Neue „Mitte“-Studie: Gesellschaft ist zunehmend polarisiert, Bereitschaft zu Gewalt steigt

WordleStudieMitte20160615Leipzig. (pm) Die politische Einstellung der deutschen Bevölkerung ist polarisiert. Während eine deutliche Mehrheit der Gesellschaft rechtsextremes Denken und auch Gewalt zum Teil strikt ablehnt und Vertrauen in demokratische Institutionen hat, sind Menschen mit rechtsextremer Einstellung immer mehr bereit, zur Durchsetzung ihrer Interessen Gewalt anzuwenden.

Dies ist eines der zentralen Ergebnisse der Studie „Die enthemmte Mitte“, die PD Dr. Oliver Decker und Prof. Dr. Elmar Brähler vom Kompetenzzentrum für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung der Universität Leipzig in Kooperation mit der Heinrich Böll-, der Otto Brenner- und der Rosa Luxemburg-Stiftung durchgeführt und heute in Berlin vorgestellt haben[1] [2].

Die Wissenschaftler befragten bundesweit 2.420 Menschen (West: 1.917, Ost: 503) zu den Themen Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur, Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Sozialdarwinismus, Chauvinismus und Verharmlosung des Nationalsozialismus. Sie gliederten die Antworten in sechs soziologische Milieus.

„Es gibt zwar keine Zunahme rechtsextremer Einstellungen, aber im Vergleich zur Studie vor zwei Jahren befürworten Gruppen, die rechtsextrem eingestellt sind, stärker Gewalt als Mittel der Interessensdurchsetzung“, sagt Decker. Zudem habe bei diesen Gruppen das Vertrauen in gesellschaftspolitische Einrichtungen wie die Polizei oder Parteien deutlich nachgelassen. „Sie fühlen sich vom politischen System nicht repräsentiert“, erläutert er. Als Erfolg der Zivilgesellschaft könne man es dagegen ansehen, dass in demokratischen Milieus Gewalt deutlich stärker abgelehnt wird als 2014. „Beides steht in Deutschland nebeneinander: Wir haben Menschen, die sich aktiv um Flüchtlinge bemühen, und es gibt Menschen, die Flüchtlinge aktiv ablehnen“, sagt der Studienleiter. Damit habe eine deutliche Polarisierung und Radikalisierung stattgefunden.

Die Radikalisierung zeigt sich auch bei der Einstellung zu bestimmten gesellschaftlichen Gruppen. „Die Ablehnung von Muslimen, Sinti und Roma, Asylsuchenden und Homosexuellen hat noch einmal deutlich zugenommen“, konstatiert Brähler. 49,6 Prozent der Befragten sagten zum Beispiel, Sinti und Roma sollten aus den Innenstädten verbannt werden. 2014 waren 47,1 Prozent dieser Meinung. 40,1 Prozent erklärten, es sei ekelhaft, wenn sich Homosexuelle in der Öffentlichkeit küssten (2011: 25,3 Prozent). Und 50 Prozent gaben an, sich durch die vielen Muslime manchmal wie ein Fremder im eigenen Land zu fühlen. 2014 waren dies noch 43 Prozent. „Die gesellschaftlichen und rechtlichen Entwicklungen, wie etwa das liberalere Staatsbürgerrecht, der letzten Jahre in Deutschland, wird nicht von allen Teilender Bevölkerung getragen“, erklärt der Leipziger Sozialpsychologe.

Sichtbar wird diese Einstellung bei Anhängern von Pegida, die Decker als „neurechteBewegung“ sieht. „Wer Pegida befürwortet, ist zumeist rechtsextrem und islamfeindlich eingestellt und sieht sich umgeben von verschwörerischen, dunklen Mächten“, sagt er. Alter, Bildungsanschluss oder Haushaltseinkommen spielten dagegen keine Rolle. Zu Tage bringt die Leipziger Studie auch, dass die Wähler der Alternative für Deutschland (AfD) nicht als von der Partei verführte Menschen gelten können. 84,8 Prozent der AfD-Wähler gaben beispielsweise an, Probleme zu haben, wenn sich Sinti und Roma in ihrer Nachbarschaft aufhalten; 89 Prozent meinten, Sinti und Roma neigen zur Kriminalität. „Die meisten AfD-Wähler teilen eine menschenfeindliche Einstellung“, sagt Brähler. Auch in der Gruppe der Nicht-Wähler sind diese Vorurteile sehr verbreitet. „Das Potenzial für rechtsextreme oder rechtspopulistiche Parteien ist noch größer als es die Wahlergebnisse bislang zeigen“, sagt er.

