Rezension: ‚Da drin ist es mir zu laut!‘ Schulgeschichten von Reinhold Miller

Schulgeschichten
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„Da drin ist es mir zu laut!“ heißt die 84-seitige Broschüre mit Schulgeschichten, erzählt von Reinhold Miller.  Der Autor ist pensionierter, passionierter und promovierter Pädagoge und er berichtet aus dem Schulalltag.

Das Heft versammelt kleine, unterhaltsame Geschichten, die er in seiner langjährigen Berufstätigkeit erlebte und die den Blick auf die Beziehungen der an Schule Beteiligten öffnen sollen. Im Vorwort bekennt Miller: „Am meisten habe ich von den Kindern und Jugendlichen gelernt. Ihnen gilt mein besonderer Dank.“

Millers Ziel ist ein menschliches Miteinander, die gegenseitige Achtung, die Begegnung auf Augenhöhe. Schüler, Lehrer und Eltern, diesen drei Gruppen widmet er sich in seiner Broschüre.

Die Geschichten „Über Kinder und Jugendliche“ stehen unter dem Motto „Verstehen und verstanden werden“. Die unterhaltsamen Texte sind Momentaufnahmen aus dem Schulalltag und gleichzeitig stehen sie stellvertretend für stets wiederkehrende Situationen und Begegnungen. Hier ein Beispiel:

2. Klasse
Die Katze war das Thema in den letzten Stunden.

Nun will der Lehrer die Wahrnehmungsfähigkeit
und das Wissen der Kinder überprüfen.

Er gibt ihnen ein Arbeitsblatt, auf dem eine Katze
abgebildet ist – ohne Schwanz.

Darunter die Frage:
Was fehlt der Katze?

26 Kinder notieren ihre Antwort auf das Blatt,
25 davon schreiben: ein Schwanz.

Marlies jedoch hat geschrieben:
ein Schälchen Milch.

Als sie es vorliest, lacht niemand.

Ein kollektives Nachdenken hängt im Raum.

Nicht einmal der Lehrer hat diese Antwort erwartet.
* * * * * * * * * *
Die Welt der Menschen
ist voller Wahrnehmungen,
Ideen, Fantasien und Deutungen.
Auch die Welt in der Schule… (S. 10)

Miller fordert die Lehrer auf, die Vielfalt des Denkens, der Wahrnehmung, der Erfahrung und Empfindungen  von Schülern zuzulassen und als Bereicherung zu begreifen. Der erfahrene Autor pädagogischer Bücher und Hefte  erzählt jedoch auch schlimme Geschichten von zynischen Lehrern. Hier Pauls Erlebnis:

2. Klasse
Der achtjährige Paul gibt sich große Mühe
beim Schreiben.

Seine Zunge spitzt durch die Zahnreihe,
sein Kopf hängt über dem Blatt Papier,
seine Nase ist fast auf gleicher Höhe
wie sein Schreibstift.

Mehrmals geht der Lehrer an ihm vorbei,
sieht nur seine falsch geschriebenen Wörter
und verbessert sie mündlich,
streng in der Stimme.

Bei der nächsten Runde bemerkt er,
wie Paul vor sich hin schluchzt –
und sagt darauf zu ihm:

Musst nicht heulen,
es lohnt sich bei dir sowieso nicht.
* * * * * * * * * *
Wie es wohl Pauls Seele durch
diesen verbalen Killer ergeht? (S.12)

Das ist so fies. Aber wer kennt nicht diese gemeinen, verletzenden Sprüche von Lehrern, die einem ewig im Gedächtnis bleiben? Sie haben halt so tief getroffen. Und dagegen schreibt Miller an, er möchte eine andere, eine menschlichere Schule. Er erzählt Geschichten aus allen Altersstufen und jede für sich regt zum Nachdenken an.

Von Schülern, die sich nicht alles gefallen lassen, handelt diese Geschichte:

12. Klasse
Keine Frage, als Fachmann für Deutsch und Englisch ist
Herr O. Experte.
Als Lehrer ist er gefürchtet – und seinen ironischen und
abfälligen Bemerkungen, seinen Bloßstellungen ist
niemand gewachsen.

Interventionen seitens der Schulleitung, der Eltern und
der Schulbehörde nutzen nichts. Noch immer kann er sich
an der Schule halten.

Bis eines Tages die beiden Klassensprecher einen
externen Beratungslehrer um Hilfe bitten…

Wieder einmal eine Unterrichtsstunde mit Herrn O.,
in der er ausfällig wird.

