Rifkin “das Ende der Arbeitswelt“ kommen, komisch war nur: aus schier unerklärlichen Gründen gingen immer noch ziemlich viele Leute zur Arbeit. 1980 waren es in der alten Bundesrepublik 27,9 Millionen Erwerbstätige, 2010 gab es in den alten Ländern (freilich ohne Berlin) 33,0 Millionen Erwerbstätige. Zugegeben: viele davon in prekären Beschäftigungsverhältnissen – Minijobber, „Aufstocker“; rechnet man die raus, ist der Beschäftigungszuwachs wieder weg.

Die Erwerbsarbeit ist aber immer noch da
Die Erwerbsarbeit ist aber immer noch da – trotz „kapitalistischer Wirtschaftsordnung“ und “technologischer Arbeitslosigkeit“. Es wurde nämlich übersehen, dass durch den “verstärkten Einsatz von Maschinen“ die Produktion von Gütern und Dienstleistungen billiger erfolgen konnte. Wird dieser Preisvorteil an die Kunden weitergegeben, entsteht gesamtwirtschaftlich betrachtet zusätzliche Nachfrage an anderer Stelle, die dort neue Arbeitsplätze schafft. Würde der besagte Preisvorteil nicht weitergegeben, könnte der Zusatzprofit im Unternehmen investiert werden.

Die kompensatorische Nachfrage auf dem Binnenmarkt greift
Dann entstehen ebenfalls neue Arbeitsplätze, wenn es sich um Erweiterungsinvestitionen handelt. Bei Rationalisierungsinvestitionen wären wir wieder im Thema dieses Textes. Die kompensatorische Nachfrage auf dem Binnenmarkt greift. Handelt es sich dagegen um Produktion für den Export, dürfte unmittelbar einsichtig sein, dass technologische Innovationen Arbeitsplätze keineswegs vernichten, sondern sichern bzw. schaffen.

Volksglaube an die “technologische Arbeitslosigkeit“
Allein schon die Annahme, mit einem Maschinenpark von Anno Tobak ließe sich ein hohes Beschäftigungsniveau sichern, gar Vollbeschäftigung anvisieren, ist an Absurdität kaum zu überbieten. Und doch hält sich der Volksglaube an die “technologische Arbeitslosigkeit“ hartnäckig in den Schulbüchern und, wie zu befürchten steht, in den Köpfen der mit ihnen arbeitenden Lehrer.

“Schulbücher diffamieren Kapitalismus“
Das Kölner Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) heißt nicht nur so, sondern ist auch eins – jedenfalls dann, wenn man unter Wirtschaft nicht „die Gesamtheit aller Einrichtungen und Handlungen, die der planvollen Deckung des menschlichen Bedarfs dienen“ (Wikipedia) versteht, sondern die relativ kleine Menschengruppe der Firmeneigner und ihrer Verwalter. Das IW hat jetzt in einer Studie entsetzt festgestellt: “Schulbücher diffamieren Kapitalismus“, so die Überschrift in der FTD.

Lehrerfortbildung zur ökonomischen Bildung intensivieren.
In der Studie selbst wird freilich ein der wissenschaftlichen Community etwas angemessenerer Sound angeschlagen. Der letzte Satz der Arbeit gibt die „Empfehlung“: “Um die Professionalisierung der aktiven Lehrer gesellschaftswissenschaftlicher Fächer zu fördern, gilt es, die Lehrerfortbildung zur ökonomischen Bildung nach dem aktuellen Stand der Wirtschaftsdidaktik und Wirtschaftswissenschaft zu intensivieren.“ Auch dies wäre erstens richtig und zweitens zunächst einmal eine ziemlich gute Sache.

Formung unkritischer Rekruten für die freie Wirtschaft
Doch man muss weiterdenken: dem IW geht es um nicht mehr und nicht weniger als um einen politischen Angriff auf die Unabhängigkeit des sozialkundlichen Unterrichts in den Schulen und der Lehrerausbildung an den Hochschulen. Im Grunde nicht neu, doch diesmal soll es auch ans Eingemachte gehen. Die Formung unkritischer Rekruten für die freie Wirtschaft soll frühstmöglich beginnen und auch an Schulformen Platz greifen, die nicht für die Produktion künftiger Vorgesetzter zuständig sind, sondern für die Bereitstellung der erforderlichen willfährigen Ergebenen.