Die Unterschiede in der rechtsextremen Einstellung zwischen Ost- und Westdeutschland sind der Studie zufolge nicht so groß. Als ausländerfeindlich gelten im Osten 22,7 Prozent der Befragten, 19,8 Prozent im Westen (bundesweit 20,4 Prozent). Allerdings unterscheiden sich die Ergebnisse Ost und West je nach Altersgruppe, besonders bei den zwischen 14- und 30- Jährigen. Im Osten sind 23,7 Prozent dieser Altersgruppe ausländerfeindlich, im Westen nur 13,7 Prozent. „Das ist gefährlich, Einstellungen können latent sein oder manifest geäußert werden, aber sie bleiben über die Zeit stabil“, sagt Decker. Wer jetzt rechtsextreme Ansichten habe, werde diese noch einige Jahre vertreten. Zudem sei ein Großteil der jungen Menschen bereit, Gewalt anzuwenden.

Für die „Mitte“-Studie der Universität Leipzig werden seit 2002 alle zwei Jahre bevölkerungsrepräsentative Befragungen durchgeführt. Es gibt keine vergleichbare Langzeituntersuchung zur politischen Einstellung in Deutschland.

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[1] Download der Studie:
https://www.otto-brenner-shop.de/publikationen/weitere-publikationen/shop/die-enthemmte-mitte.html

[2]Otto Brenner Stiftung:
https://www.otto-brenner-stiftung.de/otto-brenner-stiftung/aktuelles/mitte-studie.html

 

6 Gedanken zu „Neue „Mitte“-Studie: Gesellschaft ist zunehmend polarisiert, Bereitschaft zu Gewalt steigt“

  1. Und nun? Den ganzen Tag schon melden die Medien, dass viele meiner Mitmenschen rassistisches und menschenverachtendes Zeug denken.
    Ich frage mich, ob die Studie selbst und ihre mediale Verbreitung das intolerante Denken und seine Wirkung noch verstärkt.
    Ich wünsche mir mehr wissenschaftliche und vor allem mediale Beachtung von Menschen, die mit Empathie, Klugheit und Achtung vor den Mitmenschen die Problemen von heute und morgen lösen wollen.
    Nationalismus und Rassismus haben nie Probleme gelöst. Sie sind das Problem.

  2. Das stimmt @Johanna – aber wir scheinen doch dem Nationalismus , Rassismus und damit einer realen Kriegsgefahr direkt bei uns näher zu sein, als die meisten denken würden. Siehe NATO-Ostmanöver, siehe Aufrüstung Osteuropa, siehe Volksabstimmung in GB in einer Woche, siehe Hooligan-Randale in Frankreich… , siehe Orlando etc. Es scheint als würde hier viel zusammen geworfen , aber leider hat immer alles mit allem zu tun. Und man könnte schier daran verzweifeln wie wenig die Menschheit doch aus ihrer Geschichte gelernt hat. Neulich habe ich etwas sehr Interessantes gehört: „Das Geld (bedrucktes Papier !) wurde nur erfunden, damit wir uns bei der Nahrungssuche nicht die Schädel einschlagen.“ Ich würde gern hinzufügen: Nein, wir haben viel Intellekt darauf verwendet, etwas grausameres zu installieren.

  3. Von der Erhebungsmethodik, der wissenschaftlichen Herangehensweise und der medialen Vermarktung her kommt mir die „Neue Mitte-Studie“ ziemlich unseriös vor. Wie übrigens vieles, was in diesen Tagen an vermeintlich wissenschaftlichen Studien, Experteninterviews und kritischer Berichterstattung geboten wird.

    Und tatsächlich, ein Extremismusforscher der FU Berlin, teilt die Skepsis:
    http://www.deutschlandfunk.de/studie-die-enthemmte-mitte-politologe-haelt-mitte-studie.694.de.html?dram:article_id=357314

  4. @Eifriger Mitleser

    Könnten Sie ein Beispiel für die Unseriösität aus der Studie nennen?

    Ich werde die Stelle dann nachlesen.

  5. Zahllose, angefangen beim wissenschaftlich unverantwortlichen und inhaltlich haltlosen Wort „enthemmt“ im Titel über wissenschaftlich unpräzise definierte Begrifflichkeiten (exemplarisch nur „Mitte“ und „rechts“), die Methodik der Erhebung (suggestive Fragen), die interessengeleitete Auswertung, die Schlussfolgerungen, die Lancierung in den Medien. Da passen die drei Finanziers der Studie, zwei davon unmittelbar parteiengebunden, gut ins Bild.

    Aber lesen Sie einfach das verlinkte Interview, das liefert Beispiele satt. Falls das nicht reicht, finden Sie ohne große Mühe weitere kritische Kommentare mit Beispielen, stellvertretend:
    http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/die-leipziger-studie-ueber-rechtsextremismus-die-enthemmten-wissenschaftler-14293455.html

  6. In der Tat:

    Antisemitismus-Studie
    Es bleiben Fragen

    Leipziger Soziologen diagnostizieren Rückgang des Judenhasses in Deutschland. Sie ernten scharfe Kritik

    Das Antisemitismusverständnis der neuen Leipziger ›Mitte‹-Studie ist drastisch verkürzt und in Sachen Antisemitismusforschung nicht auf der Höhe der Zeit.« Der Göttinger Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn geht mit seinen Kollegen von der Universität Leipzig hart ins Gericht.

    http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/25866

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