Bildungsanstalt Schule: Wir brauchen einen Paradigmenwechsel

Detlef Träbert, Bundesvorsitzender AHS (foto: träbert)
Detlef Träbert, Bundesvorsitzender AHS (foto: träbert)

Die UN-Behindertenrechtskonvention wurde 2009 auch von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet. Sie verlangt ein inklusives Schulsystem, in dem behinderte und gesund Kinder gemeinsam nach ihren individuellen Bedürfnissen unterrichtet werden. Die Wirklichkeit in Deutschland hinkt den formulierten Zielen weit hinterher. Neben den sogenannten „normalen“ Schulen existieren immer noch die Förderschulen (früher: Sonder- oder Hilfsschulen genannt), in denen Kinder mit Behinderungen separat unterrichtet werden.

Zum Thema Schulsystem und Inklusion habe ich mit dem Bundesvorsitzenden der Aktion Humane Schule(AHS), Detlef Träbert, gesprochen.

? Herr Träbert, in einem Satz,  was ist die Zielsetzung der AHS?

! Seit 1974 setzen wir uns für mehr Menschlichkeit in den Schulen ein.

? Ist unser Bildungssystem, sind unsere Schulen, denn wirklich inhuman?

! Das System ist unmenschlich, nicht der einzelne Lehrer. Unser Bildungssystem geht sowohl mit Schülern als auch mit Lehrern unmenschlich um.

? Was würden sie sofort ändern, wenn Sie heute die Wahl und die Macht zur Umsetzung hätten?

! Ich würde die Ziffernnoten von der ersten bis zur achten Klasse abschaffen, inklusive Schulen einrichten und die Drei- bzw. Fünfgliederigkeit unseres Schulsystems überwinden.

? Was verhindert die Umsetzung dieser Vorstellungen?

! Darauf könne auch die gelehrtesten Forscher keine schlüssige Antwort geben. Vielleicht ist es die deutsche Kleinstaaterei. Andere Länder sind da schon viel weiter. Ich denke an Skandinavien, Kanada, aber auch an Großbritannien.

? Welche Hilfe waren und sind PISA und die Schulinspektionen im Hinblick auf die Verbesserung der Schulen?

! Vorweg: Ich habe nichts gegen Evaluationen. Bei den Schulinspektionen handelt es sich allerdings um eine externe Evaluation, die sehr viel „Schein“ an den Schulen erzeugt, es wird viel getrickst. PISA erhöht zwar den Druck, bindet aber auch viel Energie. Ich bin skeptisch, ob PISA überhaupt Leistung verbessern kann. Unsere Schulen werden PISA-kompatibel und nicht Menschen-kompatibel gemacht.

? Stichwort Inklusion. Wie soll das gehen? Wie sollen Lehrerinnen und Lehrer auch noch geistig und körperlich behinderte Kinder in ihren Klassen betreuen? Die materielle und personelle Austattung der Schulen ist doch heute schon für die „normalen“ Schüler nicht ausreichend? Wie wollen Sie Inklusion an der Basis vermitteln?

! So dürfen Sie nicht denken. Wir brauchen in unserem Bildungssystem einen Paradigmenwechsel. In Italien und auch in den Skandinavischen Ländern gibt es beispielsweise keine Förderschulen. Wir müssen Abschied nehmen von einer Denkweise, von einem System, das eine Messlatte für alle auflegt. Bildungsziele müssen für jeden einzelnen Schüler individuell formuliert werden, um jeden soweit wie möglich zu bringen. Diese Weg sind unterschiedlich, weil Kinder unterschiedlich sind. Gleichmacherei tötet die Motivation.

*Zur Person: Detlef Träbert ist Diplom-Pädagoge. Der heute 57-Jährige ist seit zehn Jahren Bundesvorsitzender der Aktion Humane Schule(AHS). Er hat 18 Jahre lang als Lehrer an Grund- und Hauptschulen in Baden-Württemberg gearbeitet und neben dem Beruf ein zusätzliches Pädagogik-Studium absolviert. Träbert, der auch die Vaterrolle aktiv gespielt hat, wohnt in Niederkassel bei Köln und arbeitet heute hauptberuflich als Vortragsreferent, Fortbildner und Autor im schulpädagogischen Feld: www.schulberatungsservice.de

4 Gedanken zu „Bildungsanstalt Schule: Wir brauchen einen Paradigmenwechsel“

  1. PISA wird als Vorwand genutzt, um Verlage und Privatunternehmen Zugang zum Bildungssektor zu ermöglichen. In den verkürzten G8 Jahrgängen in NRW wurde der Unterricht in allen Fächern, außer in Sport, gekürzt. Ein riesiges Sparpaket, als Reform verkleidet. Für Wiederholen und Üben des umfangreichen Stoffes bleibt kaum Zeit. Die Anforderungen an Eltern sind weiter gestiegen, immer mehr Kinder erhalten Nachhilfeunterricht. Ein riesiger Markt, der nicht auf seine Qualität hin überprüft wird.

    Unser Bildungssystem ist mit seiner Selektion und Gliederung gnadenlos veraltet. Es stammt aus dem vorletzten Jahrhunder und ist heute leider entsprechend anachronistisch. Doch statt einer Reform im Sinne einer Verbesserung des Bestehenden werden die Daumenschrauben angezogen: Kinder werden immer früher eingeschult, der Schultag wird verlängert, die Inhalte werden verdichtet. Die Struktur aber bleibt und die Inhalte werden nicht auf die altersmäßigen Fähigkeiten der Kinder abgestimmt.

    Dadurch sind die Schulen – und das gilt für alle Schultypen – immer weniger in der Lage, an die Interessen, Fähigkeiten und Neigungen der Schüler anzuknüpfen. Der Gedanke, dass Schulen dies durchaus sollten, spielt im momentanen bildungspolitischen Diskurs kaum eine Rolle. Stattdessen geht es um Qualitätsanalyse, -kontrolle, Lernportfolios, Kriterienraster, Implementation und Evaluation. Begriffe und Überlegungen aus der Pädagogik sucht man vergebens. Das ist die Sprache und die Denkweise des Managements.

  2. Ich bin gespannt, ob die neue Regierung die Kopfnoten wieder abschafft. Das müsste den Grünen eine Herzensanliegen sein. Die Konferenzzeiten, die in den NRW-Schulen für die Feststellung der Kopfnoten verbraucht werden, sind verschwendete Arbeitskraft der Lehrer. Die sollten sich in dieser Zeit lieber auf den Unterricht vorbereiten. Kopfnoten sind Vernichtung von Humankapital. Diejenigen Lehrer, die inzwischen Spaß an dem neuen Folterwerkzeug gefunden haben, sollten mindestens 1x pro Woche evaluiert werden. Im Übrigen ist ein Schüler, der auf Grund chaotischer Heftführung und ansonsten fehlender Organisation den Stoff nicht bewältigt und mangelhafte Leistungen erzielt, doppelt bestraft, wenn er noch eine miese Kopfnote erhält. Die Kopfnoten müssen weg!!!

  3. Für Zeugniskonferenz und Kopfnoten darf die Schule einen ganzen Tag in Anspruch nehmen. Der Elternsprechtag hingegen muss am Nachmittag stattfinden, dafür darf kein Unterricht ausfallen. Wer kann mir das erklären?

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