7. Mai 2016. Zunächst einmal bitte ich um Verständnis, dass ich mich erst jetzt, nach einer Woche, äußere. Prinzipiell finde ich nämlich, dass die Diskussion über einen Artikel nicht vom Autor dominiert werden sollte.
(Ein Gastbeitrag von Dr. Werner Jurga)
Ja, ich weiß: ich habe bereits einen Kommentar abgegeben – dabei handelte es sich aber eher um eine kurze und entsprechend schnoddrige Bemerkung zum Eröffnungsbeitrag von Meier, von dem ich mich in seiner unbedarften Mischung aus Aggressivität und Naivität wohl provoziert sah. Fortan gelobte ich mir mehr Zurückhaltung. Nun hat mich aber der Webmaster höchstpersönlich gebeten, „zu der Einschätzung Notwehr-Vorsatz vielleicht noch mal etwas zu sagen“.
Damit hatte zoom mich ein wenig auf dem falschen Fuß erwischt, und zwar aus zwei Gründen. Es handelt sich nämlich, auch wenn mir dies mancher unterstellen mag, keineswegs eine taktisch motivierte, aber letztlich doch konsequenzenlose Selbstdistanzierung, wenn ich voranstelle, dass „die Unschuldsvermutung gilt. Niemandem steht es an, auch mir nicht, öffentlich in die Rolle des Richters schlüpfen.“ Das ist der erste Grund. Ich räume ein, er sieht auf den ersten Blick vorgeschoben aus, weil dann ein ganzer Absatz folgt, der diesem vornehmen Anspruch nicht gerecht zu werden scheint. Er beginnt mit dem deutlich Satz: „Das, was in der Nacht von Montag auf Dienstag im sauerländischen Neuenrade passiert ist, war keine Notwehr…“ und endet mit der Schlussfolgerung, dass „…die Staatsanwaltschaft Hamm wegen Mord ermitteln (müsste)“.
Ich fühle mich ein wenig auf dem falschen Fuß erwischt, weil hier ja wirklich ein Widerspruch vorliegt. Kein nur scheinbarer Widerspruch, sondern ein echter. Wer nun den Verdacht hegen sollte, ich wolle mich aus dieser misslichen Lage mit einem dialektischen Taschenspielertrick rauswinden, dem kann ich versichern, dass dem nicht so ist. Glaubhaft, wie ich finde. Kann ich doch immerhin darauf verweisen, dass ich mich diesem hier auftretenden Problem schon vor einigen Jahren grundsätzlich, wenn auch in einem anderem Zusammenhang, gewidmet hatte. Der Beitrag trug den Titel „Sex and Drugs and Rock and Roll“ und erschien in der bemerkenswerten Online-Zeitschrift Das Blättchen, die es erfreulicherweise noch heute gibt.
Es geht um die Frage, ob das Gebot der Unschuldsvermutung einem Verbot gleichkommt, Schuld auch nur zu vermuten. Anders gefragt: wen bindet das Gebot der Unschuldsvermutung? Die Staatsanwaltschaften offenbar nicht; sonst käme ja nie eine Anklage zustande. Die Gerichte eigentlich schon… – oder aber gilt für die Strafkammern zu Beginn des Verfahrens ein Neutralitätsgebot, haben sie am Start also überhaupt nichts zu mutmaßen? Juristische Feinsinnigkeiten, um die es hier aber nicht gehen soll. Tatsächlich soll es nämlich nicht um die Justiz gehen, sondern um die Meinungsmacher, um die heutzutage recht ausdifferenzierte Medienlandschaft. Und zum Beispiel auch um die Politiker, die aus anderen, aber doch ähnlichen Motiven heraus danach streben, einen mit Volkes Stimme harmonierenden Ton zu treffen.
