Donnerstag, 6. Dezember 2012. Am Montag hatte ich noch einmal einen Artikel vom 20. September 2011 zum Nahostkonflikt gepostet und auf meine Homepage gestellt. Das Problem bei Texten „aus dem Archiv“: Zusammenhänge, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung allgemein präsent waren, erschließen sich mit der Zeit nicht mehr so ohne weiteres. Ein Freund und Kollege hat mich in Frageform auf diesen Umstand hingewiesen. Im Folgenden meine Antwort an ihn – in geringfügig modifizierter (anonymisierter) Form.
Vor 15 Monaten, also im September letzten Jahres, erschien es mir nicht nötig zu erwähnen, worauf sich Merkel frühzeitig festgelegt hatte. Heute erscheint diese Unterlassung verständlicherweise als ein Fehler.
Also: Merkel hatte sich und damit die Bundesregierung und damit die Bundesrepublik Deutschland früh auf ein Nein zum Antrag der PA, also Abbas´ Fatah (PLO), festgelegt. Im Text hatte ich erwähnt, dass es sich um einen Antrag auf Vollmitgliedschaft in der Vollversammlung der Vereinten Nationen handelte.
Ich hatte Merkels „frühzeitige“ – implizit auch: „rigorose“ – Ablehnung kritisiert, was eben auch bedeutete, dass ich nicht das deutsche Nein an sich kritisiert hatte. Auch ich finde, dass eine Vollmitgliedschaft Palästinas die Klärung einiger existenzieller Sicherheitsfragen für Israel voraussetzte. Ein Ja wäre auch m.E. indiskutabel, solange nicht vertraglich vereinbart ist, wie die PA / PLO etwa mit Hamas– oder Dschihad-Terroristen umzugehen hat, wenn sie einen Bus in West-Jerusalem in die Luft gesprengt haben und danach in Ost-Jerusalem Unterschlupf finden. Es muss sichergestellt sein, dass sich auf der Westbank nicht das wiederholt, was in Gaza und Südlibanon passiert ist. Nämlich, dass nach einem einseitigen Abzug Israels unverzüglich Raketen stationiert werden, die das „zionistische Gebilde“ von der Landkarte wischen sollen.
Wie auch immer: Merkels rigoroses Nein war ein Affront gegen Mahmud Abbas und wurde von Benjamin Netanjahu letztlich als Zustimmung für seine Sabotagepolitik gegen die Zweistaatenlösung interpretiert (auch wenn die offizielle Sprachregelung der Merkel-Regierung freilich eine andere war). Es kann doch durchaus sein, dass Netanjahu diesmal wirklich unangenehm „überrascht“ war, dass die Bundesregierung sich bei dem Antrag auf einen Beobachterstatus Palästinas enthalten hatte.
In meinem Text vom 20. September 2011 habe ich keinerlei Empfehlung dazu gegeben, wie die Bundesregierung in der UNO abstimmen sollte. Ich hatte nichts dazu gesagt; es war dem Text auch nichts dazu zu entnehmen. Ich hatte nur den engen Gleichklang mit Netanjahu kritisiert, nämlich die „frühzeitige Festlegung“ auf ein Nein. Nebenbei: dies hatte ausgereicht, dass dieser Artikel, kurz nachdem ich ihn auf ein bekanntes Ruhrgebiets-Blog gepostet hatte, dort unter Hinweis auf meine vermeintlich „anti-israelische“ Einstellung wieder entfernt wurde, was meine bis dahin intensive Kooperation mit diesem Blog beendet hatte.
Ich habe diesen Text jetzt noch einmal auf meine Startseite gestellt, weil ich – erstens – in diesen Tagen nicht dazu gekommen bin, einen neuen Artikel zu schreiben. Zweitens ist aber der Konflikt zwischen jüdischen Israelis und arabischen Palästinensern in diesen Tagen und Wochen wieder einmal hochaktuell. Und– drittens – halte ich in der mir eigenen Rechthaberei daran fest, dass das resolute deutsche Nein vor 15 Monaten ein Fehler war. Andere EU-Staaten hatten sich damals enthalten, Obama waren die Hände noch stärker gebunden als heute. Aus Israel hatte ich Zipi Livni und Ehud Barak mit ihrer deutlichen Kritik an Netanjahus Isolationspolitik angeführt, sowie einen Intellektuellen, der offen für den PA-Antrag plädiert hatte. Carlo Strenger, fürwahr kein linksradikaler Außenseiter.
Diesmal, also bei dem palästinensischen Antrag auf einen Beobachterstatus, hat sich Netanjahus Amtsvorgänger Ehud Olmert für ein – israelisches! – Ja zu Abbas´ Antrag ausgesprochen. Im gegenwärtigen Wahlkampf scheuen die noch aktiven Politiker und ihre Parteien solch ein offenes Plädoyer. Abgesehen von der linksbürgerlichen Meretz, die zugegebenermaßen – genau wie die Arbeitspartei – strukturell an Bedeutung verloren hat.
Die Situation in Deutschland ist bekannt. Es gibt einen breiten Konsens quer durch die Medien und die Parteien, dass nur die Perspektive der Zweistaatenlösung die Tür zu einer Wiederbelebung des Nahost-Friedensprozesses offenhalten kann. Insofern hätte die Bundesregierung diesmal in der UN-Vollversammlung eigentlich sogar mit Ja stimmen müssen. Die prinzipielle Solidarität mit Israel hat Merkel davon abgehalten. Das ist nachvollziehbar, und dass sie sich jetzt mit Netanjahu persönlich anlegt, ist ausdrücklich zu begrüßen.
Es drängt sich die Parallele zu ihrer Europolitik auf: Merkel hinkt zeitlich immer so ein bis zwei Jahre hinterher. Mal sehen, was jetzt bei den deutsch-israelischen Konsultationen in Berlin herauskommt. Vermutlich nicht allzu viel. Die deutsche Position ist wichtig, keine Frage. Doch ohne Druck aus Amerika wird Netanjahu sich nicht bewegen. Die USA sind aber den Dezember noch damit beschäftig, einen Kompromiss in der Haushaltspolitik zwischen den beiden Parteien hinzubekommen. Israel steckt bis zum 22. Januar in der heißen Wahlkampfphase. Netanjahus Sieg gilt zwar als sicher; dennoch wird er sich bis zum Wahltermin um keinen Deut bewegen. Erst danach wird sich entscheiden, ob es sich bei den verkündeten Bauplänen für das E1-Gebiet „nur“ um eine Mischung aus innerisraelischem Wahlkampfgetöse und einem „Schuss vor den Bug“ für Abbas handelt, oder ob Netanjahu wirklich dort bauen wird und damit jede Möglichkeit zum Frieden endgültig zunichte macht.