„Haha… an die Buddenbrooks habe ich mich noch nicht getraut, das ist quasi der Endgegner.“
„Mein Endgegner wäre der Zauberberg. Den habe ich schon ein Mal entnervt zur Seite gelegt. Kann mich nicht erinnern, wie weit ich damals gekommen bin.“
Der 150. Geburtstag von Thomas Mann hat uns in den sozialen Medien zu Enthüllungen und Geständnissen getrieben. Die Scham ist vorbei. Endlich kann es raus. Die bürgerliche Bildung ist Jahrzehnte lang nur Fassade gewesen. Buddenbrooks, Zauberberg – nicht geschafft.
„Sie stehlen meine Löffel, meine silbernen Löffel, das ist passiert, Wunderlich, und ich gehe in die Trave!“
Meine Endgegner sind nicht die Buddenbrooks, sondern der Zauberberg, Ulysses (Joyce) und die U.S.A. (Dos Passos); ich will auch Uwe Johnsons Jahrestage nicht unterschlagen.
Wenigstens die Buddenbrooks habe ich gelesen. Lang ist es her und vieles ist vergessen. In ein paar Wochen geht’s nach Lübeck. Dann sollen sie wieder frisch im Gedächtnis sein.
„Zum Sommer, im Mai vielleicht schon, oder im Juni, zog Tony Buddenbrook immer zu den Großeltern vors Burgtor hinaus, und zwar mit heller Freude.“
Und wer ist euer/eure Endgegner*in?
Irgendwann habe ich zufällig die Talkshow „DAS!“ im ndr gesehen, als Prof. Roland Kaehlbrandt sein Buch „Deutsch – eine Liebeserklärung. Die zehn großen Vorzüge unserer erstaunlichen Sprache“ promoten durfte. War zumindest so interessant, dass ich in eine Buchhandlung gegangen bin, und einen Blick hineingeworfen habe. Nach dem Zufallsprinzip – mache ich immer so –, einfach aufschlagen und …
exakt da bespricht Kaehlbrandt mein absolutes Hassbuch:
„Der Zauberberg“ !
aber auch das kann Kaehlbrandt noch toppen:
„seraphische Gleisnerei“ !
wie großartig Thomas Mann damit die Möglichkeiten der Deutschen Sprache ausschöpft ! (sinngemäss, eher noch mehr Bewunderung für das Genie Thomas Mann)
–
mmh, was bedeutet denn eigentlich „seraphische Gleisnerei“ ?
Ich weiß es, ich habe den Müllberg gelesen.
Viel Erfolg beim Distinktionsgewinn mit Thomas Mann !
P.S.: während der verzweifelten Suche nach der Bedeutung von „seraphische Gleisnerei“ Madeleines essen:
dann kann man zumindest mit Recht behaupten, dass man sich stark in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ eingefühlt hat !
https://de.wikipedia.org/wiki/Madeleine_(Gebäck)#Madeleine-Effekt
Es ist interessant, dass meist Männer literarische Bücher schreiben, die viele Leser*innen nur mit viel Mühe und Überwindung verdauen können. Vielleicht sollten Mann und Frau es dann einfach lassen und Bücher lesen, auf die sie Lust haben und die ihnen gefallen.
… vielleicht ist ja dieses Buch einer Frau etwas:
„Das Kunstseidene Mädchen“ von Irmgard Keun
Irmgard Keun schildert das Leben der achtzehnjährigen „Doris“, ein Leben, das von Männern bezahlt wird. Doris hat das Unglück, sich in einen Mann zu verlieben, der ihre Liebe nicht erwidert, und weiter von seiner Ex schwärmt, S. 171:
–
„Und: »Meine Frau konnte singen so ganz hoch und hell.«
Sing ich – – – das ist die Liebe der Matrosen – wunderbarstes Lied, was man hat.
»Schubert«, sagt er. Wieso? »Gesungen hat sie, wie Schubert komponiert hat.« Das ist die Liebe der Matrosen – ist vielleicht ein Dreck, so’n Lied, was? Was heißt Schubert, was besagt er? Das ist die Lie – aus dem Leben gegriffen ist das – wie meine Mutter bei richtigen Kinostücken sagt.
Und habe sein Bett gemacht.“
–
Das Lied, das Doris singt:
„Das ist die Liebe der Matrosen!
Auf die Dauer, lieber Schatz, ist mein Herz kein Ankerplatz.
Es blühn an allen Küsten Rosen,
und fur jede gibt es tausendfach Ersatz, gibt es Ersatz!