Sind also die Meinungsmacher im Grunde eigentlich gar keine, sondern eher im Gegenteil von ökonomischen bzw. wahlpolitischen Zwängen Getriebene, die einer Volksmeinung hinterherhecheln, die sich gleichsam naturwüchsig gebildet hat und stets aufs Neue bildet? Einem „gesunden Menschenverstand“, wie man das beispielsweise bei der AfD so nennt, auf die umständehalber noch die Rede kommen wird. Andererseits werden in öffentlichen Debatten immer wieder „Vorverurteilungen“ beklagt – häufig genug, wie ich finde, zu Recht. Eine Vorverurteilung ist das Gegenteil der gebotenen Unschuldsvermutung, gehört sich also nicht – das wusste und weiß auch heute noch jeder. Vorverurteilungen erfolgen aus den Reihen der Erzieher, um den zu Erziehenden, also dem vermeintlich dummen Volk, das aber andererseits im Grunde mit einem gesunden Menschenverstand ausgestattet ist, ein „sozial wünschenswertes“ Denken und Fühlen anzutrainieren.
So weit, so klar, so einfach. So ließe sich fragen, ob eine Schuldvermutung in jedem Fall in eine Vorverurteilung münden muss. Ich räume ein, dass mein Text vom 29. April zumindest Wege skizziert, wohin der Gedankenfluss münden könnte. Aber deshalb allein muss es nicht so laufen. Ich habe, etwa den konkreten Fall von Neuenrade betreffend, eine Schuldvermutung. Mehr noch: ich bin – auf Basis der nachzulesenden unbestreitbaren Fakten – davon überzeugt, dass der Hauseigentümer, der in besagter Nacht zum Todesschützen wurde, Schuld auf sich geladen hat. Doch diese unbestreitbaren Fakten reichen weder aus, die Situation vollständig zu beleuchten. Und selbst ein von der Kripo vollständig aufgeklärter Fall spricht aus sich heraus noch kein Urteil über das Maß der individuellen Schuld des Täters.
Wir wissen doch nicht, was mit dem Rentner in der Tatnacht los war. Wir wissen schon gar nicht, was mit diesem Mann überhaupt so los ist. Um nochmal auf den Eröffnungsbeitrag von Meier zurückzukommen, auf den ich bislang eher schnoddrig denn ernsthaft eingegangen bin: so wie Meier mir alle möglichen Sinnestrübungen unterstellt, etwa eine Holophobie (krankhaft panische, irrationale Angst vor Schusswaffen), so könnte es doch genauso gut sein, dass der Todesschütze furchtbare Dinge erlebt hatte, die wiederum bei ihm Ängste verursachten, die sich schließlich zu Phobien weiterentwickelt haben – mit der Folge gefährlicher Sinnestrübungen. Muss nicht, könnte aber sein… Wer will da den Richter spielen? So vermessen können eigentlich nur selbsternannte Volkserzieher sein, die den normalen Menschen vorschreiben wollen, wie sie zu fühlen und zu denken haben.
Das ist sowieso klar. Mir jedenfalls ist das schon sehr lange klar. Absolut klar, und es ist gewiss keine Arroganz von mir, wenn ich das so schreibe, was Sie allein schon daran ermessen mögen, dass mir eine Sache in diesem Zusammenhang überhaupt nicht klar war. Mir absolut neu ist, mich regelrecht stark irritiert, sagen wir mal: total verunsichert. Dass nämlich der Volkserzieher-Vorwurf auf mich zielen soll, dass mit den elitären Besserwissern, den ach so erhabenen Richtig- und Wichtigtuern Leute meiner Sorte gemeint sein sollen. So ist zum Beispiel Herrn Meier stark daran gelegen, „dass das Recht zur Notwehr nicht durch moralisierende Weltfremde wie die Ihre…“ Sehen Sie! Das meinte ich. Das macht mich schon leicht nervös. Noch nervöser macht mich, wie Meiers Satz weitergeht, nämlich so: „…oder unfähige Justiz kompromittiert wird.“
Hier sind wir wieder bei dem Punkt, den ich drei Absätze zuvor angesprochen hatte. Es geht um die individuelle Schuld einer einzelnen Person in einer zeitlich erfassbaren und konkret bestimmbaren Situation. Es geht nicht um ein abstraktes Recht, dass auf jeden Fall, also unabhängig etwa von einem genauen Erfassen einer konkreten Person in einer konkreten Situation, zu verteidigen wäre. Weil es nicht „kompromittiert“ werden dürfe. Eine unmenschliche Prinzipienreiterei. Hauptsache ist, dass das Rechtsprinzip nicht durch die „unfähige Justiz kompromittiert wird. Und dass der Staat endlich wieder…“ Sie mögen selbst weiterlesen, wie Meiers Ausführungen weitergehen. Ich verstehe ihn so, dass „moralisierende Weltfremde“ – wie etwa Leute meiner Sorte – „endlich wieder“ ihre Futtfinger vom Staate lassen mögen, damit das Recht zur Notwehr nicht mehr nur auf dem Papier steht, sondern „endlich wieder“ auch in der Wirklichkeit zur Geltung kommt.
