Offener Brief der „Falken NRW“ zur Anti-G20-Demo: Zeit für Solidarität – Zeit für Demokratie und Aufklärung

Gelsenkirchen. (falken_nrw) Offener Brief der SJD – Die Falken NRW zur 4-stündigen Gewahrsamnahme ihres Busses mit Minderjährigen und jungen Erwachsenen auf dem Weg zur Anti-G20 Demonstration

Die Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken (SJD – Die Falken) sind ein unabhängiger und selbstorganisierter, politischer und pädagogischer Kinder- und Jugendverband.

Unser Verband ist Teil der Arbeiter*innenjugendbewegung und aus der Selbstorganisation junger Arbeiter*innen entstanden. Seit 113 Jahren vertreten bei uns Kinder und Jugendliche ihre Rechte und Interessen selbst und kämpfen für eine andere Gesellschaft.

Unser Ziel ist eine Gesellschaft, die auf Freiheit, Gleichheit und Solidarität gründet. Wir sind Mitglied des Landesjugendring NRW und in vielen Städten und Gemeinden vertreten.

Am 08.07.2017 organisierten wir einen Bus zur Großdemonstration „Grenzenlose Solidarität statt G20“ in Hamburg, um an den dortigen Demonstrationen gegen den Gipfel teilzunehmen. Auch in den Tagen vorher waren Freund*innen in Hamburg und haben sich am Gegengipfel, dem Schüler*innenstreik von „Jugend gegen G20“ und bei Akten des zivilen Ungehorsams (wie Streiks und Sitzblockaden) beteiligt.

In besagtem Bus saßen 44 junge Menschen (einige von ihnen minderjährig). Neben Falken waren dort auch Mitglieder der Grünen Jugend NRW, der DGB Gewerkschaften und der Alevitischen Jugend NRW anwesend. Unsere Anreise war über das Bündnis „Jugend gegen G20“ in Hamburg offiziell bei der Polizei und dem ZOB (Zentraler Omnibusbahnhof Hamburg) angekündigt.

Ab ca. 7.00 Uhr wurde unser Bus von mehreren Polizeiwagen eskortiert, die verhinderten, dass wir von der Autobahn abfuhren. Erst gegen 7.45 Uhr wurden wir auf einen Rasthof unmittelbar vor Hamburg geleitet.

Vor Ort standen ca. 30 Polizist*Innen die sich ihre Schutzausrüstung anzogen und den Bus umstellten. Uns wurde mitgeteilt, dass in Kürze weitere Kräfte hinzukommen, die unseren Bus durchsuchen würden.

Einige Zeit später tauchten 50 BFE’ler*innen (Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten) auf, die in voller Montur die vorherigen Polizist*innen ablösten. Sie setzten ihre Helme auf und zogen sich Handschuhe an. Einzelne BFE’ler machten Drohgebärden in Richtung unserer Jugendlichen. Der Einsatzleiter stellte klar, dass von uns „ab sofort keine hektischen Bewegungen mehr durchzuführen“ seien. Sowohl in dem Moment, aber auch später blieben alle jungen Menschen ruhig und besonnen, trotz dieses massiven, einschüchternden Aufgebotes.

Einige Zeit verging, ohne dass etwas passierte. Schließlich teilte uns der Einsatzleiter mit, dass wir nun in ein „gesichertes Objekt“ gebracht würden, um dort unsere Personalien aufzunehmen und uns zu durchsuchen. Danach könnten wir dann „möglicherweise zur Demonstration weiter“. Das BFE stieg bewaffnet und vermummt in unseren Bus und verließ den Bus später nur im Austausch gegen andere BFE’ler*innen.

Wir wurden erneut in einer Eskorte von ca. 10 Polizeifahrzeugen zu einem uns nicht bekannten Ort gebracht. Erst kurz vor der Einfahrt erkannten wir, dass es sich um die Gefangenensammelstelle (GeSa) in Hamburg-Harburg handelte.

In der GeSa angekommen wurden wir einzeln nacheinander heraus gebeten, und wurden durchsucht. Dabei war die Behandlung sehr unterschiedlich. Einige wurden neutral behandelt – andere wurden geschlagen, mit ihren Händen auf dem Rücken abgeführt oder ihnen wurden Handschellen angedroht. Einige der Jugendlichen mussten sich komplett nackt ausziehen (andere bis auf die Unterwäsche) und wurden dann intensiv abgetastet. Bei den WC-Gängen mussten bei allen die Türen offen bleiben. Der Hinweis, dass wir Minderjährige im Bus haben, ein Jugendverband sind und zu einer angemeldeten Demonstration wollten spielte dabei keine Rolle.

