Offener Brief eines sauerländischen Franziskaners an die CDU

…doch wenn (ein Polítiker) es zu tun wagt (Verantwortung zu übernehmen, die nicht der auf Effizienz und Unmittelbarkeit ausgerichteten Logik der aktuellen Wirtschaft und Politik entspricht), wird er wieder die Würde erkennen,
die Gott ihm als Menschen verliehen hat,
und nach seinem Weg durch diese Geschichte
ein Zeugnis großzügiger Verantwortlichkeit hinterlassen.“
(Enzyklika Laudato sí, 181)

An die
Christlich Demokratische Union (CDU)
und an alle interessierten BürgerInnen
in Deutschland

OFFENER BRIEF

Betreff: 2 Sauerländer in Brasilien
Über den “erfolgreichen” Besuch des Deutschen Bundeskanzlers bei der COP 30

Der eine Sauerländer (70) kam nach Brasilien, noch bevor die COP 30 am 10. November offiziell in Belém begann, blieb “knapp 20 Stunden“, um mit Präsident Lula freundschaftlich zu sprechen und sich über den Beitrag Deutschlands zum TFFF, dem Milliarden schweren Tropical Forest Forever Facility, zu äussern.

Der andere Sauerländer (65) kam 1990 nach Brasilien, um als Franziskaner – wie viele andere vor ihm – die Armen im armen Nordosten zu „evangelisieren“; nein, nicht im Sinne, dass er ihnen Gott bringen oder erklären müsste – an den glauben sie, seitdem die Portugiesen hier im Jahr 1500 mit Schwert und Kreuz angekommen sind, sondern um Christus in den Gekreuzigten von heute zu dienen und sie vom Kreuz zu holen.

Am Montag (16/11) schickte mir ein Brasilianer ein Video, in dem Friedrich Merz beim Handelskongress Deutschland (12.-13. Nov. 2025) seine und die der Journalisten Erleichterung ausdrückt, „aus jenem Ort, wo sie waren“ raus und in „eines der schönsten Länder der Welt“ zurück zu sein (ICL Notícias). Seine Rede ist in brasilianischer Sprache legendiert.Dem Video ist eine Bildunterschrift angefügt, die unter anderem sagt: „Deutsche Journalisten sagten auf der COP 30, dass der Bundeskanzler dafür bekannt sei, Fehler zu machen, hauptsächlich fremdenfeindlicher Natur“. Der Bekannte, der mir das Video geschickt hatte, fragte dann noch: „Bruder Johannes, was ist mit Deutschland los?“

Ich habe dem Bekannten geantwortet, dass man die Vorwürfe gegen Merz nicht auf alle Deutsche generalisieren dürfe, dass ich selbst gerne wissen möchte, welche Gründe den Kanzler zu diesem Kommentar bewegt haben, und dass Brasilien selbst noch vor kurzer Zeit einen Präsidenten hatte (Bolsonaro), der täglich ins Fettnäpfchen trumpelte – besonders zur Corona-Zeit.

Es gibt Momente, da sitze ich zwischen den Stühlen: Nicht wenige Brasilianer haben mir schon schmeichelnd gesagt, ich sei brasilianischer als sie selbst, aber wenn ihre patriotische Ehre gekränkt wird – und dann noch von einem Deutschen (Politiker) – kommt bei den ihnen sofort die “andere“ Seite von Deutschland hoch: Hitler und die Nazizeit, Holocaust und Weltkrieg… Und dann schäme ich mich.

Deswegen schlug in Brasilien in dieser Woche die Welle der Empörung über die Arroganz des deutschen Bundeskanzlers immer höher – das Thema schien wichtiger als die COP 30 zu sein. In Deutschland hingegen, so sagten mir einige Bekannte, habe man von Merz‘ Fettnäpfchen kaum Kenntnis genommen. – Am 19. November teilte die Deutsche Welle und G1 mit, dass sich der Kanzler nicht entschuldigen werde, und der Ausdruck “nun in einem belastenden Sinne präsentiert wird“, wie der Regierungssprecher Stefan Kornelius mitteilte.

Die Frage, auf die ich noch keine Antwort gefunden habe ist, was bemängeln Herr Merz und die Journalisten von dem Ort, an dem sie waren: die chaotische Logistik der COP, die prekäre Infrasturktur von Belém, die schwüle Hitze, alles?

Belém ist nicht Paris oder Qatar, Belém ist eine typische Millionenstadt im Globalen Süden mit ihren krassen sozialen Ungleichheiten und ökologischen Desastern – und das um so mehr im Norden Brasiliens, also dem Amazonasgebiet. Nichtsdestotrotz gibt es auch da kulinarische Lokalküche und bunte Folklore, welche Kanzler Merz (und die Journalisten) wohl nicht genossen haben, wie Präsident Lula humorvoll geantwortet hat.

Gerade deswegen hatte Lula ja die Klima-Konferenz nach Belém eingeladen: damit sich die Welt “vor Ort“ ein Bild vom Klimawandel macht. Es war allen bewusst, dass die Logistik am Konferenzort und in der Stadt chaotisch sein würde. Einige brasilianische Teilnehmer haben das in diesen Tagen bestätigt. Aber es sollte eben die “andere“ COP werden: nach zwei COPs in der arabischen Welt, eine am Amazonas und nicht im klassischen Brasilien: Rio de Janeiro, Brasília oder São Paulo.