Die Frage, ob nun im Einzelfall auch tatsächlich eine Notwehrsituation gegeben war – oder eben auch nicht – führt zum zweiten Grund, warum mich die Bitte des Webmasters, „zu der Einschätzung Notwehr-Vorsatz vielleicht noch mal etwas zu sagen“, auf den falschen Fuß erwischt hatte. Ich bilde mir nämlich ein, diese Sache in dem Absatz, der mit „Das, was in der Nacht von Montag auf Dienstag im sauerländischen Neuenrade passiert ist, war keine Notwehr…“ beginnt und mit der Schlussfolgerung, dass „…die Staatsanwaltschaft Hamm wegen Mord ermitteln (müsste)“, endet, einigermaßen erklärt zu haben. Wenn ich diese Darlegung hier einfach wiederholte, sähe dies, selbst wenn ich einige Wörter ersetzte und hier und da Reihenfolge und Satzbau umstellte, ein bisschen stur aus. Für die Schlauen unter Ihnen, die dahinter kämen, sähe es sogar doof aus. Will man ja auch nicht…
Aber bitte, ich gebe mir äußerste Mühe. Der Rentner hätte, nachdem seine Frau und er von den Geräuschen des Einbruches geweckt worden waren, einfach die Schlafzimmertür abschließen können, ja sollen – und die herbei phantasierte potenzielle Notsituation hätte schon rein theoretisch gar nicht entstehen können. Er hätte zusätzlich noch die 110 anrufen sollen, ja müssen. Weil doppelt gemoppelt bekanntlich besser hält, und weil man ja auch nicht will, dass Sachen wegkommen, die objektiv wertvoll sind, oder auch „nur“ – eben nicht „nur“, sondern noch schlimmer: von persönlich-emotionaler Bedeutung sind. Möglich, dass der Einbrecher davon Wind bekommen hätte und mit der Beute entkommen wäre. Nicht schön, aber immer noch besser, als eine Gefahr für die Frau, für sich selbst oder auch für den Einbrecher heraufzubeschwören. Auch wertvolle oder bedeutende Sachen können niemals so wichtig sein wie Menschen – selbst wenn diese für nicht ganz so wertvoll oder bedeutend gehalten werden.
Selbst wenn wir von der Annahme ausgingen, dass der Hausbesitzer zwar eine Pistole im, aber kein Telefon auf dem Nachttisch gehabt haben sollte, hätte es nie und nimmer zu einem Angriff des Einbrechers kommen können. Das muss man so einer Pistole lassen! Wenn der albanische Junge sich an der Schlafzimmertüre zu schaffen gemacht hätte, hilft eine Knarre einfach und schnell bei der Überwindung eventuell auftretender Sprachbarrieren. Es bräuchte viel Phantasie, auch unter diesen Umständen eine Möglichkeit für das Entstehen einer objektiv vorhandenen Notwehrsituation zu konstruieren. Nein, das ist unmöglich. Wir wissen leider, dass die Pistole in Schuss gewesen ist. Wir wissen, dass nicht der Albaner gewaltbereit zum Neuenrader gegangen ist, sondern dass es umgekehrt war. Wir können davon ausgehen, dass vieles von dem, was wir nicht wissen, die Polizei mittlerweile ermittelt haben dürfte.