Während der gesamten Prozedur wurde uns nicht klar gesagt, was mit uns passieren soll. Die Aussagen der Polizei gegenüber den Abgeführten reichten von „Ihr dürft bald weiter fahren“, „Ihr bleibt in der GeSa bis morgen Abend“, bis „Ihr werdet nun dem Haftrichter vorgeführt“. Scheinbar hatten alle Polizist*innen andere Informationen. Den Jugendlichen im Bus wurde jegliche Information verweigert.

Obwohl unseren Jugendlichen in Gewahrsam ein Anruf (und den Minderjährigen sogar zwei) zugestanden hätte, wurde dieser nicht gewährt. Kontakt zu Anwält*innen konnten nur diejenigen herstellen, die noch im Bus saßen. Bis die Polizei den im Bus sitzenden allerdings endlich sagte, dass gerade der gesamte Bus in Gewahrsam genommen wird, saß bereits ein Drittel unserer Freund*innen in den Zellen.

Nachdem etwa die Hälfte der Jugendlichen abgeführt worden war, änderte sich das Verfahren schlagartig. Die Verbleibenden wurden weder durchsucht, noch wurden ihre Personalien kontrolliert. Nach jeweils einem kurzen Gespräch mit einem Polizisten wurden sie alle wieder zurück in den Bus geschickt, dabei sollte zunächst jeder auf einen einzelnen Doppelsitz und auch die Kommunikation untereinander war nur bedingt erlaubt. Nach ein bis zwei Stunden wurden die Anderen nach und nach entlassen und bekamen ihre Sachen zurück. Gegen 12.20 Uhr waren endlich alle wieder im Bus und wir konnten los zur Demonstration, die bereits um 11 Uhr begonnen hatte. Die Stimmung war trotz dieser Behandlung entschlossen, solidarisch und friedlich.

Wir sind aktuell in Kontakt mit Anwält*innen, die uns beraten, ob und inwiefern wir juristisch vorgehen können.

Erst im Nachhinein und in den vergangenen Tagen berichteten unsere Jugendlichen über ihre Gefühle von Ohnmacht, Hilflosigkeit und der Einschüchterung, der sie ausgesetzt waren. Einige von ihnen brauchen aktuell psychologische Unterstützung. Wir stehen natürlich auch in engem Kontakt mit ihnen und versuchen sie zu unterstützen, wo es möglich ist.

Neben dieser akuten Erfahrung sind für viele die Reaktionen im Internet, Medien und in ihrem Umfeld (Schule, Betrieb und Familie) belastend. Ihnen wird vorgeworfen, dass sie selbst Schuld seien, wenn sie gegen den G20-Gipfel demonstrieren und, dass solch ein Verfahren notwendig und legitim sei, um für die Sicherheit des G20-Gipfels zu sorgen.

Für uns ist aber klar: Jugendliche, die in einem angemeldeten Bus zu einer angemeldeten Demonstration fahren, ohne Grund vier Stunden lang darin zu hindern, kann und darf nicht legitim und normal sein. Wir wollten gegen Krieg, Armut und Kapitalismus demonstrieren – dagegen dass die meisten von der Politik der G20 Betroffenen dort kein Wort mitreden können. Wir haben nicht und werden niemals schweigend zusehen, wie Diktatoren, die in ihren Ländern die Opposition unterdrücken, Menschen mit unliebsamer Meinung einsperren und Minderheiten verfolgen, in Hamburg – oder anderswo – hofiert werden.

Unser Protest ist legitim und demokratisch – anders als die faktische Aufhebung der Gewaltenteilung letztes Wochenende in Hamburg. Neben unserer in Gewahrsamnahme, gab es weitere ähnliche Fälle. Außerdem gab es Einschränkungen der Pressefreiheit, Demonstrationsverbote auf insgesamt 40 km², Behinderung der Arbeit von Rechtsanwält*innen (namentlich dem RAV), Versuche den Demonstrierenden erst gerichtlich die Camps zu verbieten, und sie anschließend trotz gerichtlicher Genehmigung zu räumen, einen generellen Verdacht gegen alle Demonstrant*innen, eine Ignoranz der Unschuldsvermutung und generell vollkommen unverhältnismäßige Eingriffe.

All dies wird von uns klar als Repression gegen unser politisches Engagement wahrgenommen. Klar ist aber auch: wir lassen uns trotzdem nicht einschüchtern! Gerade jetzt machen wir weiter und werden demonstrieren, uns organisieren und bilden. Das bedeutet für uns konkret, dass wir eine solidarische Debatte in der linken Bewegung brauchen, wie wir mit dem vergangenen Wochenende in Hamburg umgehen und wie wir weiter machen.

Wir gehen weiter auf die Straße, um für eine gerechtere Welt zu kämpfen. Dafür braucht es aber eine Polizei, Politik und Justiz, die berechenbar ist und auf dem Boden der Gesetze arbeitet.

