Konzerthaus Dortmund: „Expedition Salonen“ – eine musikalische Reise in drei Teilen.

Multimediale Installation des Konzertabends (fotos: pohl)
"re-rite"-Videoinstallation im Dortmunder U (fotos: Martin Pohl)

Teil 1: Konzert am Freitagabend.

Die vom Konzerthaus Dortmund als „Expedition Salonen“ betitelte Reihe geht ins zweite Jahr. Der finnische Dirigent und Komponist Esa Pekka Salonen gastierte mit seinem Philharmonia Orchestra London, einem der renommiertesten Orchester des United Kingdom, am vergangenen Wochenende für zwei Tage in der Westfalenmetropole.

Dass Salonen nicht nur Chef d’orchestre, sondern ein ganzheitlich und multimedial denkender Künstler ist, zeigte sich schon daran, dass er die um 9 Trompeten erweiterte Blechbläsergruppe für LeoÅ¡ Janáčeks „Sinfonietta“ von der Rückempore über dem Orchesterraum spielen ließ. Das Spätwerk (erschienen 1926) des vom Spätromantiker zum Expressionisten mit starken Folkloreeinflüssen gewandelten tschechischen Komponisten erklang in einer in jeder Hinsicht überzeugenden Interpretation.

Musikalisches Abheben in rauschhafte Höhen
Anschließend spielte Patricia Kopatchinskaja das Violinkonzert des Komponisten Salonen unter der Leitung des Meisters selbst. Ein mörderisch schwerer Solopart, den die Geigerin bravourös bewältigte. Dass sie barfuß auftrat, interpretiere ich als Erdverbundenheit, die ihr das musikalische Abheben in rauschhafte Höhen ermöglichte, ohne den Boden zu verlieren. Ein sinnliches Erlebnis, auch in dieser Hinsicht. Das Werk selbst überzeugte mich vor allem in den ersten beiden Sätzen. Mit zunehmender Dauer, vor allem gegen Ende, erschien es mir allzu heterogen, etwas in die Länge gezogen. Ich hätte mir mehr Klarheit gewünscht. Letztlich aber ein Werk, das den Dirigenten Salonen auch als überzeugenden Komponisten auswies.

„Le sacre du printemps“ – Skandalstück auf einzigartig hohem Niveau
Nach der Pause dann  „Le sacre du printemps“, das Skandalstück des Jahres 1913 von Igor Strawinsky. Wer sich intensiv mit Musik auseinandersetzt, kennt dieses Stück, muss es einfach kennen oder kennenlernen. Ein Meilenstein der Musikgeschichte. Salonen nimmt tendenziell hohe Tempi, was die Sache für die Musiker nicht einfacher macht, aber einen besonderen, energiegeladenen Drive erzeugt. Auffallend eine (nicht notierte) Temporückung – wie Strawinsky das beurteilt hätte, sei dahingestellt (er selbst hat sich in den 60ern kritisch zu damals erschienen Neueinspielungen geäußert). Letztlich nichts zu bemängeln, besonders, da das Orchester auf einzigartig hohem Niveau spielte. Eine der besten Interpretationen, die ich bislang gehört habe.

Teil 2: re-rite und Lounge im Dortmunder „U“

kl_view_dachterrasseDas Besondere der Expedition Salonen ist sicher das von ihm initiierte re-rite-Projekt. Nur an drei Orten auf der Welt gibt es das zu sehen, in Deutschland nur in Dortmund.

In der 6. Etage des U-Turms geht man durch ein schwarz verkleidetes Labyrinth in verschiedene Räume, die jeweils einer Instrumentengruppe des Orchesters gewidmet sind. In Endlosschleife läuft das rund 35-minütige „Sacre du printemps“ (englischer Titel „The Rite Of Spring“) in der Aufnahme des Philharmonia Orchestra unter Salonens Leitung. Überall sind auf Videoleinwänden die Musiker (-Gruppen) zu sehen. In jedem Raum hört man vorzugsweise die entsprechende Gruppe, lauter als den Rest, so als säße man im Orchester. Je dichter man an eine Leinwand geht, desto lauter erklingt das Instrument. Auf einem Notenständer liegt die jeweilige Stimme zum Mitverfolgen.

Ausstellung noch bis 20. November
So wie beschrieben, läuft die Ausstellung noch bis zum 20. November. Der Clou jenes Abends war, dass einige Orchestermusiker selbst hinzukamen, ihre Instrumente auspackten und live mitspielten, um später dann zu Gesprächen zur Verfügung zu stehen.

DJ Gabriel Prokofjev mixt Janáčeks und Strawinskys Klänge zu einer neuartigen Melange
7. Etage, Restaurant „View“, 23 Uhr: nochmals Livemusik mit Salonen und der Blechbläsertruppe, die den ersten Satz (Fanfare) der Sinfonietta von LeoÅ¡ Janáček noch einmal spielten – diesmal zum Greifen nah. Danach legte DJ Gabriel Prokofjev auf. Er mixte Janáčeks und Strawinskys Klänge zu einer neuartigen Melange. Das gleichzeitig laufende Videomaterial auf einer Großleinwand im View wirkte eher kurios denn innovativ. Lauschte man nur der Musik des DJ, dann konnte man dem durchaus Neues abgewinnen. Dennoch: nach 5 Minuten dürfte jedem klar gewesen sein, wie es weitergeht. Ich meinerseits nutzte die Gelegenheit, Gespräche mit einigen meiner Studierenden der Uni Dortmund zu führen.