War am Tatort das Licht an- oder ausgeschaltet? Hatte der Einbrecher das Messer wirklich in der Hand? Kriminalistischer Kleinkram. Wir kennen die Antworten nicht und bleiben bei dem Grundsatz in dubio pro reo, im Zweifel für den Angeklagten. Die Unschuldsvermutung. Doch von der Schuld, schon zuvor seiner Verantwortung nicht gerecht geworden zu sein, mag ich den Rentner nicht freisprechen. Wir werden sehen, ob sich ein Richter findet, der dies kann. Oder schon zuvor ein Staatsanwalt zu einem Ergebnis kommt, das nach meiner Rechtsauffassung nicht mit der, wie Meier zurecht formuliert, „vornehmsten Aufgabe (des Staates), nämlich die Gewährleistung der inneren Sicherheit“, zu vereinbaren wäre. Meier kommt aber zu einem anderen Ergebnis als ich, und er wird auch nicht umzustimmen sein. Auch deshalb hatte ich mich zu der erwähnten Schnoddrigkeit hinreißen lassen.
Denn Meier ist der konkrete Ablauf der konkreten Situation letztlich piepeschnurz. Ihm geht es nämlich gar nicht um die Frage, wer wirklich Täter und wer Opfer war. Er kennt ja schon den Tätertypen, und er kennt den Opfertypen. Wir sind schon wieder so weit, dass hier und da mal Elemente aus der in dunkler Zeit entstandenen Tätertypenlehre leicht angedeutet werden dürfen. Allerdings sind wir noch nicht ganz so weit, das dies in aller Offenheit und in aller Konsequenz geschehen könnte. Deshalb werden diese Elemente möglichst nebulös und etwas unverfänglich oder – im Krimijargon formuliert – so zum Anfüttern gereicht. Deshalb werden, um die konkrete Situation, um die es immerhin eigentlich zu gehen hat, zu verschleiern, irgendwelche Geschichten erfunden.
Geschichten über die ballistischen Eigenschaften einer Handfeuerwaffe. Geschichten von Einbrechern, die ihnen unbekannte Zimmer im Dunklen durchwühlen – mit dem Messer in der Hand. Geschichten, auf die man spontan entgegnen möchte: „Jungs, habt Ihr sie eigentlich noch alle auf dem Zaun?!“ Die aber selbstredend, obwohl etwas weit hergeholt, objektiv nicht zu widerlegen sind. Womit sie zunächst einmal auf die gleiche Stufe gestellt wären wie die mit den von mir angeführten Tatsachen. Die sind nämlich ebenfalls objektiv nicht zu widerlegen, weisen aber den Nachteil auf, weniger Fach- und Sachkunde zu verströmen. Auf dieser Basis bzw. von diesem Hochstand aus meint Meier, nach Kräften auf mich ballern zu dürfen. Appetitlich ist das nicht; es tut aber auch nicht weh.
Bedenklicher ist da schon, dass damit der Boden bereitet ist für Menschen wie Paul, der schreibt, dass Menschen wie ich ihn „immer besorgter machen“. Paul, das zeigt auch seine Kontroverse mit Paolo, ist keineswegs ein schlichtes Gemüt wie Meier, sondern in gewisser Weise eine Art Repräsentant einer Gruppe, die sich bedrängt fühlt. Bei einem wie Meier ist nichts zu machen. Der war immer so, der ist so, der wird immer so sein. Die Lage hat sich verändert. Es weht ein anderer gesellschaftlicher Wind.Gleichzeitig und irgendwie im Zusammenhang damit stehend brechen Habenichtse vom Balkan in die schönen Neuenrader Häuser ein. Der Einwand, Einbrüche habe es immer schon gegeben, zieht nicht. Seitdem diese neuen Fremden hier sind, wird mehr eingebrochen. Da braucht man ihm nichts zu erzählen, da greifen seine Reflexe. Sein Wandel ist mit der Pawlowschen Lehre erklärbar. Appetitlich ist das nicht; aber es ist letztlich auch egal.