Jetzt braucht es klare Solidarität von unseren Freund*Innen und Verbündeten, die dieses Vorgehen der Polizei kritisieren, uns den Rücken stärken und sich gegen den Abbau von demokratischen Rechten aussprechen!

Freundschaft!

Paul M. Erzkamp, Landesvorsitzender SJD – Die Falken, LV NRW,

12.07.2017

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8 Gedanken zu „Offener Brief der „Falken NRW“ zur Anti-G20-Demo: Zeit für Solidarität – Zeit für Demokratie und Aufklärung“

  1. Leider häufen sich die Berichte, dass es in der letzten Woche in Hamburg zu massiven Grundrechtsverletzungen kam. Teile der Polizei sind offensichtlich massiv gegen friedliche Demonstranten vorgegangen, während radikale Chaoten Autos anzünden und Steinplatten werfen konnten, ohne dass etwas geschah.
    Der Eindruck liegt nahe, dass die bevorstehende Bundestagswahl die Art der Vorbereitung und Begleitung des G20-Gipfels durch einige Behörden beeinflusst haben könnte…

  2. „Wir haben nicht und werden niemals schweigend zusehen, wie Diktatoren, die in ihren Ländern die Opposition unterdrücken, Menschen mit unliebsamer Meinung einsperren und Minderheiten verfolgen, in Hamburg – oder anderswo – hofiert werden.“

    wer unterdrückt die „Opposition“, die „Falken“? Das sind doch keine „Diktatoren in ihren Ländern“, sondern die Diktatoren in diesem Land, D-Land …

  3. … und selber?

    „… in Hamburg – oder anderswo – hofiert werden.“

    heisst: in Hamburg werden Diktatoren hofiert, die aus anderen Ländern kommen

  4. Ja, dieser offene brief trifft den zentralen nerv. Die harburger spd hat der gesa-einrichtung freudig zugestimmt, jetzt muss sie erkennen, dass sie damit dem eigenen nachwuchs ins gesicht geschlagen hat. In treuer scholz-gefolgschaft setzt sie sich selbst als politisches brechmittel ein.

    Aber wichtig war auch dies: die protesttage waren eine große stärkung und ermutigung. Vor den ersten demos hab ich mir die gesa angesehen, als harburger hatte ich es nicht weit. Natodraht, betonrampen an der einfahrt, shuttlebusse mit opfern von vorgelagerten bahnhofs- und autobahnrazzien – eindeutig kein sammelplatz für straftäter, sondern verwahrort für anreisende demonstranten . Schön dagegen: Eine bündnisinitiative der linken „sauerkrautfabrik“ in der harburger innenstadt hatte es übernommen, vor der gesa dauerprotest zu gewährleisten und die freigelassenen zu betreuen. Das war liebevoll.

    Und dann die großdemo „grenzenlose solidarität“ am 8.7. über 70.000 entschlossene und selbstbewusste demokraten, die sich trotz grotesker einschüchterungen durch den rot-grünen senat nicht ihre grundrechte nehmen ließen. Das war nach meiner persönlichen erfahrung die größte und erfolgreichste politische massenaktion in hamburg seit der 80.000er anti-nachrüstungs-demo auf dem hamburger kirchentag 1981.

    Übrigens: eingereiht habe ich mich ich mich in die blocks der türkischen und kurdischen linken. Ich schätze ihre große politische erfahrung und fühle mich dort auch beschützt vor polizeigewalt.

  5. @tino

    „Das war nach meiner persönlichen erfahrung die größte und erfolgreichste politische massenaktion in hamburg seit der 80.000er anti-nachrüstungs-demo auf dem hamburger kirchentag 1981.“

    So ist es, und die Strategie der Polizeiführung, das Verhalten des Hamburger Bürgermeisters sowie die undifferenzierte Gewaltdiskussion haben bis jetzt das Anliegen der friedlichen Demonstranten weit in den Hintergrund gerückt.

  6. Birgit Wentzien (DLF) hat unter dem Titel „Verdrängung statt Aufklärung“ am 15.07.2017 einen treffenden Kommentar bzgl. „G20“-Gemengelage verfasst.

    http://www.deutschlandfunk.de/g20-krawalle-verdraengung-statt-aufklaerung.720.de.html?dram:article_id=391158

    Der Kommentar endet mit

    „Es gibt Fragen, die sind zu gut, um sie mit einer Antwort zu verderben. Robert Koch, der Mediziner und Mikrobiologe, hat diesen Satz gesagt. Nach Hamburg gilt dieser Satz in Varianz: Es gibt Fragen, die werden vor lauter Furcht vor ihren Antworten, erst gar nicht gestellt. Und das ist aus meiner Sicht nicht zu akzeptieren.“

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