Eine Zigarettenlänge auf der Außenterasse
Zur Schonung der eigenen Stimme gab es glücklicherweise die Möglichkeit, auf die Außenterrasse des View zu gehen, wo die inzwischen üblichen Heizstrahler für ausreichende Wärme sorgten. Der Rand, von dem aus  man die Innenstadt überblicken kann, war leider außer Reichweite der Wärmequellen, aber die relativ milden Außentemperaturen ließen mich die Zigarettenlänge meiner Gesprächspartnerin so gerade überstehen.

(Mit-)Dirigieren macht einfach Spaß
Nach Mitternacht dann nochmal re-rite. Die Musiker hatten weitgehend eingepackt, das Endlosband war ungefähr an derselben Stelle, an der ich ein Stunde zuvor das Labyrinth verlassen hatte, und so blieb ich bis zum Finale. Ein Raum ermöglicht den Besuchern nämlich auch die Wahrnehmung aus Sicht des Dirigenten. Die Partitur lädt zum Dirigieren ein, wozu sich auch einige Besucher trauen. Generell empfehle ich, nicht auf den Dirigenten zu schauen (das verwirrt nur), sondern in die Partitur (!) – wenn man beim Lesen denn mitkommt. Ich jedenfalls erinnerte mich aktiv nachvollziehend an meine Studienzeit, als wir im Dirigierunterricht an diesem Stück gearbeitet haben. Dirigieren macht einfach Spaß.

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Teil 3: Konzert am Samstag abend.

Zum Bartók-Abend waren weit weniger Besucher gekommen als zu Strawinsky. Zu unrecht, wie ich meine. Ohne Übertreibung: sie haben was verpasst.

Das Hauptwerk des Abends, Bartóks einzige Oper „Herzog Blaubarts Burg“, erklang in einer halbszenischen Aufführung. Es mag daran liegen, dass das skandalberühmte „Sacre“ ungleich bekannter geworden ist, weshalb viele mit Blaubart nicht so viel anfangen können.

Skandal im Paris des Jahres 1911: Vaclav Nijinsky  krönt seine Choreographie mit einer angedeuteten Masturbation
Dabei gab es bei Musik von Bartók und sogar Debussy ebenfalls Skandale: Prof. Dr. Michael Stegemann von der Uni Dortmund erzählte in seinem Einführungsvortrag, dass es vor hundert Jahren eine Ballettaufführung des (zum Auftakt des Konzertabends erklingenden) „Prélude à l’après-midi d’un faune“ (Vorspiel zum Nachmittag eines Fauns) von Claude Debussy gegeben habe, bei der der berühmte Tänzer Vaclav Nijinsky  seine Choreographie mit einer angedeuteten Masturbation krönte. Das war wohl selbst im freizügigen Paris des Jahres 1911 zu liberal.

Skandal in Köln 1926: Oberbürgermeister Adenauer verbietet Bartóks Ballett
Die andere Geschichte, die mir allerdings schon bekannt war, ist die der Uraufführung von Bartóks Ballett „Der wunderbare Mandarin“ im Jahre 1926 in Köln: schon einen Tag später wurde das Stück auf Geheiß des damaligen Kölner Oberbürgermeisters Konrad Adenauer wegen seines „unmoralischen“ Inhalts (wir würden heute sagen erotischen Inhalts) verboten.

Zum Konzert selbst: Das Debussy-Werk, äußerlich gehört eher unauffällig, aber stilistisch zu Ende des 19. Jahrhunderts völlig neuartig, gewissermaßen der Ursprung der Neuen Musik, wurde in schon gewohnt perfekter Weise dargeboten. Anschließend Bartóks Tanzsuite (1923), in der er Folklore-Einflüsse unterschiedlicher Ethnien verschmolz.

„A kékszakállú herceg vára“ – mit deutschen Übertiteln
Nach der Pause dann „A kékszakállú herceg vára“ (Herzog Blaubarts Burg, 1911) in ungarischer Sprache mit deutschen Übertiteln. Sir John Tomlinson als Blaubart und Michelle de Young als Judith – beide Weltklasse – sangen die einzigen Protagonisten des Werks überzeugend und deuteten die Handlung mit angemessenen Gesten an.

Videoinstallation mit Raumklang
Das Besondere dieser Aufführung war die Videoinstallation eines britischen Teams um den Londoner Künstler Nick Hillel (Yeast Culture). Eine angedeutete Burg um das Orchester herum und bewegliche, von der Decke hängende Elemente dienten als Projektionsfläche des Videomaterials, das die Handlung und/oder, je nach Interpretation des symbolistischen Dramas, das Innenleben Blaubarts illustrierte. Lichteffekte taten ihr übriges. Salonen bezog auch hier Mittel des Raumklangs mit ein: die verstärkenden Blechbläser („Bühnenmusik“) beim Öffnen der 5. Türe (einer der dynamischer Höhepunkte des Werkes) klangen von den Rängen vorne im Konzerthaus, zu beiden Seiten des Orchesters.

Überwältigende dynamische Bandbreite und dramaturgische Gestaltung
Die technischen Möglichkeiten mit Neuen Medien im digitalen Zeitalter bezieht Salonen gerne in seine Projekte mit ein und hält, weil die Organisatoren dies unterstützen und es hier realisierbar ist, das Konzerthaus Dortmund für eines der innovativsten überhaupt. Mich hat diese Aufführung einschließlich Video und Licht sehr beeindruckt, allerdings geht das ganz wesentlich vor allem auf die Leistungen von Orchester und Dirigent zurück. Ich kenne alle in diesen Tagen gehörten Werke sehr gut, aber diese dynamische Bandbreite und die dramaturgische Gestaltung haben mich einfach überwältigt.

Martin Pohl, am 15. November 2011