Bei Paul dagegen geht es um etwas! Er sieht den Rechtsruck in unserer Gesellschaft und „bestätigt“ ihn. Dass er ihn in Anführungszeichen bringt, hat wohl nicht viel zu sagen. Er leugnet ihn nicht, sondern bestätigt ihn. Er ist klug genug, nicht mit dem Zeigefinger auf die Habenichtse zu zeigen. Dies würde ja einen Rechtsruck bei ihm selbst belegen. Was er zwar nicht völlig von der Hand weist. Aber Schuld dran sein mag er auch nicht. Schuld an seinem eventuell zu konstatierenden Sinneswandel müssen andere sein. Die Zigeuner (arme Säue), Araber (Ausgebombte) und Neger (sowieso schon mal) scheiden aus besagtem Grund aus. Paul gehört nämlich mit Sicherheit nicht in die rechte Ecke. Gäbe er aber diesen Fremden die Schuld, na klar, da könnte er ja gleich zu „der AfD und anderen Gruppen“ gehen. Eigentlich geht es dort aber deutlich unter seinem Niveau zu.
Es ist nämlich ziemlich primitiv, diesen Leuten Verantwortung anzudichten, mithin eine Bereitschaft zum Selbstwandel bzw. im Falle des Nichtvorhandenseins eine eigene persönliche Schuldfähigkeit. Das alles hat ja nicht einmal er! Wie sollen denn dann all diese Leute so etwas lernen können? Die sind häufig sehr ungebildet. Paul dagegen ist gebildet und doch für sein Denken und in der Folge vielleicht auch für sein Handeln nicht verantwortlich zu machen. Er wird „gedrängt in eine Ecke“, in die er „mit Sicherheit nicht hingehört“. Er kann sich nicht einmal wehren. Es sei denn, man nennt es wehren, man läuft freiwillig in die Richtung, in die einen andere drängen. Immerhin hört auch so die Drängelei auf. Und das ist schon mal gut. Nicht ganz so gut dagegen ist, dass man sich dann „am Rand wiederfindet“. Und diese Ränder, diese Fanatiker, schaden jeder Gemeinschaft, sagt Paul. Und hier würde ich ihm in diesem Punkt zustimmen.
Allerdings würde ich nicht von „Gemeinschaft“, sondern von „Gesellschaft“ sprechen, weil dem Begriff „Gemeinschaft“ eine Harmonie innewohnt, die sehr wohlig sein kann, die sich aber, wenn sie fanatisch angestrebt wird, als extrem unwohl erweisen kann. Sei´s drum. Es mag sich um eine sprachliche Überempfindlichkeit bei mir handeln und um eitle Koketterie mit derselbigen. Ich wollte es nur einmal erwähnen. Es gefällt mir nämlich auch nicht, dass Paul die Menschengruppe, in die er mich einordnet, als „Gutmenschen“ bezeichnet. Ich verstehe freilich sofort, welche Sorte Zeitgenosse er dabei im Auge hat, und fühle mich da nicht so hundertprozentig angesprochen. Ich verweise an dieser Stelle nur auf den letzten, auf meiner Homepage erschienenen Beitrag mit dem Titel „Es ist gut, dass es Greenpeace gibt“. Unabhängig von der Überzeugungskraft dieser abgrenzungsneurotischen Einlassungen erlaube ich mir zu bezweifeln, dass es sich bei diesem Milieu wirklich um den Gegenpart zu Rechtspopulisten und Rechtsextremisten handelt.