Plötzlich stehen alle Schülerinnen und Schüler auf,
packen ihre Sachen zusammen und verlassen schweigend
das Klassenzimmer.
* * * * * * * * * *
Wenn man den anderen nicht ändern kann,
so kann man sich und die Umstände ändern. (S.44)

Wenn die Schüler sich einig sind, dann können sie viel bewegen. Eine wichtige Erfahrung.

Ein weiteres Kapitel widmet Reinhold Miller den Lehrerinnen und Lehrern. Er empfielt klare Grenzen, genaue Absprachen, Offenheit und Ehrlichkeit. Er berichtet von  erfüllten und unerfüllbaren Erwartungen. Im Umgang mit Antipathien von Lehrern gegenüber Schülern läßt er eine Lehrerin das ‚Umdeuten‘ vorschlagen:

XIV
Ich hab ein paar in der Klasse,
die sind mir so richtig unsympathisch,
stöhnt Frau L.
Was soll ich bloß mit denen anfangen?

Bewertungen ändern und umdeuten,
meint daraufhin eine Kollegin.

Und wie mache ich das?

Indem du hinter die unsympathischen Verhaltensweisen
guckst:
Hinter der Überheblichkeit vielleicht die Unsicherheit
siehst,
hinter der Arroganz vielleicht die Hilflosigkeit,
hinter der Süffisanz vielleicht die eine oder andere Angst,
hinter der Kaltschnäuzigkeit die Not…
* * * * * * * * * *
Umdeuten bringt Verstehen,
Verstehen erleichtert den Zugang,
Zugänge eröffnen Begegnungen. (S.63)

Der letzte Teil der Schulgeschichten handelt von Müttern und Vätern. Es gelingt Miller in wenigen kurzen Texten, einen ganzen Fächer von Problemen im Verhältnis von Eltern auf der einen und Lehrern/Schule auf der anderen Seite zu entfalten:
Die Angst des Deutschlehrers vor dem Vater mit Germanistikprofessur, die Angst der Eltern vor dem Scheitern der eigenen Kinder. Miller nennt jedoch auch Beispiele für Offenheit: Ein qualifizierter Vater bietet sich an, Vertretungsunterricht zu erteilen und – was fast noch erstaunlicher ist – es kommt dazu.

In der folgenden Geschichte geht es um Ängste,  die Eltern verstummen lassen:

IV
Wieder einmal gibt es Beschwerden in der 6. Klasse
über einen Lehrer.

Vor dem Elternabend findet ein heftiger Disput statt.
Während der Versammlung wird über alles Mögliche
gesprochen, nur nicht über den Konflikt.
Anscheinend wagt es niemand von den Eltern,
das Thema zur Sprache zu bringen.

Einem Freund gegenüber äußern sich die
Elternvertreter:

Wir haben Angst, dass der Lehrer unsere Kritik
in den falschen Hals bekommt und seinen Ärger
dann an unseren Kindern auslässt.

Das war doch früher bei uns auch so
und ist heute nicht anders.
* * * * * * * * * *
Die Angst der Eltern vor den Lehrern,
die Angst der Lehrer vor den Eltern:
Die gemeinsamen Ängste
als Gesprächsanlass! (?)
(S.75)

Mein Fazit: Die Geschichten von Reinhold Miller geben viel Stoff zum Nachdenken und sie können enorm ermutigen. In Zeiten, in denen an den Schulen das Wort Pädagogik  durch Begriffe wie Qualitätsanalyse, Qualitätsmanagement, Kompetenzerwerb und Controlling ersetzt wird, ist es  erfrischend und motivierend Texte zu lesen, die wieder die dort agierenden Menschen und ihr Miteinander in den Mittelpunkt stellen.

Die Broschüre enthält zahlreiche kurzweilige und bewegende Geschichten, sodass alle an Schule Interessierten dort Anregungen finden können. Eine sehr empfehlenswerte Lektüre für SchülerInnen, LehrerInnen, Mütter und Väter.

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Verfasser Dr. Reinhold Miller ist Autor zahlreicher Bücher, Beziehungsdidaktiker, Lehrerfortbildner, Schulberater, Kommunikationstrainer und Coach.

Die Broschüre „Da drin ist es mir zu laut! Schulgeschichten“ kostet
€ 5,- je Expl. (zzgl. Versand) und kann bestellt werden bei:

Bundesverband Aktion Humane Schule e.V.
Rathausplatz 8 – 53859 Niederkassel
E-Mail: ahs@aktion-humane-schule.de
Tel.: 0 22 08 / 90 96 89, Fax: 90 99 43
Internet: www.aktion-humane-schule.de

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