Hamburg-Winterhude: Eklat bei feierlicher Veranstaltung

Der Gemeindesaal der evangelischen Ephiphanienkirche war restlos belegt. Mehr als 70 Winterhuder, angefangen vom interessierten Schüler bis zum Zeitzeugen, saßen dicht gedrängt um die gedeckten Tische.

Die Epiphaniengemeinde, das Jarrestadt-Archiv und die AnwohnerInnen-Initiative Jarrestadt hatten zur Vorstellung der Stolperstein-Broschüre mit einer Lesung aus den Biographien der Opfer und einer Beamer-Show mit musikalischer Begleitung eingeladen.

Die 322 Seiten starke Broschüre, Stolpersteine in Winterhude – eine biographische Spurensuche beinhaltet das beeindruckende Ergebnis jahrelanger Recherchen von über 200 Personen. Dadurch entstanden mehr als 100 biographischen Beiträgen.

Die Begrüßungsworte sprach Pastorin Melanie Kirschstein. Andrea Krieger von der Anwohnerini moderierte die Veranstaltung.

Diese fand im Rahmen der Woche des Gedenkens anläßlich der Befreiung der Gefangenen des Vernichtungslagers Ausschwitz statt. In Hamburg hat sich diese Woche inzwischen zu einem ganzen „Monat des Gedenkens“ erweitert.

Die Autoren Björn Eggert und Ulrike Sparr stellten die Biografien von Paul Löwenthal und dem Ehepaar Werner und Erika Etter ausführlich vor.

Peter Hess, der das Projekt Stolpersteine in Hamburg koordiniert, gab Einblick in die Arbeit: von den ersten Recherchen bis zur Verlegung der Steine.

Der Künstler Gunter Demnig legt Wert darauf, dass er jeden Stein selber anfertigt und feierlich verlegt. Bei dieser Einsetzung der Steine sind die Angehörigen der Opfer, wenn möglich dabei. Sie reisen sogar aus Israel und den USA an. Die tiefe Bewegung der Angehörigen ist ein Hauptgrund, für Demnig weiterzumachen.

Für Peter Hess und Gunter Demnig, der das Projekt Stolpersteine ins Leben rief, hebt sich die Stadt Hamburg gegenüber anderen Städten heraus:

Das Interesse und die Anteilnahme der Hamburger am Schicksal, der Opfer sei groß. So sammeln Hausgemeinschaften Geld um den 95,-€ teuren Stoplerstein vor Ihrem Haus zu finanzieren, Angehörige wurden in die Wohnung gebeten um zu sehen wo ihre Verwandten gelebt hatten. Der Vorsitzende der SPD-Bürgerschaftsfraktion Hamburg, Michael Neumann, verpflichtet seine Genossen dazu, eine Patenschaft zum Gedenken an während der NS-Zeit verfolgte Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten zu übernehmen. Die Fraktionsabgeordneten stiften 45 Stolpersteine.

Nach dem Bericht von Peter Hess hatte das Publikum die Möglichkeit Fragen zu stellen. Hierbei bekam es ein Lehrstück der besonderen Art zu sehen.

Ein Redner aus dem Publikum, zunächst recht unauffällig, begann seinen Beitrag damit, dass er nicht verstehen würde, warum nicht auch für andere Opfer des Krieges, z.B. deutsche Kinder in Polen, die erschossen worden waren, ein Denkmal gesetzt wird. Als er nach dem dritten Satz von der „Zupflasterung“ Deutschlands mit Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus sprach und rhetorisch fragte, was denn die 15 Gedenkstätten in den USA zu suchen hätten, dämmerte es den meisten der Anwesenden:

Hier versuchte jemand seine rechte Argumentation vorzutragen. Die Empörung schlug hohe Wellen, ihm wurde verbal die Tür gewiesen. Die Veranstalter versuchten es nicht zu einem Gewaltausbruch kommen zu lassen, sondern ruhig dagegen zu argumentieren. Hut ab!

Als der 45 bis 50-Jährige Rechte aufstand und sein Rednerrecht und Meinungsfreiheit lautstark gewahrt haben wollte, wurde ihm dies nicht abgesprochen. Er verließ den Saal lautstark, enttäuscht darüber, dass er es nicht geschafft hatte so sehr zu provozieren, dass man ihn gewaltsam entfernen mußte.

Was war das, haben sich sicherlich die meisten gefragt. Warum kommt hier jemand zu einer Veranstaltung, um diese zu stören, wo er sicher sein kann, dass sich niemand seiner Argumentation anschließen wird.

Ist dies die „Lehrstube“ der Rechten?