Ich stimme zu, dass dieses elitäre Gehabe mit pädagogischem Anspruch nicht nur ganz schön auf die Nerven gehen kann, sondern dort, wo es sich um nichts anders handelt als um Klassenkampf von oben, auch das gedeihliche Zusammenleben der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen gefährlich stört. Und doch mag ich auf den Hinweis nicht verzichten, lieber Paul, dass ich den Kampfbegriff „Gutmensch“ für politisch nicht korrekt halte. Regen Sie sich bitte nicht wieder auf, Paul! Mir liegt es fern, Sie als Nazi zu denunzieren, nur weil Sie einen vermeintlich von den Nazis in die Welt gesetzten Begriff verwenden würden. Solch eine Behauptung wäre ohnehin äußerst umstritten, um nicht zu sagen: falsch. Entweder waren Sie sich dieses Sachverhaltes sicher, Paul, oder aber Sie hatten keinen blassen Schimmer davon. Das spielt überhaupt keine Rolle.
In jedem Fall ist Ihnen klar, dass Sie sich eines Begriffes bedienen, der es immerhin zum „Unwort des Jahres 2015“ gebracht hat. Schließlich ist das ja gerade erstmal ein Vierteljahr her. Bernd Matthies hat aus diesem Anlass die, wie ich finde, sehr differenzierte Abhandlung „Gutmenschen, das sind immer die anderen“ im Tagesspiegel veröffentlicht, die mit dem Satz schließt: „In hohem Maße unappetitlich ist der Begriff aber ohne jeden Zweifel.“ Sie mögen diesen Aufsatz nicht gelesen haben, Paul. Aber Sie wissen, dass dem so ist. Sie machen es und setzen sich damit ganz bewusst dem Verdacht aus, sich schon jetzt in einer Ecke zu befinden, in der Sie ihren Angaben folgend gewiss nicht hingehören. Warum tun Sie das?! Und daran soll ich schuld sein? Warum?
Weil ich so ein böses Wort wie „abgeknallt“ gebrauche? Oder weil ich so gezielt ein neutrales Wort wie „18 jähriger Albaner“ einsetze? Um dann ganz diabolisch mische zu: „Der albanische Junge war völlig überrascht.“ Dabei – so schreiben Sie, Paul! – „war er der Täter und hatte den Einbruch geplant.“ Bitte Paul, Sie sind doch nicht der Dümmsten Einer! Was soll ich Ihnen denn jetzt dazu sagen?! Sie wissen doch selbst, dass Sie hier – wenn auch nicht besonders geschickt – in grob irreführender Weise die Ebene wechseln. Na klar war der Balkanese „der Täter und hatte den Einbruch geplant“. Doch darum geht es hier doch gar nicht. Es geht um Mord und Totschlag. Oder, um zum Ausgangspunkt der ganzen Debatte hier zurückzukommen: es geht um die Frage, ob sich irgendetwas zwingend vom Todesschuss bis zum Einbruch zurückverfolgen lässt, was es erlauben könnte, einen Fall von Notwehr in Erwägung zu ziehen.
Ich bleibe bei meinem Eindruck: es sieht nicht danach aus. Ich sehe es nicht. Und Sie, lieber Paul, sehen es auch nicht. Sonst würden Sie uns doch darauf hinweisen, anstatt zu versuchen, uns mit so einem billigen, ja lächerlichen Taschenspielertrick zu überrumpeln. Sie fühlen sich im Stich gelassen – von den „Gutmenschen“ und wohl gerade auch von mir. Sie bitten mich, „wieder zurückzukehren“ – wenn ich Sie richtig verstehe dorthin, wo „in verantwortungsvoller Weise mit seiner Meinung da dicke Löcher in das Brett gebohrt (werden), auf dem die Fanatisten (?) stehen“. Ja gern, Danke fürs Kompliment! Und wenn Sie mit „Fanatisten“ die Fanatischen oder die Fanatiker meinen sollten, dann sowieso. Und selbst wenn Sie an die Fantasten gedacht haben… – klare Sache: wird gemacht! Ich persönlich wäre zwar der erste, der mir einfiele, wenn ich ein Beispiel für einen guten Menschen nennen sollte…
Aber mit dieser Einschätzung stehe ich leider ziemlich allein. Was irgendwie auch verständlich ist, denn mit mir könnte man so über einiges reden. Ehrlich gesagt: man kann es sogar. Auch und gerade beispielsweise über die Flüchtlingspolitik. Oder allgemeiner:die Integrationspolitik. Und was die Politik bezüglich der Zuwanderer vom Balkan – ob nun aus EU-Staaten oder Noch-nicht-EU-Staaten – betrifft: ja, da gibt es einen ganz erheblichen Beratungsbedarf. Und Handlungsbedarf. Vermutlich würde ich dabei auch für Entscheidungen plädieren, die eher uns einigermaßen Versorgten entgegen kämen, während sie den Interessen der Armen und Schwächsten zuwiderlaufen. Dass sich unter diesen hilfsbedürftigen Fremden notwendigerweise einige Hinterfotzige und Übelmeinende befinden, macht mir die Sache auch nicht angenehmer. Aber dennoch würde es so sein müssen. Auf mich können Sie zählen.
