Die Amadeu Antonio Stiftung kritisiert, dass Deutschland keinen guten Umgang mit Antisemitismus hat. Antisemitismus gewinnt in vielen gesellschaftlichen Bereichen neuen Aufschwung: etwa im Kontext der Pandemie, des Kriegs in der Ukraine und der Debatte um die documenta15. Der Umgang mit antisemitischen Werken auf der diesjährigen Kunstschau hat gezeigt, dass jüdische Perspektiven ignoriert und Antisemitismus-Vorwürfe pauschal abgewehrt werden. Zu diesem Schluss kommt die Amadeu Antonio Stiftung, die heute ihr Zivilgesellschaftliches Lagebild Antisemitismus vorgestellt hat. Die Beratungsstelle OFEK e.V. warnt auch in diesem Jahr, dass die gesellschaftspolitischen Spannungen und aktuellen Diskurse Antisemitismus normalisieren und das Bedrohungspotenzial für Jüdinnen und Juden erhöhen.
(Pressemitteilung Amadeu Antonio Stiftung)
Im Zuge der Diskussion um Antisemitismus bei der documenta wurden Sachverhalte zur Debatte gestellt, die nicht zur Debatte stehen dürften: Was Antisemitismus ist, wird grundsätzlich neu ausgehandelt. Die Sorgen und Warnungen von Jüdinnen und Juden werden nach wie vor systematisch ignoriert und israelbezogenem Antisemitismus öffentlichkeitswirksam die Bühne bereitet. Damit steht selbst ein Grundkonsens der Erinnerungskultur auf der Kippe: Antisemitismus bekommt einen öffentlichen Raum.
Auch jenseits der Debatte um die documenta beobachtet die Amadeu Antonio Stiftung: Der Terror gegen Israel wird glorifiziert und Rassismus und Antisemitismus werden in öffentlichkeitswirksamen Debatten gegeneinander ausgespielt, während Rechtsextreme nahtlos an die verschwörungsideologische Mobilisierung der Corona-Pandemie anschließen. Nach wie vor greifen sie auf antisemitische Verschwörungsmythen zurück, um die Energieversorgungskrise für ihren “heißen Herbst” und antidemokratische Umsturzfantasien zu nutzen.
Bereits Anfang 2022 wurde davor gewarnt, dass es auf der documenta zu antisemitischen Vorfällen kommen könne. Es wurde darauf hingewiesen, dass sich Antisemitismus häufig hinter vermeintlicher “Israelkritik” versteckt. Mit der Eröffnung der Ausstellung hat sich die Warnung in jeder Hinsicht bestätigt: Auf der Kunstschau wurde eine Vielzahl antisemitischer Darstellungen gezeigt.
Aus dem Lagebild Antisemitismus ergeben sich fünf Kernbeobachtungen:
- Antisemitismus verklärt die Welt: Antisemitische Verschwörungserzählungen prägen die Debatte um die Energieversorgungskrise stark. Mit antisemitischen Erklärungsversuchen werden komplexe Sachverhalte verkürzt und wird auf alte Feindbilder zurückgegriffen.
- In aktuellen Antisemitismusdebatten wird oftmals so getan, als ob Israelhass und Judenhass nichts miteinander gemein hätten. Damit werden Antisemitismus-Vorwürfe pauschal abgewehrt.
- Jüdinnen und Juden werden mit ihren Einschätzungen nicht ernst genommen. Betroffenenperspektiven werden ignoriert.
- Die aktuellen Antisemitismusdebatten erschweren die Bekämpfung von Antisemitismus. Israelbezogener Antisemitismus wird kleingeredet mit der Behauptung, man habe in Deutschland einen voreingenommenen Blick auf Israel.
- Antisemitismus bekommt wieder eine Bühne: Antisemitische und israelfeindliche Akteure üben einen steten, teils wachsenden Einfluss aus.
Tahera Ameer, Vorständin der Amadeu Antonio Stiftung, erklärt: “Der Zustand ist schon lange nicht mehr tragbar. Die Grenzen des Sagbaren haben sich längst verschoben, Antisemitismus ist in Deutschland ein Renner und Brückenschlag über alle Klassen und Milieus hinweg. Zudem erschweren die Debatten im Feuilleton die Antisemitismusbekämpfung der demokratischen Zivilgesellschaft und ignorieren den Judenhass, den Betroffene erleben.”
Für Jüdinnen und Juden bedeutet das konkret: Sie erleben Antisemitismus in allen sozialen Räumen. Marina Chernivsky, Gründerin und Geschäftsführerin von OFEK e.V., macht deutlich: “Die aktuellen Entwicklungen um Antisemitismus haben eine verheerende Wirkung auf die jüdische Community: Antisemitismus ist keine Einstellung ohne Folgen. Antisemitismus produziert Ausschluss und wirkt sich gewaltvoll aus.”
Auf diese Entwicklungen reagieren die Amadeu Antonio Stiftung und das Anne Frank Zentrum gemeinsam mit den Bildungs- und Aktionswochen —dem bundesweit größten Bündnis gegen Antisemitismus— die jetzt starten. Gemeinsam mit dutzenden Kooperationspartnern finden bundesweit mehr als 100 Veranstaltungen statt. Flankiert von einer bewusst mutigen Kampagne wird so jedes Jahr der Finger in die Wunde gelegt, in diesem Jahr unter dem Motto ‘Israelhass und Judenhass lassen sich nicht trennen – Gemeinsam Antisemitismus stoppen!’.
Das Programm der Bildungs- und Aktionswochen 2022 finden sie hier.
Das Zivilgesellschaftliche Lagebild Antisemitismus #10 steht hier zum Download bereit: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/publikationen/zivilgesellschaftliches-lagebild-antisemitismus-10