Lieber Gott, lass mich gute Noten kriegen! „Die Fragwürdigkeit der Zensurengebung“ – eine Rezension.

Rezensent Detlef Träbert: " " (foto: träbert)
Rezensent Detlef Träbert: "Schulnoten können nicht objektiv sein" (foto: träbert)

Seit 1971 ist in der deutschen Erziehungswissenschaft klar, „dass die Zensuren keine Vergleichsfunktionen bei schulexternen Adressaten erfüllen können und dass damit unser gesamtes schulisches Berechtigungswesen auf einer Fiktion beruht“ (Karl-Heinz Ingenkamp, „Die Fragwürdigkeit der Zensurengebung“).

Seit über vier Jahrzehnten ist es in der Wissenschaft unbestritten, dass Schulnoten nicht objektiv sein können, als Messinstrument für Lernleistung nichts taugen, keine Aussagen über die Lernentwicklung von Schüler/innen machen und sich pädagogisch-psychologisch schädlich auf die Lernenden auswirken können. Die Schulpolitik hat daraus allerdings bis heute keine Konsequenzen gezogen, trotz etlicher weiterer wissenschaftlicher Studien zu dieser Thematik.

Dass sich das möglichst bald ändert, hofft Ulrike Luise Keller, selber Lehrerin mit rund 20 Jahren Erfahrung im staatlichen wie im Waldorf-Schulwesen und promovierte Erziehungswissenschaftlerin. Die heutige Realschullehrerin hat aus dem eigenen Erleben als Schülerin und Lehrerin heraus das Buch „Gerechte Noten gibt es nicht“, Untertitel: „und wie Noten die Lust am Lernen verhindern“ *) geschrieben. Damit greift sie gleich im Titel jenes Gefühl auf, das Schüler wie Eltern in Bezug auf Noten vor allem kennen: Ungerechtigkeit. Als Praktikerin, die ihren Schulalltag gründlich reflektiert, kennt sie dieses Gefühl jedoch auch aus der Perspektive der Benotenden: Werde ich den Kindern mit meinen Noten eigentlich gerecht? Ihre Ausführungen machen deutlich: Ziffernnoten können nicht gerecht sein, auch wenn Lehrpersonen sich darum bemühen – das System verhindert es.

In einer sehr gut lesbaren Kombination aus Erfahrungsberichten und authentischen Zitaten von Eltern und Kindern mit Aussagen von anerkannten Wissenschaftlern stellt die Autorin heraus, wie gering die Aussagekraft von Noten ist, wie sehr sie das Lernen beeinträchtigen und die Lernfreude, die kindliche Neugier, das Sachinteresse zerstören. Diesen Aspekt untermauert sie mit der übersichtlichen Darstellung einer kleinen Studie, die sie mit 99 Schülerinnen und Schülern der 5.-8. Klasse an ihrer Realschule durchgeführt hat. Danach lernen 85,9 Prozent der Kinder „oft“ „meistens“ oder „immer“, um gute Noten zu bekommen. Aus Freude lernt lediglich etwa ein Fünftel der Befragten, während es drei Vierteln „selten“, „manchmal“ oder „nie“ Freude macht. Auch wenn diese Studie nur eine sehr begrenzte wissenschaftliche Aussagekraft besitzt, verdeutlicht sie einen Trend, den jeder Schulpraktiker bestätigen kann. In der Gehirnforschung findet Dr. Keller die Bestätigung für die Tatsache, dass Lernen ohne Freude nur geringe Effekte hat, während Begeisterung nachhaltige Lernprozesse ermöglicht.

Als Alternativen zur schulischen Zensierungspraxis beschreibt Keller in einer bewussten Begrenzung ihrer Ausführungen Textzeugnisse sowie das Konzept der Portfolios, die sie idealerweise miteinander kombinieren möchte. Neun Kapitel samt einem „Ausblick“ sowie dem Literaturverzeichnis – das macht 143 höchst engagierte und spannend zu lesende Seiten eines Plädoyers für eine humanere Schule. Es vermittelt zudem Eltern wie Lehrpersonen einen systematisierten Durchblick in Bezug auf die Problematik der schulischen Beurteilungspraxis. Sein Schlusssatz lautet: „Ich wünsche unseren Kindern, dass sie bald von Ziffernnoten erlöst werden!“ Da kann man der Autorin nur viele verständige Leser/innen wünschen, möglichst auch aus der Schulpolitik.

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*) Ulrike Luise Keller: Gerechte Noten gibt es nicht – und wie Noten die Lust am Lernen verhindern, Sinzheim (Via Interna Verlag) 2012, 143 S., € 16,80

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