“Anders“ als sonst – und das wird den Erfolg dieser COP 30 ausmachen – , weil nicht nur die “Spitze des politischen Eisberges“ teilnimmt, sondern parallel die Cúpula dos Povos (der Volksgipfel) stattfindet, also die sechs Siebtel des Eisberges, die die Weltöffentlichkeit nicht wahrnimmt, die aber die Hauptlast der sozialökologischen Lasten tragen und das grösste Engagement für die Bewahrung des Gemeinsamen Hauses aufbringen: indigene und schwarze Bevölkerungen, Landarbeiter, Peripheribewohner der Megastädte sowie die vielen Movimentos Populares (Volksbewegungen).

Wer in den Globalen Süden fährt, dem ist bekannt, dass dort nicht alles bzw. nichts ist wie im Sauerland oder in einem der schönsten Länder der Erde. Da gibt es viele hässliche Realitäten, die in die Augen fallen. Aber ein kritischer Mensch, ausser die anderen zu kritisieren, könnte sich ja auch fragen: Haben wir Deutschen bzw. “Wir-Erste-Welt“ vielleicht etwas dazu beigetragen? Stichwort: Was hat VolksWagen in São Paulo und am Amazonas zur Diktaturzeit gemacht? Wie ist BAYER mit dem Agrobusiness verschmolzen? Wieviel Soja und Tropenholz wird von Deutschland importiert? Niemand darf vergessen, dass auf Lateinamerika bis heute eine 500-jährige Kolonialgeschichte lastet…

Es liegt daher nahe anzunehmen, dass jeder Staatsmann sein Stadt- und Weltbild gemäß seiner politischen DNA formt, die wiederum von seiner sozialen Herkunft und seinen Werten geprägt werden:

Herr Friedrich Merz ist bekannt für seine sauerländische Tradition und Heimatliebe, aber seine Wirtschaftsader schlägt stärker durch. Was hat der Bundeskanzler auf dem Handelskongress über die COP in Brasilien gesagt? Nur, dass er froh war, wieder weg zu sein, oder hat er sich auch über die Relevanz des Regenwaldes für Deutschland geäussert und deswegen auch die Notwendigkeit, am Lieferkettengesetz streng festzuhalten?

Inácio Lula da Silva, emigrierte als armer Jugendlicher mit seiner Mutter nach São Paulo, auf der Suche nach Arbeit und Brot, wurde in der Metallindustrie Gewerkschaftler, gründete die Arbeiterpartei und im 4. Anlauf schaffte er es, zum Präsidenten gewählt zu werden (2002). Nach mehr als 500 Tagen in Gefängnishaft, wurde er Ende 2022 zum 3. Mal gewählt. Er ist kein Heiliger, denn er betreibt eine ambivalente und widersprüchliche Politik, die sowohl der kapitalistischen Wirtschaft, als auch den sozial Schwachen dienen soll. Er fordert vom reichen Norden Milliarden von Dollar zum Schutz des Regenwaldes, treibt aber gleichzeitig die Ölförderung an der Amazonasmündung voran.

Der Klimawandel nimmt nicht (mehr) Platz 1 auf unseren Tagesordnungen ein. Darum ist es für mich wieder hoffnungsvoll, “positive Beispiele“ zu kennen. Vor allem in diesen Tagen der COP 30 zirkulieren beeindruckende Beiträge in den deutschen Medien:

  • ZDF WISO (10/11/2025): Expedition Amazonas – Die Zerstörung des brasilianischen Regenwaldes. Die Reportage zeigt die Bedeutung des Amazonas für Deutschland, und berichtet u. a. von der einer deutschen Professorin aus Leipzig, die seit 13 Jahren Klimauntersuchungen dort betreibt.
  • ARD Weltspiegel (24/11/2024): Brasilien – Bäume statt Rinder.
  • ARD Tagesthemen (16/11/2025): Der Bundesminister für Umweltschutz, Carsten Schneider, der vor den offiziellen Verhandlungen in den Regenwald geht und mit den Menschen vor Ort spricht.

Abschließend möchte ich klarstellen, dass mit “2 Sauerländer in Brasilien“ nicht gemeint ist, dass der eine „gut“ und der andere „weniger gut“ ist, sondern dass alles auf der Welt miteinander verbunden ist: unsere Worte und Taten bzw. Unterlassungen, unsere Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, unsere Wälder und Wassersysteme, unsere Wirtschaftsysteme und unsere CO² Emissionen. Nur gemeinsam können wir uns vor dem Klimakollaps retten; gemeinsam müssen wir uns um die wahre und einzig mögliche Ökologieumkehr bemühen; und die gelingt nicht in erster Linie mit viel Geld und Technik, das sind “nur“ Mittel, sondern durch eine Änderung unserer Mentalität, unserer Paradigmen! Hinterlassen wir auf unserem Weg durch die gegenwärtige Geschichte ein Zeugnis großzügiger Verantwortlichkeit!

Ich [bin] überzeugt, dass der Beitrag von Bundeskanzler Merz zur COP 30 erfolgreich war, denn er hat noch einmal den Finger in die Wunde gelegt, indem er die Spannungen und Herausforderungen zwischen dem Globen Süden und Norden in den Fokus gestellt hat.

Mit sozialökologischen Grüssen aus dem Gastgeberland der COP 30!

Br. Johannes Gierse, Franziskaner

Bacabal/Brasil, am 20. November 2025

Kontakt: johannesjoachimgierse@gmail.com

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