Mexico City – Fünfter Tag: Eiterfluss, Geld und Macht

Jeder lese, solange es für ihn kurzweilig bleibt; ansonsten hat er auch nichts verpasst im Leben.
(Sprüche und Wendungen eines alten chinesischen Meisters)

Mittwoch, der 4. Februar 2009

Blick vom Castillo de Chapultepec
Blick vom Castillo de Chapultepec

Ihre Einwohner bilden eine Stadt und ihre Geschichten wiederum die Einwohner: 1955 wurde der damals 35-jährige Vater der Maklerin, deren Großeltern 1929 aus Deutschland einwanderten, am Ohr operiert. Dem Mann war als Kind das Trommelfell geplatzt und seitdem suppte ihm ’mal mehr, ’mal weniger Eiter aus dem Ohr, da die Verletzung nie verheilte und die Entzündung chronisch wurde. Ein Ärgernis, sicherlich, eigentlich mehr als eines, mit dem man immerhin leidlich leben konnte, bis der Mann mit 35 Jahren hoffte, von seiner Malaise geheilt zu werden. Eben 1955 riet ihm ein Arzt, den Gehörausgang, aus dem der Eiter immer abfloß, zu schließen und nähte die Ausgangsröhre zu. Natürlich mit fatalen Folgen, denn nicht lange danach gärte im Innern der Eiterherd und drückte die Entzündung durch den Gehörgang zwischen Gehirn und Schädel, wodurch sich die Gehirnhaut entzündete.

Der Mann schwebte kurz drauf zwischen Leben und Tod im Koma. Die Ärzte machtlos, besuchte die Mutter der Maklerin ihren Mann zwei Monate drauf und brach in Verzweiflung aus, da sie die ärztliche Behandlung nicht länger zahlen könne. Der Mann musste den laut ausgesprochenen Stoßseufzer seiner Frau gehört haben, denn in dem Augenblick erwachte er aus dem Koma, was er signalisierte, indem er den Ehering an seinem Finger bewegte – so die Maklerin. Einige Tage später konnte er das Krankenhaus verlassen und lebte, wenngleich schwerkrank noch neunzehn Jahre – so die Maklerin in Manier der Hebelschen Kalendergeschichte „Die Bergwerke zu Falun“. – Ob es die Wahrheit ist oder Familienmythos – so genau wollen wir das gar nicht wissen. Ich fragte, warum ihre Mutter den Arzt nicht verklagt habe – wie hätte die Mutter das machen sollen, wenn schon das Geld für die ärztliche Behandlung fehlte.

Hier noch mehr als in Europa setzt Geld Recht, die Hürden der Korruption von Recht und Gesetz sind bei uns nur höher. Bei uns verspielt die neoliberale Mentalität das Ideal der französischen Revolution, dass wir nämlich alle gleich, also solches vor dem Gesetz seien. Der Wert des Individuums zählt in Lateinamerika nicht so viel wie in Europa, wo sich das Subjekt in seine aufklärerischen Rechte setzte. Armut hatte dort, wo Sklavenarbeit und Lohnsklaverei üblich waren und sind, nie wie mittlerweile auch hier kaum Rechte und auch von daher keinen Wert. Auch das neoliberale Deutschland nährt diese Ideologie des Werts bzw. der Verfavelasrisierung der Sozialbeziehungen im öffentlichen Raum – der Bettler stört in der Innenstadt, auf dem Marktplatz, wo die Waren getauscht werden. Er wird trotz seiner gesetzlich eigentlich unveräußerlichen Rechten prinzipiell nicht als Mensch unter seines Gleichen anerkannt.

Nahe beim Chapultepecpark befindet sich ein kleinerer, vorgelagerter Park, um den sich die Zubringer auf die Stadtautobahn gleich einer Achterbahn übereinanderwinden und die oft verstopft sind – ein drittes Stockwerk wollten die Defeños nicht, weil das nicht erdbebensicher sei. Warum dann zwei Stockwerke sicher seien, weiß man nicht recht – aber es ist so. Überhaupt ist „sismos, sismos” ein Allerweltsthema: Auch bei jeder Wohnungbesichtigung wird danach gefragt und fachkundig debattiert, wie der Untergrund des jeweiligen Stadtviertels sei, als habe man Geologen vor sich. Das große Erdbeben vom 19.9.1985 steckt den Defeños anscheinend noch in den Knochen, obwohl ihnen bei ihrer Beziehung zum Tod selbst das Leben nicht ernst scheint. Geht man in manche Straßen über kantige Betonplatten, die gezackt aus dem Bürgersteigbett herausragen, fällt einem auf einmal wieder das „sismos, sismos“-Gerede in den Sinn. Wer weiß schon, ob zu recht oder nicht, denn geologische Zeiten können auf sich warten lassen und der Popocatépetl noch lange gemäß seinem Namen nur rauchen.

In besagtem vorgelagertem Park bei einer der Drehscheiben der Paseo de la Reforma trudelte vor einem Jahr zwischen den Hochhäusern und eines mit dem Flügel streifend eine kleinere Passagiermaschine des Staatssekretärs des Präsidenten herum – alle 16 Insassen waren sofort tot; die verbrannten Passanten im Park, auf die der Flieger niederging, zählte niemand. Armut ist im Schatten der Mächtigen und Medien und ausgegrenzt.