Begib dich auf „Feindes Terrain“, versuche zu sehen, wie weit du kommst und trainiere dein Standing gegenüber einer Mehrheit von „Feinden“.

Wir werden mit dieser neuen Linie vermehrt an den Wahlständen und Veranstaltung der NPD im Zuge der Wahlen in diesem Jahr zu tun haben. Richten auch wir uns darauf ein!

4 Gedanken zu „Hamburg-Winterhude: Eklat bei feierlicher Veranstaltung“

  1. Im Sauerland hapert es in einigen Orten, so glaube ich, an der Aufarbeitung der Geschichte der jüdischen Familien im Sauerland. Es lebten hier über lange Zeit viele Rosenthals und Ikenbergs. Sie sind fast spurlos verschwunden.

    Meschede setzte in den 90er Jahren ein positives Zeichen. Die alte Synagoge wurde restauriert, und der Synagogenverein veröffentlichte ein sehr lesenswertes Buch mit dem Titel „Jüdische Familien in Meschede“.
    Es wurden auch Stadtführungen durch die Mescheder Innenstadt „mit Blick auf die Einrichtungen und Häuser der früheren jüdischen Gemeinde“, die bis 1938 bestand, durchgeführt. Da staunte so manch eine(r), wie viele Häuser und Geschäfte dereinst jüdische Bewohner(innen) hatte.

  2. Ja – vermutlich gibt es da noch etwas zu tun. Mit Meschede habe ich mich noch gar nicht beschäftigt. Hier oben habe ich die ein oder andere Geschichte, die hinter vorgehaltener Hand erzählt wird, mitbekommen. Es geht meist um den Wechsel von jüdischem Besitz in den Besitz der nichtjüdischen Bevölkerung, bzw. auch in städtischen Besitz. Ich stelle mir vor, dass es in Hamburg alles anonymer zugeht, aber da scheint tisha besser Bescheid zu wissen. Eine weitere Geschichte rankt sich um das Gerücht, dass ein ehemaliger jüdischer Bürger von Winterberg die Stadt ca. 1960(?)besuchen wollte(?) / zurückkehren(?) wollte, ihm aber vom Bürgermeister bedeutet wurde, dass er nicht willkommen sei. Im Gegensatz zu Winterberg ist anscheinend der Raum Brilon und Meschede besser belegt als Winterberg. Wie beginnen? In http://www.schiebener.net/wordpress/?p=1785 habe ich ja erste naive Fragen aufgeworfen. Bin heute aber immer noch nicht viel schlauer.

  3. In Meschede ging der Wechsel des Besitzes des Bekleidungsgeschäfts der Familie Rosenthal (jetzt Kaufhaus Heide) lt. der Chronik „Jüdische Familien in Meschede“ so vonstatten:
    Nachdem zuvor der jüdischen Bevölkerung eine Vermögensabgabe in Höhe eines Viertels ihres anzumeldenden Vermögens (12.11.1938) auferlegt worden war, erfolgte die „Arisierung“ jüdischen Eigentums durch Enteignung und Übernahme durch deutsche Käufer.
    Des Weiteren gab es die Abgabepflicht von Wertpapieren (Nov./Dez. 1938) und die Ablieferungspflicht aller Vermögensgegenstände wie Gold, Silber, Platin, Edelsteine, Kunstobjekte (21.02.1939). Das seien aber „nur“ die gravierensten Maßnahmen. Obwohl im Fall der Familie Rosenthal ein Pachtvertrag zwischen Martha Rosentahl und Josef Heide geschlossen war, wurde das Geschäft „arisiert“. Weiter steht in der Chronik, Josef Heide sei von der mit der Abwicklung beauftragten Stelle ebenfalls unter Druck gesetzt worden und hätte schließlich das Geschäft gekauft. Die Kaufsumme sei auf ein Sperrkonto eingezahlt worden, über das Frau Rosenthal nicht frei verfügen konnte. Martha R. hat nach dem Ende der Nazi-Aera im Wiedergutmachungsverfahren eine Entschädigung, gezahlt von Josef Heide, erhalten.

    Das zu Meschede.

    2003 hatte ich mir aus der WR einen Artikel über eine Doku eines Projektes „Geschichte der jüdischen Bevölkerung in Westfalen“ ausgeschnitten. Im Stadtarchiv in Schmallenberg waren demnach eine Menge Dokumente aufgetaucht. Sie sollten für ein „Handbuch der jüdischen Gemeinden und Gemeinschaften in Westfalen und Lippe“ ausgewertet werden.