Eine Gegenwehr ist nicht zu erkennen
Zurzeit ist nicht zu erkennen, wie sich das sozialkundliche Establishment in den Schulen, Universitäten, Schulverwaltungen, Ministerien, Schulbuchverlagen etc. dagegen zur Wehr setzen könnte. Eine Kapitalismuskritik, die der „kapitalistischen Wirtschaftsordnung“ vorwirft, „auf Leistungs- und Produktionssteigerung“ zu setzen, und deshalb ein technikfeindliches Ressentiment vermittelt, dürfte kaum zu halten sein. So gesehen gebührt dem IW eigentlich Dank dafür mitzuteilen, wo “die Wirtschaft“ jetzt anzusetzen gedenkt und wie bescheiden diejenigen aufgestellt sind, die die Aufgabe haben, unsere Kinder zu kritischen Staatsbürgern zu erziehen.

*Der Artikel ist ebenfalls gestern im sozialdemokratischen Vorwärts erschienen.

Ein Gedanke zu „Bildung und Schule: Sind die Sozialkundelehrer der kapitalistischen Wirtschaftsordnung gewachsen?“

  1. Sehr geehrter Herr Jurga,

    die Frage, ob Maschinisierung, also die Rationalisierung der Arbeit, Arbeitslosigkeit produziert, ist im Frühkapitalismus entstanden und von Karl Marx im 1. Band des „Kapitals“ aufgenommen. Im ging es dabei darum, die sog. Gesetzmäßigkeit der Entwicklung des Kapitalismus im Modell des Historischen Materialismus darzustellen. Um Mehrwert zu erzielen, wozu die Marktkonkurrenten der bourgeoisen Klasse im Konkurrenzkampf gezwungen sind, muss der Kapitalist entweder seine Arbeiter geschickter ausbeuten oder in die Modernisierung des Maschinenparks, ins sog. „tote Kapital“, reinvestieren, was zu Entlassungen, mithin Arbeitslosigkeit, führt. So weit ein Klassiker der Soziologie, dessen Fragestellung offenbar im „Vorwärts“, dem Organ der Sozialdemokratie, somit an rechter Stelle, auch 144 Jahre nach erscheinen des „Kapitals“ die Geister zu scheiden scheint.

    An dieser Stelle mag man auf eine pauschale Berufsgruppenschelte gegen Lehrer nicht eingehen (die aus der Zeit gefallen das Niveau der Gottsched’schen Verlachkomödie über das Bildungsbürgertum zur Zeit des Absolutismus hat, darin aber mit unserer sog. „Wirtschaftsaristokratie“ prächtig übereinkommt), denn so „bescheiden aufgestellt“ ist der Geist dieser Berufsgruppe nicht, wie Sie in Ihrem Artikel, scheinbar aus Freude an der Rhetorik der Spannung aus Opposition mit durchsichtiger kritischer Pointe gegen das Kölner IW behaupten. Sehen Sie sich nur das Realschulbuch ‚mal genau an, dass in pluralistischer Offenheit doch nur besagt, dass auf Maschinisierung die Rationalisierung der Arbeit folgt.

    Ebenso wenig möchte ich auf die Abkanzelung sozialwissenschaftlicher Befunde zur Arbeitswelt eingehen, denen es im Kern eben um die Finessen der Ausbeutung geht, die ja dann am besten klappt, wenn die Ausgebeuteten die verschleiernde Ideologie ihrer Ausbeuter ihr eigen nennen. Dagegen sträubt sich das Pathos soziologischer Einwände gegen die Auswüchse der Spätmoderne, die nicht aus dem Nichts kamen, sondern auf die im Großen und Ganzen steigende Arbeitslosenquote der 1990er und 10er Jahre reagierte, die im Feuilleton zu freilich falschen Weimarvergleichen reizten, und auf die im Gefolge darauf gestiegene „Menschenfeindlichkeit“ (Wilhelm Heitmeyer) in Deutschland. In diesem Zusammenhang des Entstehens eines neuen Prekariats und der Aufweichung des Arbeiternehmerechte sind neue Zeitkonzepte entstanden, bis hin zu Ulrich Beck, der Schecks für Arbeitsplatz-Wegbleiber fordert, also eine (adelige) Grundrente für Arbeitsfreie. Diesen industriesoziologischen Konzepten zur Humanisierung der Arbeitswelt liegt natürlich besagte Annahme zugrunde, dass der Volkswirtschaft die Arbeit ausgehe.

    Nun ist betriebswirtschaftlich gesehen, Ihr Argument nicht schlüssig, zu sagen, dass Rationalisierung neue Arbeitsplätze schafft. Empirisch belegbar ist im derzeitigen Strukturwandel zu neuen Techniken (Computer/ neue Medien, Bio- und Nanotechnologien) das Gegenteil der Fall – ein Blick in eine gebeutelte Branche wie den Journalismus belehrt einen eines besseren wie ehedem die Druckerbranche, was technische Innovationen unvermeidlich mit sich bringen, nämlich Arbeitslosigkeit.