In der Calle de los Andes, Nähe las Palmas, ist eine kleine Freßmeile mit Fastfoodketten, aber auch Imbisslädchen für die leiblichen Seligkeiten des kleinen Mannes, also traditionelles Fastfood, Tortas ( Hamburger) y limonadas. Ist man mutig, isst man den Hamburger verschiedenen fleischlichen Inhalts mit brandscharf Chilischoten, was den Magen noch zwei Stunden später wärmt und beschäftigt und einen hoffen lässt, kein Opfer der Rache Moctezumas zu werden. Vor den Läden und Lädchen ist die Betondecke zwecks Sanierung abgenommen, sodass der Bürger über Schotter und Schlaglöcher wandelt, was artistische Züge bekommt, wenn die Damen dieses kleinen boulevardesken Kiezes mit High-heels daherstöckeln und -stolpern. Grazie ist nicht alles, aber Würde. Dazwischen werden lila Lilien und pastellfarbige Avocados von fliegenden Händlern feilgeboten, drüben lädt Starbucks ein – echt im Sinne von romantischem Kitsch des Originären oder des völlig Plastik-Mäßigen-Resopals ist hier nichts. Alles ist hier durchgemischt und geschüttelt und erhält dadurch synthetisch eine neue Qualität.

Nachmittags war ich Zeuge eines versuchten Verkaufs einer Eigentumswohnung: Eine jüdische Familie wollte der angehenden Hochzeit ihrer Kinder eine Aussteuer schenken, nämlich eine Eigentumswohnung in Polanco, einem traditionell von Juden gern bewohnten Stadtviertel. Der angehende Bräutigam war in orthodoxer Montur, schwarzer Hut über dem Cappi, schwarzer Anzug, sie sehr weltlich gekleidet. Die Wohnung bemaß 210 qm und sollte ca. 150.000 Dollar kosten. In gutem Zustand war die angehende Mitgift nicht, altmodische Überbleibsel des Mobiliars standen verstreut herum, manches hätte renoviert werden müssen. Jedenfalls feilschte das junge, aus Spanien eingewanderte Paar und eine der Mütter im (sog.) Judenspanisch, das sehr ungelenk klang. Meine Maklerin merkte neben dem Stereotyp an, dass Juden doch sehr feilschten, dass es ’mal wieder typisch sei, dass die Juden sich nicht anpassten an die Sprechweise und damit Kultur ihrer Umgebung. – Besteht nicht auch eine große Stadt aus vielen kleinen Einwohnern, die durchaus kleinbürgerliche Einsprengsel von Ressentiment haben können? Denn das Stigma, sich nicht anpassen zu wollen, ist andersherum gewendet nichts als die Intoleranz, vom andern Anpassung zu fordern. Und der Sichtweise der Maklerin gefolgt, woran denn überhaupt in diesem wahrhaft stillosen Brei der Lebensstile?

Es gibt auch noch was andres außer Schnee und Regen!
Es gibt auch noch was andres außer Schnee und Regen!

Heute war im Viertel Bosque de Virreyes ein wunderschön sonniger Tag. Gute Luft und zwischen den Klötzen irgendwelcher Versicherungen und so putzt sich immer wieder ein Park grün heraus, zu dem oft ein palmengesäumter Weg führt. Die Stadt ist grün, was man leicht vergisst, weil der Verkehr den öffentlichen Raum einnimmt. Zum Teil verwandelt sich in Stoßzeiten die technoide Welt des Verkehrs in ein zoologisches Phantasma, wenn die Autos von einer Senke aus den steilen Abhang zu einer Hauptstraße mit Vollgas rudelweise hinaufschießen, nein, gleich Heuschrecken hinaufspringen, um zum Mittelstreifen zu kommen, wo sie nach starker Bremsung verschnaufen, um die nächste Lücke im fließenden Stau abzupassen. Das Hinaufhechten hat etwas von Gazellen auf der Flucht, die übereinanderspringen, was hier ins Zweidimensionale beengt zum Kreuz und Quer der Fahrbahnnutzung wird. Auch bei großen Kreisverkehren kürzt der Defeño gern ab und kreuzt gegen den Verkehr gleich links, statt den Kreis rechtsherum zu schlagen, lauert hinter irgendeinem Reiterdenkmal, um bei Gelegenheit schnurstracks loszupreschen und einzubiegen. Wäre man mit Telematik beauftragt, hier wäre ein El Dorardo. So labt sich schon der natürliche Freßfeind in der Nahrungskette des Defeños in Form des wirklich allgegenwärtigen städtischen Abschleppdienstes, der rigoros Falschparker einkassiert und auf dem Autohof vor der Stadt beisetzt, wohl auch deshalb übereifrig zum Ärger manchen Zweifelsfalls, weil pro Auto eine Prämie als Anreiz gezahlt wird. – Gold! Gold! findet man bekanntlich im Dreck, und Straßen sind aus Dreck gebaut.

Teil 6 erscheint Dienstag um 17 Uhr.