Man kan so süß im Hafen schlafen,
doch heißt es bald auf Wiedersehn!
Das ist die Liebe der Matrosen,
von dem kleinsten und gemeinsten Mann bis rauf zum Kapitän.
(…)“
Wo wir inzwischen bei Büchertipps angekommen sind, hier sind einige starke Autorinnen des 21. Jahrhunderts:
Helga Schubert, Cornelia Funke, Margaret Atwood, Isabel Allende, Chimamanda Ngozi Adichie, Siri Hustvedt, Bernardine Evaristo… Die Liste ist nur ein kleiner Ausschnitt. leider fallen mir nur wenige deutschsprachige Autorinnen ein. Meine Endgegnerin: Herta Müller.
„La casa de los espíritus“ ist „Kitsch“ – keine Ahnung, warum das veröffentlicht wurde, half da vielleicht der Name der Autorin?
was ist für Dich „Kitsch“?
Bitte nicht bei wikipedia abschreiben. Danke!
Es “ dauerte (…) Jahrzehnte, bis ich die Anerkennung erhielt, die jeder männliche Autor in meiner Situation für selbstverständlich halten würde.(…) Nachdem zwanzig Bücher von mir erschienen und in mehr als vierzig Sprachen übersetzt worden waren, sagte ein chilenischer Schriftsteller (…), ich sei keine Schriftstellerin, sondern eine Schreibtante. Carmen Balcells
fragte ihn, ob er etwas von mir gelesen hätte, worauf sich seine Meinung stütze, und er antwortete, das würde er nie im Leben tun.“
Isabel Allende, 2022
… Fortsetzung des Kommentars vom „28. Juni 2025 um 13:52 Uhr“, oben:
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„Das Kunstseidene Mädchen“ ist nicht nur eine Leseempfehlung, sondern steht auch für:
„Asphaltliteratur“ vs. „Weltliteratur“
Irmgard Keun vs. Thomas Mann
„U“ vs. „E“:
die ausgewählte Textstelle aus „Das Kunstseidene Mädchen“ mit:
„Die Liebe der Matrosen“ vs. „Schubert“ (siehe oben)
ist der gelebte Gegensatz von „U“ zu „E“ – Zitat wikipedia:
„.Bei der Aufteilung von Musik in E- und U-Musik – ernste Musik und Unterhaltungsmusik – handelt es sich um ein Klassifikationsschema zur Bewertung von musikalischen Phänomenen. (…) E-Musik ist eine Abkürzung für die sogenannte „ernste“ (zeitweilig auch „ernst zu wertende“) Musik. Mit dieser E-Musik gleichgesetzt wurde die ‚Kunstmusik’, was gleich bedeutend war mit ‘klassischer Musik’.“
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So klingt „Asphaltliteratur“ – „Doris“, das „kunstseidene Mädchen“, sagt selber, wie sie schreiben will:
„Und ich denke, daß es gut ist, wenn ich alles beschreibe, weil ich ein ungewöhnlicher Mensch bin. Ich denke nicht an Tagebuch – das ist lächerlich für ein Mädchen von achtzehn und auch sonst auf der Höhe. Aber ich will schreiben wie Film, denn so ist mein Leben und wird noch mehr so sein. (…) Und wenn ich später lese, ist alles wie Kino – ich sehe mich in Bildern.“
„Und es wird mir eine Wohltat sein, mal für mich ohne Kommas zu schreiben und richtiges Deutsch – nicht alles so unnatürlich wie im Büro“
„Und habe mir ein schwarzes, dickes Heft gekauft und ausgeschnittne weiße Tauben draufgeklebt und möchte einen Anfang schreiben: Ich heiße somit Doris und bin getauft und christlich und geboren. Wir leben im Jahr 1931. Morgen schreibe ich mehr.”
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und so tönt „Weltliteratur“ – die „SERAPHISCHE GLEISNEREI“ im Zitat aus „Der Zauberberg“:
„Die reinigende, heiligende Wirkung der Literatur, die Zerstörung der Leidenschaften durch die Erkenntnis und das Wort, die Literatur als Weg zum Verstehen, zum Vergeben und zur Liebe, die erlösende Macht der Sprache, der literarische Geist als edelste Erscheinung des Menschengeistes überhaupt, der Literat als vollkommener Mensch, als Heiliger: – aus dieser strahlenden Tonart ging Settembrinis apologetischer Lobgesang. Ach, aber auch der Widersacher war nicht auf den Mund gefallen, er wußte das englische Halleluja durch schlimme, glänzende Einwände zu stören, indem er sich zur Partei der Erhaltung und des Lebens schlug gegen den Geist der Zersetzung, welcher sich hinter jener SERAPHISCHEN GLEISNEREI verberge. Die Wunderverbindung, von welcher Herr Settembrini tremoliert habe, hieß es nun, laufe auf nichts als Trug und Gaukelspiel hinaus, denn die Form, die der literarische Geist mit dem Prinzip der Untersuchung und Trennung zu vereinigen sich rühme, sei nur eine Schein- und Lügenform, keine echte gewachsene, natürliche, keine Lebensform.“
Für wen schreibt Thomas Mann das?