    Da ich meine Kindheit in Assinghausen verbracht habe, liegt bei mir selbstverständlich auch die dicke Dorfchronik, ein Mammutwerk, vor. Da haben die gesammelten Schreiberlinge immerhin 1 1/4 Seite (mit Foto) dem „Judenhaus“ gewidmet. 1792 ist die erste erwähnte Jahreszahl, 1914 die letzte. Über die Restzeit schweigt man sich dezent aus. Das Foto des etwas windschief wirkenden Fachwerkhauses ist von 1930. So kann ich zur Nazi-Zeit nur ein wenig aus den Erzählungen meiner Oma wieder geben. Meine Großmutter konnte sich noch gut an die Schlachter-Familie Löwenstein, bei der man immer anschreiben lassen konnte, und die Reichskristallnacht erinnern und daran, dass auch im „Judenhaus“ in Assinghausen einiges klirrte. Die Familie Löwenstein wurde deportiert. Mein Vater erzählte mir vor Jahren, dass nach dem Krieg in Bigge ein Sohn der Löwensteins gelebt hat. Nach Assinghausen kam wohl niemand der Löwensteins zurück. Das Haus der einzigen jüdischen Familie aus Assinghausen (gebaut vor 1817) steht nicht mehr. Nichts im Dorf erinnert mehr an die Familie. Wenn ich es nicht vergesse, frage ich mal bei einem „Alteingesessenen“ nach, wer das Haus nach der Kristallnacht und der Deportation bewohnt hat und wann es abgerissen worden ist.

    1. Interessant war es auch, was Peter Hess und die Autoren erzählten, über die Schwierigkeiten bei den Recherechen:
      Denn am Anfang gab es nicht viel. Die meiste mühselige Arbeit machten Ehrenamtliche, das heißt aus den Geschichtswerkstätten, die wir hier in vielen Stadtteilen haben, entwickelten sich die Projekte.
      Anfangs war die jüdische Gemeinde gegen das Projekt Stolpersteine. Sie wollten nicht, dass Nazis mit ihren Springerstiefeln auf den Steinen herumtrampeln.
      Dies hat sich geändert, auch dadurch, dass die Stadt Hamburg und die Bezirke das Projekt unterstützen. Der Gunter Demnig legt Wert darauf, dass dies sich ausschließlich aus Spenden der Bürger trägt, den sogenannten Patenschaften für einen Stein. So ist z.B. der ehemalige Bürgermeister von Donnayi an ihn herangetreten um seinem Vater einen Stein legen zu lassen. Dies wird aber nicht einfach „durchgewunken“ und gemacht, sondern diskutiert.
      Die Landeszentrale für politische Bildung unterstützte personell die Forschungen.

      In Hamburg liegen über 2400 Stolpersteine, 700 werden dieses Jahr hinzukommen. Über 90 % tragen dennamen ermordeter Jüdinnen und Juden, andere die von Euthanasie-Opfern, politisch Verfolgten, Homosexuellen, BibelforscherINNEn oderZwangsarbeiterINNEn

      Die evangelischen Kirchengemeinden, in Hamburg seit Jahren traditionell engagiert, unterstützten auch die Forschungen. Wie kommt man an die Informationen?
      Hier ein Ausschnitt aus der Broschüre, S. 10:

      „Wie schlägt sich ein menschliches Leben in den Akten nieder? Das Standesamt registriert die Geburt und den Namen einer Person, sie wird bei denEltern als Mitglied einer jüdischen oder christlichen Gemeinde eingetragen, der Schulbesuch wird vermerkt. Als Erwachsene mit eigenem Einkommen werden Männer und Frauen dann als eigenständige Gemeindemitglieder geführt, (…) Krankheiten, Strafverfolgungen, Haftverbüßungen sind manchmal nur auf Verpflegungslisten, manchmal aber auch in umfangreichen Gerichtsakten dokumentiert. für jeden Deportationstransport existiert eine Namensliste inklusiver derer, die als „Reserve“ aufgerufen wurden.
      Erhaltene Registratureneiniger Ghettos geben karge Hinweise auf Lebens- und Arbeitsbedingungen, (…) wenn diese nicht kurz vor Kriegsende vernichtet wurden.“

      Besonders perfide war es, dass die Listen für die Deportation der Juden oft eins zu eins aus den Gemeindelisten übernommen wurden. Die politischen Verfolgten (Sozialisten und Kommunisten) vernichteten ihre Mitgliederlisten. Daher ist es ungleich schwerer hier Informationen zu erhalten.
      Die besten Informationensquellen sind aber immer noch die Angehörigen oder überlebende Zeitzeugen.

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