Doch gerade weil das so ist… – Die ganze Angelegenheit ist nicht nur für mich selbst subjektiv nicht so angenehm, sondern birgt darüber hinaus objektiv ein erhebliches Risikopotenzial für die gesamte Gesellschaft in sich. Ihr Gedanke, Paul! – Gerade weil das so ist, greife auch ich auf eine Methode zurück, die in letzter Zeit schwer in Mode gekommen ist. In der internationalen Politik, in der deutschen Politik und letztens sogar bei der AfD – nämlich: eine rote Linie ziehen. Ja, das habe ich auch gemacht. Und, soll ich Ihnen verraten, wohin ich meine rote Linie gezogen habe? Ab wo man mit mir nicht mehr so gut reden, geschweige denn Kirschen essen kann. Beim Recht auf Leben. Da läuft bei mir rein diskursiv nichts mehr. Da ist Ende.
Etwas willkürlich gezogen, mögen Sie einwenden. Stimmt, aber es ist meine Willkür. Nicht nur meine, aber eben auch meine. Und beim Recht auf Leben gibt es nichts zu diskutieren. Jedenfalls nicht mit mir. Darunter fällt natürlich auch, Sie haben es sicher schon geahnt, das Notwehrrecht. Wer mich angreift, muss damit rechnen, dass ich dies in geeigneter und verhältnismäßiger, aber auch notwendiger Weise zu verhindern gedenke. Wer andere – Unschuldige, aber auch Schuldige – angreift, muss damit rechnen, dass ich denen helfen werde. Und dabei den Aspekt der Verhältnismäßigkeit im Zweifel ein wenig geringer gewichte. Und wer meine Allerliebsten, meine Frau und / oder meine Kinder angreift, müsste mit allem rechnen… – leidet aber wohl unter einer chronischen Rechenschwäche. Von wegen Gutmensch. Macho ist angesagt!
Dummerweise kann nicht einmal so ein Prachtkerl wie ich verhindern, dass stets und ständig einige Menschen anderen Menschen ganz böse Dinge antun. Oft noch schlimmere Dinge als Eigentumsdelikte. Sie wissen vielleicht sogar besser als ich, was so alles passiert. Doch selbst ich bekomme, gar nicht mal nur über die Medien, sondern direkt aus meiner Umgebung, für meinen Geschmack mehr als genug mit. Manchmal, nicht ganz so oft, tendenziell immer seltener, jedenfalls hierzulande, und ich erfahre es gottlob nur über die Medien: ja, manchmal töten auch Menschen andere Menschen. Sogar hier. Was soll ich da machen?! Nützt ja alles nichts. Wir brauchen unseren Staat und unsere Justiz. Wir brauchen deren Gewaltandrohung und manchmal gar deren reale Gewalt. Beim Recht auf Leben verläuft definitiv die rote Linie. Ich bin skeptisch, ob Knast die Menschen besser macht. Aber ich bin sicher, dass der Staat das Signal, dass etwaige Ausnahmen vom Tötungsverbot verdammt kleinlich ausgelegt werden, nicht schwächer stellen darf.
Werner Jurga