Man muss auch mal plaudern dürfen … wider den Gehorsam

Im Oktober gekauft, drei Mal gelesen (foto: zoom)
Im Oktober gekauft, drei Mal gelesen (foto: zoom)

Vor mir liegt der schmale Essayband „Wider den Gehorsam“, des Psychoanalytikers Arno Gruen. Ich bin zwar kein ausgesprochener Freund von Psychoanalytikern, obwohl ich doch zu seiner Zeit Freud, Fromm, Mitscherlich und sogar den Superspinner Wilhem Reich gelesen habe, aber Arno Gruens Büchlein gefällt mir ausgesprochen gut.

Im Klappentext heißt es: „Scharfsinnig entlarvt der bedeutende Psychoanalytiker Arno Gruen die Pathologie der freiwilligen Knechtschaft.“

Ich liebe diese Dialektik und lese weiter, dass wir selbst „uns nicht für gehorsam[halten]. Wir erkennen nicht, dass wir unsere Unterdrücker idealisieren und ihnen dadurch Macht über uns verleihen. “

Es sei „höchste Zeit, gegen die Kultur des verschwiegenen Gehorsams zu revoltieren: nur so können wir die Demokratie stärken und besser miteinander leben.“

Der Klappentext kann viel behaupten, aber mich hat die erste Seite augenblicklich gefesselt:

„Wir, die wir uns für so individualistisch halten, verwechseln die Konstruktion einer persona mit der eigenständigen Entwicklung eines Selbst.“

Folgen Nietzsches „jasagende[n], sich selbstverleugnende[n] Menschen und daraufhin  die alte Wahrheit, die viele von uns kennen, aber die meisten von uns oft vergessen:

„Die Angst ungehorsam zu sein, führt dazu, sich dem Unterdrücker unterzuordnen. Indem man sich mit dem Unterdrücker verbindet, kehrt man seine Gewalt in Verachtung und Liebe um. Rechtsradikale Führer gelangen deswegen besonders häufig in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche an die Macht. Diese Führer erwarten Gehorsam und wollen ihn als Größe und Zeichen ihrer Macht wiederherstellen oder stärken. Dass dies gelingt, zeigt uns: Das Bedürfnis nach Gehorsam ist ein grundlegender Aspekt unserer Kultur.“

Allein das letzte Zitat hat bei mir so viele Assoziationen von der Kindheit bis zur politischen Vergangenheit und Gegenwart ausgelöst, dass ich das Buch für eine zeitlang beiseite hätte legen legen können.

Warum schlägt der Vater, der die Schläge seines Vaters zutiefst verabscheute, sein eigenes Kind?

Warum kann mit auch heute positiv besetzten Sekundärtugenden ein Massenmord organisiert werden?

Aus welchem Grund treten gefolterte Geißeln „freiwillig“ zum Glauben ihrer Peiniger über?

Warum „verlieben“ sich Opfer in ihre Folterer?

Grün spannt den Bogen von der individuellen Entwicklung des autoritär, mit Gewalt erzogenen Kindes, welches sich die Gewalt einverleibt und selbst zum Gewalttäter wird zu Gewalt und Gehorsam in der heutigen Gesellschaft:

Der autoritätshörige Gehorsam, der sich selbst durch Unmenschlichkeit auszeichne, bestehe auf unser Mitgefühl, die aktuelle Sparpolitik diene dem Gehorsam gegenüber den  Herrschenden. Die Sparsamkeit werde entgegen der ökonomischen Vernunft zu einem moralischen Wert erhoben (S. 87).

Meine Lieblingsstelle ist zur Zeit der von Arno Gruen zitierte Historiker Christopher R. Browning, der den krankhaften Hass des Hamburger Reserve-Polizeibataillons 101 untersuchte (S. 54), „das an der Durchsetzung der „Endlösung“ in Polen während der Nazi-Besetzung beteiligt war (ebda).

Gruen auf Seite 55:
„Normale Menschen“, so Browning, „geraten in einen Zustand der Fremdbestimmung, in dem sie nur noch Vollstrecker eines fremden Willens sind. Dabei fühlen sie sich nicht mehr für den Inhalt ihrer Handlungen persönlich verantwortlich, sondern nur noch für deren möglichst gute Ausführung.“

Ist es nicht immer noch so?

Ich lese das Buch gerade zum zweiten und dritten Mal. Bestellt habe ich es bei:

http://www.klett-cotta.de/buch/Gesellschaft/Wider_den_Gehorsam/48974