    Nun ist eine geistige keine materielle Ware und Ihr Artikel begibt sich ins Hauen und Stechen des Volkswirtschaftlichen, wo Ihnen zufolge die Maschinisierung die Waren billiger werden lasse. Das könnte man erst einmal meinen, aber ein Unternehmer kalkuliert so gut wie nie mit der Masse der abgesetzten Waren, sondern stets über den Preis. Die Nachfrage diktiert den Preis; je größer die Nachfrage, desto höher der Preis – dies ist das einmal eins der Volkswirtschaftslehre und die leidliche Erfahrung beispielsweise eines jeden Touristen in der Not. Erst wenn ein Preiskampf unter Monopolisten ausbricht, dann purzeln die Preise, doch nicht umgekehrt, sozusagen aus Güte, weil man eh schon im Fett schwimmt. Dann müsste der Strompreis ja seit Jahren sinken. – Das alte SPD-Keynes-Modell, das volkswirtschaftlich die Nachfrage die Wirtschaft ankurble, schimmert beim schiefen Argument Ihres Artikels durch.

    Außerdem ist es zu undifferenziert, zu behaupten, eine Massennachfrage heize die Wirtschaft an, wenn die Preise sinken. Denn was heißt Massennachfrage? In Deutschland sind die Preise für Lebensmittel so niedrig wie in keinem Land vergleichbarer Entwicklung und der Lebensmittelmarkt stagniert. Und bezogen auf den technologischen Sektor, auf den der Artikel zielt, ist das Argument falsch. Gerade im Technologiesektor erleben wir doch seit zwanzig Jahren die Beschleunigung der Zeit im Sinne des Versuchs der vorzeitigen Wertabschöpfung, d.h. jedes Jahr werden panisch neue Technikprodukte auf den Markt geworfen (Cebit etc.), weil die Branche die Sättigung des Marktes im darauffolgenden Jahr fürchtet. Nämlich solch eine Sättigung wie die deutsche Volkswirtschaft im Konsumgütersektor längst erreicht hat.

    Dies ist mehr oder weniger der Binnenmarkt. Sie aber sprechen von der Modernisierung in globalisierten Zeiten. Kommen denn vom Binnenmarkt die Massengüter wie etwa ein Computer oder ein Turnschuh? Oder kommt der „Qualitäts-Turnschuh“ im Kaufladen um die Ecke nicht aus Honduras oder Nicaragua oder daher jedenfalls, wo er fix und fertig 5 Euro in der Produktion kostet. Wo die Massenware herkommt, entsteht jedenfalls kein Arbeitsplatzwunder wie anno dazumal die wundersame Brotvermehrung, sondern den tatsächlich „aufs Plaster geworfenen Massen“ (Marx) fehlt jenes Brot, wenn die Preise steigen, denn 150 Euro kostet ja der Turnschuh im Schaufenster um die Ecke, so wie es die Volkswirtschaftslehre als erstes kapitalistisches Gesetz (s.oben) lehrt, eben weil die Maschinisierung um sich greift und man jetzt noch mehr herauspressen kann, aus dem, was Wert schafft, aus „Hirn, Muskeln und Armen der Arbeiter“ (Marx).

    Es ist interessant, was im „Vorwärts“ heutzutage gedruckt wird, nachdem doch der neoliberale Kanzler Schröder auf Jahr und Tag das Steuer verlassen hat. Dieser Artikel wäre es zu Zeiten der Linkshegelianer im 19. Jh. sicherlich Wert gewesen, als ideologische Oberflächenerscheinung (subjektiv aus polemischer Gesinnung gegen eine Berufsgruppe genährt) entlarvt zu werden als das, was er ist: ein ideologischer Spitter jener erstaunlichen Ungleichzeitigkeiten in Modernisierungsschüben, die den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit sowohl objektiv verschleiern wie auch in rückwärtsgewandter, vorbewusst getragener Kapitalismuskritik hier vom Mythos des gerechten Tauschs im ehrlichen Wirtschaftsstandort Deutschland (so in etwa das Kölner IW) subjektiv verzerren, worin der verkapselte Kern der Utopie umgeht, dass es auch anders sein könnte, nämlich gerecht (frei nach Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit (1935)).

    Mit freundlichen Grüßen

    Christopher Weber, ein Sozialwissenschaftslehrer

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