Jeder lese, solange es für ihn kurzweilig bleibt; ansonsten hat er auch nichts verpasst im Leben.
(Sprüche und Wendungen eines alten chinesischen Meisters)
Sonntag, der 8. Februar 2009
Der andere Portier heißt Sergio und der hat mir heute erstmal erklärt, wie die Kabelglotze geht. – „Ich habe zu früh Tage gemacht!“, könnte ich mit Emila Galottis Prinzen Hettore Gonzaga zum Hofmaler Conti ausrufen, denn mein Wecker zeigte mir eine Stunde früher an, als es tatsächlich war. Zuerst, klar, dachte ich, ich hätte mich gestern Abend beim Stellen vertan. Aber bei genauerer Hinsicht stellte sich heraus, dass mein aus Deutschland mitgebrachter Wecker den Strom nicht ohne Weiteres schluckt, sondern bei ca. 110 Volt mexikanischen Gleichstroms schneller zu ticken beginnt. Nun ja, beim „Superama“-Supermarkt um die Ecke gibt’s einen Heizradiator für 17 Euro, da wird’s auch einen Wecker geben. Einen Heizradiator werde ich mir zulegen, da in México D.F. alpines Klima ist: Morgens kann es empfindlich kalt bei so 5 bis 8 Grad sein, mittags dann mediterrane 25 bis 30 Grad. – Ich habe mir vom gestrigen Wandern im Chapultepecpark einen Sonnenbrand an der Stirn geholt.
Heute also der erste Tag nach dem Umzug – nachts habe ich nichts geträumt, was denn in Erfüllung gehen könnte – am ersten Tag also durchstreifte ich natürlich meinen Barrio und stellte fest, es ist goldrichtig hier. Es ist wie dieses verwunschene Stück Berlin zwischen Wilmersdorfer Str., Bismarckstr., Hardenbergstr. und Zoologischem Garten und zurück über die Kantstr. oder südlich über den Ku’damm, also ein Charlottenburg zwischen Einkaufsmeile westlichen FuZo-Zuschnitts mit C&A, Herthie, Deichmann etc., geschichtsträchtiger Berliner Achse, universitärem Caféhaus-Bohemeflair, der deftigen Berliner Schnauze vom Currywurstclientel Zoologischer Garten, dem Aushängeschild früherer Zeiten, und nördlich dieser auf den ersten Blick sozusagen Gebrauchsstraße Kantstr., die immer etwas weniger verstopft als der Ku’damm ist und bei näherer Betrachtung doch auch Charme hat, mit ihrem „2001“-Laden, heruntergekommenen Tankstellenhäusern wie früher in den 70er Jahren zu Weihnachten unterm Baum, chinesischen und thailändischen Restos und vor allem dem Kant-Kino, dem ältesten Kino der Stadt, wo man noch immer diese unsäglich langsame Ästhetik eines „Easy Riders“ sehen kann; das war wohl auch die große Zeit des greisen Besitzers, der noch immer dort sein Programmkino schmeißt.
Und links und rechts, wie Adern, die von der Kantstr. abgehen, verlangsamt sich das Leben zum Kiez, wunderbare Plätze, Baumalleen, Vögelgezwitscher, Dorfidylle mit Dönerbude, Qualitätsläden, alteingesessenes Handwerk vom Möbeldrechsler bis zur gediegenen Lederboutique – ach ja, der Cowboystiefelshop in der Kantstr. nicht zu vergessen – Läden fürs Berahmen von Ölgemälden neben Plaste-Elaste-Shops, Straßencafés ab Saisonbeginn, Markthallen und Aldi – der poetische Funke des Surrealen.
Draußen in Polanco beginnt nun der magische Realismus der lilafarbigen Vorfrühjahrsblüte der Bäume, die Häuser sind zum Teil wohl wie die Berliner Dachtraufe 21m hoch und pastellfarben angepinselt und vor der Haustür erstreckt sich ein Stadtpark, die Plaza Uruguaya. Andre Richtung die Lope de Vega lang landet man vorm Sushi-Laden „Fish-Mart“; ansonsten brutzelt’s Tacos, Tortillas und Tortas an jeder Ecke. Überhaupt ist Polanco gepflastert von Restos aller Herren Länder. Zur Mittagszeit sammelt sich das Volk in den zig Restos in den Straßen Polancos und speist ausgiebig. Das arabische Kulturzentrum wartet um die Ecke mit Bautänzen auf, nicht weit entfernt soll ein Supermarkt für koscheres Essen sein, denn Polanca ist bevorzugtes Wohngebiet der Juden, wovon auch die große Synagoge Beth-Itzjak im Westen Polancos zeugt. Zum Chapultepecpark schlendert man 10 Min. Ihn säumen die Betonklötze der internationalen Hotelketten, die ihn von Polanco abgrenzen, das bei Campos Elíseos unmittelbar vorm Museo Nacional de Anthropología aufhört. Passagen verbinden unvermittelt die Schlagader des Viertels, die Avenida Presidente Masarik, mit Häuserblöcken weiter südlich und erinnern an Andalusien. Die Avenida hat alle möglichen Nobelmarken angezogen, Hugo Boss, Tiffanys, Chippendale usw. usf. – jeder Gernegroß und Möchtegern käm’ hier auf seine Kosten. Palmen sieht man allerwegen.
Beim Parque América befindet sich in der Anatole France das Programmkino und Kulturzentrum „Casa de Arte“. In sämtlichen Straßen gibt’s was zu entdecken, eine französische Creperie, einen belgischen Bäcker, die Kaufhauskette Liverpool, einen irischen Pub, überhaupt Cafés überall und Konditoreien aus tausend und einer Nacht. Man liest beim Kaffee Zeitung auf dem Bürgersteig – diese friedliche, fast autofreie Sonntagsatmosphäre ist fürs Flanieren herrlich.
Das war nun meine erste Woche; der Rest ist Arbeit …
… und Schluss