Bertolt Brecht nannte Mann einen „regierungstreuen Lohnschreiber der Bourgeoisie“.
Ein paar Zitate ohne eigene Argumente zusammenklauben, so dass sie zum eigenen Vorurteil passen – fertig ist der Großkommentar.
Mann hat sich vom Reaktionär ab ca. 1922 zum Demokraten und später scharfsinnigen Antifaschisten entwickelt.
Lesetipp: Neuausgabe Deutsche Hörer!
Oder: Kai Sina, Was gut ist und was böse
@ zoom
„Mann hat sich vom Reaktionär ab ca. 1922 zum Demokraten und später scharfsinnigen Antifaschisten entwickelt.“
und wo sind die Argumente, die das belegen? Sehe ich nicht.
„Vorurteil“: Ich habe Thomas Mann gelesen, sowohl den „Zauberberg“ als auch „Buddenbrooks“. Und noch dies und das andere. Manns Radioansprachen „Deutsche Hörer“ habe ich auch kurz gecheckt, ich verstehe nicht, wie man das beeindruckend finden kann.
„Ein paar Zitate ohne eigene Argumente zusammenklauben“
die Zitate sind nicht „zusammengeklaubt“, sondern erstens sinnvoll zusammengestellt, und zweitens im Fall von Thomas Mann in „Handarbeit“ abgeschrieben, es gab sie bisher wohl nicht als kopierbaren Text im internet: dieses Blog hat jetzt ein Alleinstellungsmerkmal für „SERAPHISCHE GLEISNEREI“ – aber egal, wer will schon, dass dieses Blog gelesen wird?
„Manns Radioansprachen „Deutsche Hörer“ habe ich auch kurz gecheckt, ich verstehe nicht, wie man das beeindruckend finden kann.“
Lesen hilft dir vielleicht weiter. Ich habe die Reden mehrfach gelesen. Kann ich nur empfehlen.
Kai Sina zeichnet in seinem Buch die Entwicklung des politischen Thomas Mann nach. Sehr hilfreich.
Für reisefreudige Menschen gibt es noch eine Ausstellung zum politischen Thomas Mann im St. Annen Museum Lübeck. Ebenfalls empfehlenswert.
Für ganz Eilige: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1192671.thomas-mann-kai-sina-drastisch-und-deutlich.html
@ zoom
„Lesen hilft dir vielleicht weiter.“
ich habe gerade das völlig verrückte Gefühl, dass das irgendwie überheblich klingt. Liegt vielleicht daran, dass ich nicht lesen kann?
Aber macht ja nichts, wer nicht lesen kann, der kann doch einfach hören.
Und das auch noch für lau:
„ARD
Thomas Mann: „Deutsche Hörer!“ Ausgewählte BBC-Ansprachen 1941 bis 1945 (1/3)
Thomas Mann Jubiläum: Meisterwerke als Hörbücher · 01.06.2025 · 20 Min.“
https://www.ardaudiothek.de/episode/urn:ard:episode:e23bf941d047aca3/
Da bekommt man einen Eindruck, wie Thomas Mann im Original tönt. Ich sag dazu nichts mehr. Kann jeder selber entscheiden.
„Da bekommt man einen Eindruck, wie Thomas Mann im Original tönt. Ich sag dazu nichts mehr. Kann jeder selber entscheiden.“
Der Ton wird über Langewelle gesendet; nicht ungewöhnlich. Es kommt auf den Inhalt an. In der Tat lese ich lieber. Die neue Ausgabe von Deutsche Hörer! mit mit einem Vorwort und einem Nachwort von Mely Kiyak lohnt sich.
BTW: Wo und in welchem Zusammenhang äußert sich Bertolt Brecht mit den von dir angeführten und mit Zitatstrichen versehenen Worten über Thomas Mann. Gibt es da eine belastbare Quelle in Brechts Werken, Briefen etc.?